Wahlen in Kolumbien: Gustavo Petro, Francia Márquez und ein historisches Projekt

Dem Pacto Histórico ist es gelungen, von der linken Mitte bis zu den radikalsten Volksbewegungen alle zusammenzubringen

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Petro und Márquez treten an " mit der historischen Akkumulation des popularen Lagers im Rücken"
Petro und Márquez treten an " mit der historischen Akkumulation des popularen Lagers im Rücken"

Wenige Stunden, bevor sein Mandat als Bürgermeister von Bogotá in der Nacht zum 31. Dezember 2015 endete, twitterte Gustavo Petro ein Foto von sich: Er steht lächelnd neben einem Gemälde von Simón Bolívar, winkt mit der linken Hand und sagt voraus, dass er sich nach dem Ende der Etappe des "Bogotá Humana" (Menschliches Bogotá) auf den Weg zu einem "Colombia Humana" (Menschliches Kolumbien)1 machen wird.

Das Establishment nahm ihn nicht ernst. Seine Amtszeit war turbulent, dazu gehörte auch seine 35-tägige Amtsenthebung (amerika21 berichtete). Aber im Gegensatz zu dem von seinen Gegnern gezeichneten Bild einer politischen Leiche, setzte sich das Bild eines vom Volk unterstützten und von der traditionellen Elite verfolgten Anführers durch. Und nach einer guten Arbeit im Senat und nachdem er bei der Wahl 2018 knapp verloren hat, hat er heute größte Chancen, der erste linke Präsident in der Geschichte Kolumbiens zu werden.

Es heißt, er sei schüchtern, ernst, obsessiv. Gustavo Francisco Petro Urrego wurde vor 62 Jahren in Ciénaga de Oro, einem heißen Viehzüchterort in der kolumbianischen Karibikregion geboren, wuchs aber in der Kälte von Zipaquirá auf, etwa 50 Kilometer von Bogotá entfernt. Schon als Junge begann er in der Religionsschule zu rebellieren, las einen verbotenen Gabriel García Márquez und tat sich mit Gewerkschaftern zusammen, die seine marxistische Orientierung formten. Mit 17 Jahren schloss er sich der Stadtguerilla M-19 an und nannte sich in Anlehnung an Gabo "Aureliano"2.

Er studierte Wirtschaftswissenschaften, war Stadtrat und wurde inhaftiert, weil er eine Landbesetzung anführte. Nach der Demobilisierung der M-19 und dem Friedensprozess von 1990 war er Berater des Gouverneurs von Cundinamarca und wurde 1991 zum Abgeordneten gewählt. Doch 1994 bat seine Partei den Staat um Schutz für einige Aktivisten und er wurde zum Botschaftsattaché in Belgien ernannt. Dort spezialisierte er sich auf Umweltfragen, ein Thema, das zu einem seiner zentralen programmatischen Punkte wurde.

Nach seiner Rückkehr im Jahr 1998 nahm er seinen Weg als Parlamentarier wieder auf und wurde zu einer der wichtigsten Stimmen im Senat, die die narco-paramilitärische Verflechtung mit den Sektoren der Macht anprangerte, die im Uribismus verkörpert sind. Was als "Parapolitik" bekannt wurde. Er gründete seine Partei Progresistas, mit der er 2011 das Bürgermeisteramt von Bogotá gewann.

Jetzt unternimmt er seinen dritten Versuch, die Präsidentschaft als Kandidat des Pacto Histórico zu erlangen, einer breiten Koalition, der es erstmals gelungen ist, von der linken Mitte bis zu den radikalsten Volksbewegungen alle zusammenzubringen. Ein Bündnis, das in der aktuellen Konjunktur aufkeimte, das aber das Ergebnis jahrelang gereifter Prozesse, einer Akkumulation langer Erfahrungen und Kämpfe ist. Ein historisches Projekt, das organisch und konsequent gewachsen ist.

"Ich wurde in Suárez, Cauca, geboren, zwischen einem Berg, der von zwei Flüssen durchquert wird, wo meine Großväter, meine Großmütter, meine Eltern und ich unseren Nabel haben, ein angestammtes Gebiet, in dem ich den Wert des Bodens gelernt habe. Meine Wurzeln sind die Fußabdrücke von Hunderttausenden versklavter Menschen, die ihr Leben und ihre Arbeit geopfert haben, um dieser Nation die Freiheit zu bringen". So stellt sich Francia Márquez offiziell vor, eine anerkannte soziale Führungspersönlichkeit, mit afrikanischen Vorfahren und Feministin, die sich durch den Schutz des Territoriums und der Umwelt einen Namen gemacht hat.

Bei den Vorwahlen im März erhielt sie eine Lawine von fast 800.000 Stimmen, lag in ihrem Bündnis damit an zweiter Stelle und bekam die drittmeisten Stimmen aller Koalitionen. Aufgrund dieser Stärke stimmte Petro zu, sie zu seiner Vizepräsidentschaftskandidatin zu machen.

Francia ist 40 Jahre alt und hat, seit sie sich 1997 der Organisation Proceso de Comunidades Negras anschloss, nicht aufgehört, gegen Rassismus, Patriarchat und Extraktivismus zu kämpfen und den Bergbau anzuprangern, der die Flüsse verschmutzt und die Zwangsvertreibung der Gemeinden des Cauca verursacht.

Sie studierte Jura an der Universidad Santiago de Cali und bekam als Anerkennung für ihren Aktivismus 2015 den Nationalen Menschenrechtspreis und 2018 den Goldman-Umweltpreis. Aus demselben Grund war sie einer Reihe von Verfolgungen und Drohungen ausgesetzt und im Jahr 2019 wurde ein Anschlag auf sie verübt (amerika21 berichtete).

Eben das scheint das Haupthindernis für den Sieg der Linken zu sein: das System staatlicher und parastaatlicher Gewalt, das schon immer zur Eindämmung der Forderungen und Sehnsüchte der Bevölkerung fungiert hat. Allein in diesem Jahr wurden 76 soziale Anführer und 21 ehemalige Guerilleros ermordet, die das Friedensabkommen unterzeichnet und ihre Waffen niedergelegt hatten. Auch wurden allein in diesem Jahr 2022 bereits 40 Massaker verzeichnet.

In den vergangenen Monaten haben die Angriffe und Morde zugenommen; ein Bericht der Wahlbeobachtungsmission warnte, dass dies der gewalttätigste Wahlkampf der letzten zwölf Jahre war. Aus diesem Grund bat der Pacto Histórico die Interamerikanische Menschenrechtskommission um Garantien für die Sicherheit seiner Kandidaten.

Am kommenden Sonntag wird sich die Zukunft Kolumbiens entscheiden.

Und hier sind Gustavo Petro und Francia Márquez, mit der historischen Akkumulation des popularen Lagers im Rücken und der mehr denn je lebendigen Hoffnung, so vielen Jahren des Blutvergießens und des Schmerzes ein Ende zu setzen.

  • 1. "Colombia Humana" heißt auch die Partei Petros, die Teil des Pacto Histórico ist
  • 2. Aureliano Buendía ist die Hauptfigur des 1967 erschienenen Romans "Hundert Jahre Einsamkeit" von Gabriel García Márquez (Gabo)