Die Lateinamerika-Offensive der Europäischen Union

EU will ihren geschwundenen Einfluss in der Region wiedererlangen. Anlass ist besonders die fehlende lateinamerikanische Unterstützung gegen Russland

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"Wille ohne Weg": Spaniens Ministerpräsident Sánchez beim kolumbianisch-spanischen Unternehmertreffen in Bogotá am 25. August
"Wille ohne Weg": Spaniens Ministerpräsident Sánchez beim kolumbianisch-spanischen Unternehmertreffen in Bogotá am 25. August

Die Europäische Union kündigt eine Einflussoffensive in Lateinamerika an. Eine führende Rolle will Spanien übernehmen und dazu seine EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2023 nutzen. Um erste Vorbereitungen für einen neuen EU-Lateinamerika-Gipfel zu treffen, ist Ministerpräsident Pedro Sánchez vergangene Woche zu einer Reise in die Region aufgebrochen. Hintergrund ist der deutliche Einflussverlust der EU sowie Deutschlands in Lateinamerika, den deutsche Regierungsberater bereits im Juli angeprangert hatten.

Ursache ist einerseits der rasante ökonomische Aufstieg Chinas, das auf dem Subkontinent längst zum aktuell wichtigsten Wirtschaftspartner geworden ist, zugleich aber auch ein ignoranter Umgang sowohl der USA als auch der Mächte Europas mit der Region.

Auslöser für die neue Einflussoffensive ist insbesondere, dass die Staaten Lateinamerikas dem Westen im Machtkampf gegen Russland die Gefolgschaft verweigern und teils offene Kritik an der antirussischen Politik der westlichen Mächte üben.

Wirtschaftliche Einflussverluste

Ausgangspunkt für die bevorstehende Einflussoffensive der EU in Lateinamerika ist die – nicht neue – Erkenntnis, dass die Union und ihre Mitgliedstaaten in Mittel- und Südamerika erheblich an Einfluss verloren haben.

Dies zeigt sich zunächst auf ökonomischer Ebene, wo China faktisch längst zur Nummer eins geworden ist. Das Land ist größter Handelspartner Südamerikas und zweitgrößter Handelspartner ganz Lateinamerikas nach den USA; darüber hinaus ist es zu einem der bedeutendsten Investoren auf dem Subkontinent aufgestiegen.

Deutschland hingegen fällt zurück; exemplarisch dafür ist sein wirtschaftlicher Einfluss in Brasilien, seinem größten Handelspartner in Südamerika, wo es 2002 noch mit einem Anteil von 9,4 Prozent drittwichtigster Lieferant war, heute jedoch mit einem Anteil von nur 5,8 Prozent weit hinter China (22,1 Prozent) liegt.1

Wirtschaftspolitisch tut sich die EU mit Ignoranz hervor. So ist sie bisher nicht in der Lage, das Freihandelsabkommen mit dem südamerikanischen Staatenbündnis Mercosur, auf das sich beide Seiten vor über drei Jahren geeinigt hatten, zu ratifizieren. Zugleich verschleppt sie die geplante Erneuerung der Freihandelsverträge mit Mexiko und Chile. Die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin konstatierte im Juli dementsprechend "deutliche Positionsverluste bei Handel und Investitionen"2.

"Belehrung statt Impfstoffe"

Auch der politische Einfluss der EU schrumpft, ohne dass es der Union bislang gelungen wäre, gegenzusteuern. Pläne des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell, wieder stärker Einfluss in Lateinamerika zu nehmen, scheiterten an der Pandemie, in der sich Brüssel – anders als Beijing und Moskau – vor allem mit der Verweigerung von Impfstofflieferungen hervortat3.; "keine Impfstoffe, dafür Demokratiebelehrung", so kritisieren Beobachter4.

Es kommt hinzu, heißt es mittlerweile selbstkritisch bei der Union, dass man sich in den vergangenen Jahren in den Ländern an den EU-Außengrenzen verkämpft habe – so etwa in Syrien und in Libyen, heute insbesondere in der Ukraine.5 Zur selben Zeit sei es China gelungen, 21 der 33 Staaten Lateinamerikas und der Karibik zur Teilnahme an der Neuen Seidenstraße (Belt and Road Initiative) zu gewinnen und dadurch seinen Einfluss klar zu steigern.

Deutlich geschwächt ist dabei inzwischen auch die Stellung der USA, der traditionellen Vormacht in der Region. Kürzlich hielten US-Experten in der Fachzeitschrift Foreign Affairs fest, es gebe eine "gewaltige Lücke zwischen Washingtons Anspruch auf bedeutungsvolle Führung" in Lateinamerika "und seiner gleichzeitig zu beklagenden Gleichgültigkeit gegenüber der Region".6 Die Rede war vom "postamerikanischen Lateinamerika".

Fatale Sanktionen

Sorgen bereitet Brüssel zur Zeit vor allem, dass die Staaten Lateinamerikas dem Westen im Machtkampf gegen Russland nicht zur Seite stehen. So haben zwar Anfang März die meisten von ihnen in der UN-Generalversammlung den russischen Überfall auf die Ukraine verurteilt. An den umfassenden Wirtschaftssanktionen, die Russland "ruinieren" sollen (Annalena Baerbock), beteiligen sie sich jedoch nicht – mit Ausnahme diverser kleiner Karibikstaaten, die gewisse Maßnahmen gegen russische Oligarchen unterstützen.

Die Wirtschaftssanktionen werden in Lateinamerika, wie kürzlich der frühere Präsident des Europaparlaments und heutige Vorsitzende der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung, Martin Schulz, schilderte, offen abgelehnt, weil sie dazu beitragen, die Energie- und Nahrungsmittelpreise in die Höhe zu treiben. Auf einer Reise nach Brasilien, Uruguay und Argentinien sei ihm deutlich gemacht worden, berichtete Schulz: "Für euch reiche Europäer sind die steigenden Energie- und Lebensmittelpreise verkraftbar. Für uns bedeutet das aber teilweise Hunger in der Bevölkerung, teilweise den Absturz der Mittelschicht".7

Kritik am Westen

Hinzu kommt, dass die Regierungen Lateinamerikas sich politischer Unterstützung für die Ukraine verweigern und teils sogar offene Kritik an der antirussischen Politik der westlichen Staaten üben. So hat sich etwa der Staatenbund Mercosur ausdrücklich geweigert, den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj öffentlichkeitswirksam auf seinem Gipfel am 21. Juli in Asunción sprechen zu lassen.8

In Chile war zuvor ein Versuch des ultrarechten Partido Republicano gescheitert, einen Auftritt Selenskyjs vor dem chilenischen Parlament zu ermöglichen. Erst vor wenigen Tagen gelang es der chilenischen Rechten, Selenskyj eine Videoansprache an der Universidad Católica de Chile zu ermöglichen. Präsident Gabriel Boric und Außenministerin Antonia Urrejola waren eingeladen, blieben dem Event aber fern.9

Bereits im April hatte Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador kritisiert, die westlichen Mächte hätten, obwohl sie die Mittel dazu besessen hätten, "nichts" getan, um den Ukraine-Krieg zu verhindern.10

Der in Umfragen klar führende brasilianische Präsidentschaftskandidat Luiz Inácio Lula da Silva übte im Mai scharfe Kritik am Krieg, erklärte jedoch, "auch die USA und die EU" trügen "Schuld": Sie hätten Kiew ohne weiteres den Beitritt zu Nato und EU verweigern können – und "das hätte das Problem gelöst".11

Wille ohne Weg

In einem aktuellen Papier des Europäischen Auswärtigen Dienstes heißt es nun, zahlreiche Regierungen in Lateinamerika seien heute "weniger auf den Atlantik fokussiert und offener für alternative Allianzen als für traditionelle" wie diejenigen mit den USA und der EU.12

"Die EU muss ihr multilaterales Engagement mit den Ländern Lateinamerikas und der Karibik mit Blick auf zunehmende Konkurrenz von China, Russland und anderen systematisch verstärken", heißt es weiter. Man benötige einen "qualitativen Sprung" in der Intensität der Beziehungen zu dem Subkontinent.

Spanien will eine neue Einflussoffensive der EU in Lateinamerika während seiner EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2023 vorantreiben und dazu einen EU-Lateinamerika-Gipfel organisieren; zur Vorbereitung ist Ministerpräsident Pedro Sánchez vergangene Woche zu Besuchen nach Kolumbien, Ecuador und Honduras aufgebrochen.13

Der bislang letzte Gipfel fand bereits im Jahr 2015 statt. Dabei ist unklar, wie die EU bisher nicht vorhandene Ressourcen in einer Zeit mobilisieren will, in der sie unter der Last dramatisch gestiegener Energiepreise, hoher Inflationsraten, einer drohenden Verarmungswelle in den Mitgliedstaaten und eines andauernden Krieges in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft ächzt – ganz zu schweigen von ihrem Scheitern in Bosnien-Herzegowina14 oder in Mali 15sowie vom hochgefährlich eskalierenden Machtkampf gegen China16.

  • 1. S. dazu Kräfteverschiebungen in Lateinamerika.
  • 2. Günther Maihold: Amerika-Gipfel mit hemisphärischen Divergenzen. Warum Lateinamerika auf Unabhängigkeit setzt und was das für Europa bedeutet. SWP-Aktuell 2022/A 42. Berlin, 07.07.2022.
  • 3. S. dazu Die Welt impfen und Die Pandemie als Chance (II)
  • 4. Alexander Busch: Keine Impfstoffe, dafür Demokratiebelehrung: Europa und die USA müssen stärker um Partner in Lateinamerika werben. handelsblatt.com 06.06.2022.
  • 5. Bernardo de Miguel: Brussels prepares diplomatic offensive to stop the advance of China and Russia in Latin America. english.elpais.com 18.08.2022.
  • 6. Michael Shifter, Bruno Binetti: A Policy for a Post-American Latin America. foreignaffairs.com 03.06.2022.
  • 7. Oliver Noyan: Martin Schulz: Die EU hat Lateinamerika zu lange vernachlässigt. euractiv.de 16.08.2022.
  • 8. Marta Andujo: Präsident der Ukraine ruft Lateinamerika zum Abbruch von Handelsbeziehungen mit Russland auf. amerika21.de 21.08.2022.
  • 9. Marta Andujo: Präsident der Ukraine ruft Lateinamerika zum Abbruch von Handelsbeziehungen mit Russland auf. amerika21.de 21.08.2022.
  • 10. Vilma Guzmán: Ukraine-Krieg: Kritik in Lateinamerika an Ausschluss Russlands aus Menschenrechtsrat. amerika21.de 09.04.2022.
  • 11. Ciara Nugent: Lula Talks to TIME About Ukraine, Bolsonaro, and Brazil’s Fragile Democracy. time.com 04.05.2022.
  • 12. Bernardo de Miguel: Brussels prepares diplomatic offensive to stop the advance of China and Russia in Latin America. english.elpais.com 18.08.2022.
  • 13. Fernando Heller: Spain to organise EU-Latin America-Caribbean summit in 2023. euractiv.com 24.08.2022.
  • 14. S. dazu Zurück auf Los (II).
  • 15. S. dazu Kampf um Mali (I) und Kampf um Mali (II).
  • 16. S. dazu Die zweite Front der Bundeswehr und Schäden im Wirtschaftskrieg.