Brasilien: "Die Einheit herstellen, um Bolsonaro zu besiegen"

Interview mit Guilherme Boulos, einem der Koordinatoren der Wohnungslosenbewegung und Mitglied der PSOL

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"Gemeinsam für Brasilien": Veranstaltung mit Lula da Silva in Teresina im Bundesstaat Piauí
"Gemeinsam für Brasilien": Veranstaltung mit Lula da Silva in Teresina im Bundesstaat Piauí

Wie sehen Sie die Perspektiven für die Wahlen und wohin könnten die ständigen Putschdrohungen Bolsonaros führen?

Ich bin überzeugt, dass wir gewinnen werden, sei es in der ersten oder in der zweiten Runde, weil die Ablehnung von Bolsonaro enorm ist und Lula die Hoffnung von Millionen von Brasilianerinnen und Brasilianern repräsentiert, diesen Albtraum zu beenden.

Aber Bolsonaro ist verzweifelt, weil er weiß, dass es nicht nur darum geht, die Wahlen zu verlieren: Es besteht das Risiko, dass er ins Gefängnis kommt, dass er für seine Verbrechen bezahlen muss. Deshalb spielt er alle seine Karten aus, um den Wahlprozess zu sabotieren, schürt Gewalt, redet von Wahlbetrug und droht mit einem Putsch. Über die Abstimmung hinaus wird eine große demokratische Mobilisierung nötig sein. Die politische Gewalt wird eskalieren: Der Bolsonarismus ist immer noch stark, er ist eine wütende Minderheit. Sie werden versuchen, eine Situation der Angst und des sozialen Chaos zu schaffen, weil sie wissen, dass sie sehr wahrscheinlich besiegt werden. Wir müssen uns also mobilisieren, eine Massendemonstrationen auf der Straße für die Demokratie und zur Verteidigung des Wahlprozesses machen und mit großem Vorsprung gewinnen, um den Bolsonarismus zu neutralisieren und seinen Putschismus in die Schranken zu weisen.

Welche Sektoren würden ihn unterstützen, falls er die Ergebnisse nicht anerkennt und ein Abenteuer in der Art von [Donald] Trump startet?

Bolsonaro kann vor allem die Milizen mobilisieren, diese bewaffneten Gruppen, die mit der Staatspolizei verbunden sind und die auch Marielle Franco1 ermordet haben. Aber die Justiz, ein wichtiger Teil der Legislative, und ich glaube, auch die Streitkräfte werden sich nicht auf ein solches Abenteuer mit dem Risiko, international isoliert zu werden, einlassen.

Ein weiterer entscheidender Faktor ist, dass er keine Unterstützung von [US-Präsident Joe] Biden hätte.

Klar. In Lateinamerika hat es noch nie einen Staatsstreich ohne die Unterstützung der USA gegeben. Biden und die Demokraten werden in zwei Jahren gegen Trump antreten. Ich glaube nicht, dass sie ein Interesse daran haben, einen Mann wie Bolsonaro, der offen mit Trump verbündet ist, in einer Putschaktion zu stärken.

Und was macht die traditionelle Rechte, der es nicht gelungen ist, einen eigenen Kandidaten aufzustellen?

Sie haben versucht, einen dritten Weg zu ermöglichen, mit João Doria, mit Sergio Moro und jetzt mit Simone Tebet, aber es ist ihnen nicht gelungen. Sie sind gespalten, ein Teil sieht Lula nicht ganz negativ, ein anderer ist auf der Seite Bolsonaros. Aber sie werden in diesem Prozess keine wesentliche Rolle spielen und sich auch nicht auf ein Putsch-Abenteuer einlassen.

Wenn Lula gewinnt, wird er in einem ganz anderen Kontext ankommen als bei seinem Amtsantritt 2003, mit den Folgen des Bolsonarismus und einer kritischen globalen Wirtschaftslage. Was werden die größten Herausforderungen sein, die dringendsten zu lösenden Probleme?

Eine Regierung Lula wäre vor allem eine Regierung des Wiederaufbaus des Landes. Brasilien ist zerstört, mit dem schlechtesten Investitionsniveau der letzten 50 Jahre, in einer verheerenden Situation nach der Pandemie, nach vier Jahren Bolsonaro, nach acht Jahren einer perversen neoliberalen Agenda. Zuerst müssen also einige ultraliberale Maßnahmen von [Michel] Temer und Bolsonaro zurückgenommen werden, wie die Arbeitsreform oder die Obergrenze für Sozialausgaben. Auch müssen ein Notfallplan für öffentliche Arbeiten zur Schaffung von Arbeitsplätzen, ein großes Wohnungsbauprogramm und ein Krisenplan zur Bekämpfung des Hungers auf den Weg gebracht werden. Brasilien ist der drittgrößte Lebensmittelexporteur der Welt und wir haben 33 Millionen Menschen, die hungern.

Welche Rolle würde die PSOL innerhalb der Regierung spielen und Sie im Besonderen mit der herausragenden Stellung, die Sie sicherlich im Kongress haben werden?

Es wird enormen Druck von der Rechten, dem Finanzmarkt und der Agrarindustrie auf eine mögliche Regierung Lula geben, um ihre Agenda aufrechtzuerhalten. Unsere Aufgabe wird es sein, den Gegendruck für eine Änderung der Agenda auszuüben. Eine Position, die nach links drängt, von unten, von den sozialen Bewegungen aus, und die populare Agenda für den Wandel in den Mittelpunkt stellt, im Kongress und auf den Straßen.

Was ist, wenn Lula nicht in der Lage ist oder es nicht wagt, diese Sektoren zu konfrontieren?

Ich denke, dass Lula, nachdem er acht Jahre regiert hat und bei einer Zustimmungsrate von über 80 Prozent, und nach allem, was er durchgemacht hat ‒ den Staatsstreich, die illegale Haft ‒ sein Bestes geben wird, um nicht zu enttäuschen und die Erwartungen zu erfüllen. Aber das alles hängt nicht nur von Lula ab, es hängt von unserer Fähigkeit zur Organisierung und Mobilisierung ab. Wir werden uns den Teilen der politischen Rechten und des großen Finanzkapitals entgegenstellen, die versuchen werden, das Regierungsprogramm zu durchkreuzen. Das wird 2023 die Auseinandersetzung sein.

Sehen Sie Lula also eher als kühn denn als moderat?

Er hat mir gesagt: Es macht nur Sinn, wieder Präsident zu werden, wenn es darum geht, mehr zu tun. Er hätte seine politische Karriere beenden können als der beste Präsident, den das Land hatte, der dann zu Unrecht inhaftiert und von allen Anklagen freigesprochen worden ist. Wenn er jetzt mit 76 Jahren noch einmal kandidiert, glaube ich nicht, dass er das tut, um eine mittelmäßige Regierung zu bilden.

Wie sehen Sie das lateinamerikanische Szenario und diese zweite progressive Welle? Glauben Sie, dass Lula, sobald es ihm gelingt, die Brände zu löschen und die dringendsten lokalen Probleme zu lösen, in der Lage sein wird, die Führungsrolle einzunehmen, die es derzeit in der Region nicht gibt?

Die regionale neoliberale Rechte erleidet eine Niederlage nach der anderen, der Zyklus der Rechten schließt sich, aber es ist noch sehr früh, um eine Diagnose für diese zweite progressive Welle zu stellen. Die Regierung Petro hat gerade erst begonnen, die chilenische ist erst ein paar Monate alt, Bolivien ist nach einem Staatsstreich zurückgekehrt, in Peru gibt es viel Instabilität... Wenn Lula gewinnt, glaube ich, dass wir in ein oder zwei Jahren ein regionales Panorama haben werden, das es uns erlaubt zu sagen, ob diese zweite Welle gemäßigter ist oder ob sie weiter vorankommen kann als die erste. Ich glaube, dass Lula diese Führungsrolle übernehmen kann, aufgrund der Rolle Brasiliens, der Größe seiner Wirtschaft, seiner strategischen Lage auf dem Kontinent und auch aufgrund der Stärke, die Lula hat, mit den verschiedenen Ländern zu sprechen. Aber ich denke, dass dies nicht sofort geschehen wird. Wie Sie sagen, muss er erst einmal "das Haus in Ordnung bringen", und dann können wir, glaube ich, einen stärkeren Integrationsprozess in Angriff nehmen.

In großen Teilen der Volksbewegungen in Lateinamerika finden Debatten über das Vorstoßen in die Institutionen statt, mit unterschiedlichen Ergebnissen und Gewichtungen. Wie sehen Sie das und wie konnte in Brasilien Einigkeit über die Kandidatur Lulas erzielt werden?

Einheit kann durch Liebe oder durch Schmerz erreicht werden, und hier tun wir es durch den Schmerz, als eine Frage des Überlebens: Bolsonaro zu besiegen ist fast eine Frage von Leben und Tod; er repräsentiert nicht nur eine neoliberale Rechte, sondern auch eine autoritäre, faschistische Ultrarechte. Es ist also eine Frage der historischen Verantwortung, die Einheit herzustellen, um Bolsonaro zu besiegen. Ich glaube, dass einer der Hauptfehler des ersten lateinamerikanischen progressiven Zyklus darin bestand, den sozialen Bewegungen nicht die Rolle der Protagonisten einzuräumen, und dass die Bewegungen ruhig, angepasst blieben. Sie sollten keine Druckmittel sein, sie können ein anderes Regierungsmodell möglich machen. Die Macht der Straße zu haben ist ein wichtiges Instrument, um die Agenda voranzubringen und das Kräfteverhältnis zu verändern.

Welche weiteren Lektionen, die in dieser Phase zu berücksichtigen sind, hinterließ der erste progressive Zyklus ?

Ich denke, dass die Frage der Staatsführung und der Ausweitung der popularen Partizipation eine grundlegende Lektion ist. Einige strukturelle Fragen, wie das brutale Monopol bei den Kommunikationsmedien oder die Änderung der Steuerlogik, sodass die Reichen mehr zahlen. Und die Vorstellung umkehren, dass wir, wenn es keine Mehrheit im Kongress gibt, die Kräfteverhältnisse akzeptieren müssen, ohne dafür zu kämpfen, sie zu ändern. Einige der Begrenzungen im ersten Zyklus, was den Kampf gegen die Ungleichheit und die Privilegien angeht, rühren daher, dass nicht auf einen Prozess der stärkeren Mobilisierung gesetzt wurde, um diese Veränderungen zu ermöglichen.

Guilherme Boulos ist derzeit Koordinator von Lula da Silvas Wahlkampagne in São Paulo und erster Kandidat der PSOL für das Abgeordnetenamt in diesem Bundesstaat. Das Interview führte Gerardo Szalkowicz, Herausgeber unseres Partnerportals Noticias de América Latina y el Caribe (Nodal)

  • 1. Die Schwarze PSOL-Stadträtin Marielle Franco wurde im März 2018 zusammen mit ihrem Fahrer Anderson Gomes in ihrem Auto im Zentrum von Rio de Janeiro erschossen. Unter anderem hatte sie stets die Verbrechen der Milizen in Rio de Janeiro angeprangert