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Chile: Die "Mumien" setzen den Verfassungskonvent unter Druck

Es besteht kein Zweifel daran, dass äußerst mächtige Personen auf ein Scheitern des verfassungsgebenden Prozesses hinarbeiten

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Eine neue Verfassung war eine zentrale Forderung der sozialen Revolte
Eine neue Verfassung war eine zentrale Forderung der sozialen Revolte

Das Plenum der verfassungsgebenden Versammlung hat für die Einrichtung einer Regionalkammer gestimmt, die den chilenischen Senat ersetzen soll, auch wenn es noch keine Einigung über die Zuständigkeiten des neuen legislativen Organs gab. Und sie nahm einen Vorschlag an, der die unmittelbare Wiederwahl von Präsident:innen erlaubt und das Mindestalter für die Präsidentschaftskandidatur auf 30 Jahre senkt.

Die Mitglieder des Konvents sind in Schlüsselfragen zum politischen System, zur Regierung und zum Wahlsystem vorangekommen.

Nach zahlreichen Warnungen und Fehltritten sieht sich Chile indes einer Realität gegenüber, die zu Beginn des Prozesses undenkbar war: Die verfassungsgebende Versammlung könnte scheitern.

Die Kampagne der Ablehnung der neuen Verfassung hat eine lange Geschichte und viele ihrer Hauptakteur:innen unterstützen sie heute nach wie vor innerhalb des Konvents. Diese führende Position bringt die Rechte in eine Sackgasse und hat das Unvorstellbare erreicht: Allianzen und kurzzeitige Bündnisse zwischen Mitte-links- und Linkskräften, die sich bis gestern noch unvereinbar gegenüberstanden, wie Eric Palma in der Tageszeitung El Mostrador aufzeigt.

Noch hallt das Echo einiger Meinungsumfragen wider, denen zufolge die Ablehnung auf dem Vormarsch ist und der Vorschlag nicht angenommen werden wird. Einige haben dieses Ergebnis vorschnell gefeiert, wobei sie sogar ein Szenario voraussehen, in dem am Ende das frisch gebildete Parlament eine neue Verfassung erarbeiten wird (der Weg von Ricardo Lagos - Michelle Bachelet).

Der erste Artikel der neuen Verfassung definiert Chile als sozialen und demokratischen Rechtsstaat, was das Subsidiaritätsprinzip des Staates aus der Verfassung von 1980, eingeführt unter der Diktatur von Augusto Pinochet, ersetzt. Das Land "konstituiert sich als eine solidarische Republik, seine Demokratie ist paritätisch und es erkennt "als wesentliche und unveräußerliche Werte die Würde, die Freiheit, die grundsätzliche Gleichheit der Menschen und ihre unauflösliche Beziehung zur Natur an", besagt der Artikel.

Die neuen Artikel werden in den Entwurf der Magna Charta aufgenommen, über den am 4. September in einem Referendum abgestimmt wird. Es wird eine Wahlpflicht geben, weshalb ein großer Andrang an den Urnen zu erwarten ist. Die Chilen:innen können entscheiden, ob sie die Verfassung Pinochets von 1980 beibehalten oder zu einer Verfassung mit tiefen demokratischen Wurzeln voranschreiten wollen. Einige wenig optimistische Meinungsumfragen verkünden den Sieg der Ablehnung.

Das Ende der Subsidiarität des Staates

Der erste Artikel etabliert einen sozialen und demokratischen Rechtsstaat und schafft auf diese Weise die Subsidiarität des Staates ab. Dies bedeutet das Ende der sozialen Schutzlosigkeit, die die Chilen:innen in ihren Lebensbedingungen erfahren haben und beendet damit das Privileg der Kapitaleigner, soziale Dienstleistungen zu Waren zu machen.

Roberto Pizarro führt aus, dass die chilenische Rechte "immer steinzeitlich war, und solche Besessenen verdienen die populare Bezeichnung 'Mumien'. Der Verfassungskonvent verabschiedet neue, für Chile beispiellose Kriterien, Formen und Regeln. Werden die 'Mumien' sich gegen die institutionellen Innovationen durchsetzen können?"

Die Verfassung Pinochets von 1980 und die Subsidiarität des Staates haben es ermöglicht, dass ein Drittel des Einkommens vom reichsten einen Prozent der Bevölkerung eingesackt wird; dieses eine Prozent hat sich der Produktionstätigkeiten und der Banken bemächtigt, kontrolliert die Exporte, profitiert aber auch von den Geldern der Pensionskassen, von den Fördermitteln für Schulen, Universitäten und Fußballteams und ihm gehören die Kommunikationsmedien.

Jetzt wird der aktive Staat die Wirtschaftstätigkeit neu organisieren können, vom Rentier-Extraktivismus hin zur Diversifizierung der Produktion, mit Schutz der Ökosysteme, Geschlechtergerechtigkeit und effektiver regionaler Dezentralisierung.

Auch besagt der Artikel 12: "Chile ist ein mehrsprachiger Staat, seine Amtssprache ist das Spanische und die Sprachen der indigenen Völker sind offizielle Sprachen in ihren Territorien und in Gebieten mit einer hohen Bevölkerungsdichte jedes indigenen Volkes. Der Staat fördert das Wissen, die Wiederbelegung, die Wertschätzung und die Respektierung der indigenen Sprachen aller Völker des Plurinationalen Staates."

Die Abschaffung des Senats und die Ablehnung des Artikels, der die Befugnisse der Regionalkammer festgelegt hätte, brachten einen internen Bruch zum Ausdruck, der sich entwickelte, als Leitungspersonen der Sozialistischen Partei die "Große Vereinbarung" zu kritisieren begannen, was ihnen harte Kritik des linken Parteibündnisses Frente Amplio und der Kommunistischen Partei einbrachte.

Die Kritiken machten sich auch ironisch über die Mumien lustig, die historischen Bezugspunkte des Sozialismus, nachdem die Senatoren José Miguel Insulza und Álvaro Elizalde in einem medialen Angriff ein angeblich "verstecktes Einkammersystem" anprangerten. In die Diskussionen mischte sich der Ex-Präsident Ricardo Lagos ein, der die Abschaffung des Oberhauses als "schweren Fehler" verurteilte, was den Druck auf die sozialistischen Mitglieder des Konvents noch erhöhte.

Hinzu kommt das konfliktreiche politische Umfeld, das durch steigende Preise, Territorialkonflikte in den "Makrozonen" und die zögerliche Bildung der neuen Regierung geprägt ist, was jede bisherige Gewissheit über die Stimmung in der Bevölkerung hinsichtlich der Notwendigkeit struktureller Veränderungen in Frage stellt.

Analytiker:innen sprechen von einem oligarchischen Komplott der Mumien, der alten Dinosaurier. Es besteht kein Zweifel daran, dass äußerst mächtige Personen (zumindest was die Ausübung von Druck durch die Medien angeht) den verfassungsgebenden Prozess Scheitern sehen wollen und Ressourcen in diesen Kampf investieren, insbesondere nachdem sie festgestellt haben, dass ihre Position innerhalb des Konvents minoritär ist.

Nicht alle haben etwas für echte Demokratie übrig. Einseitig berichtende Kommunikationsmedien, organisierte Internetkampagnen am Rande der Legalität und andere reaktionäre Spitzfindigkeiten sind Dinge, die es geben wird und gab. Es ist ein sehr schmaler Grat zwischen der Herausstellung des Offensichtlichen (es gibt organisierte Interessen, die den Prozess delegitimieren wollen) und dem Rückgriff auf klassistische Abwertung (davon auszugehen, dass die Bevölkerung "schwach und manipulierbar" sei).

Die Abschaffung des Senats

Der Prozess der Ausarbeitung der neuen chilenischen Verfassung hat mit dem Beschluss zur Abschaffung des Senats einen seiner wesentlichen Punkte erreicht. Artikel 9 legt fest, dass "die Regionalkammer ein beratendes, paritätisches und plurinationales Organ der regionalen Vertretung ist, zuständig für die Mitwirkung bei der Ausarbeitung von Gesetzen über regionale Abkommen und für die Ausübung der sonstigen durch diese Verfassung übertragenen Befugnisse". "Seine Mitglieder werden als regionale Vertreter bezeichnet", ergänzt der Text.

Mit 104 Stimmen, 42 Gegenstimmen und sechs Enthaltungen wurde der Artikel angenommen. In diesem Sinn wird das neue legislative Organ weiterhin aus zwei Kammern bestehen. Allerdings gab es innerhalb des Konvents keine Einigung über einige Vorgaben des genannten Artikels bezüglich der Zusammensetzung und der Befugnisse des neuen Organs, die daher in der "Kommission für das Politische System, die Regierung, die Legislative und das Wahlsystem" erneut diskutiert werden.

Dem Nachrichtenportal The Clinic zufolge fehlte nur eine Stimme zur Bewilligung des Artikels, der die Befugnisse der Regionalkammer festgelegt hätte. Trotzdem stimmte der Sozialist Patricio Fernández gegen den Entwurf und argumentierte, dass die neue Kammer mehr Befugnisse bräuchte, "wie die Ratifizierung bei der Ernennung von Autoritäten und die Teilname an verfassungsmäßigen Amtsenthebungsverfahren", präzisiert das lokale Medium.

Das Projekt eines neuen legislativen Organs wurde als Kompromiss angenommen, um in den Diskussionen zwischen denjenigen Mitgliedern des Konvents voranzukommen, die das Zweikammersystem beibehalten wollen, und den Befürworter:innen eines Einkammersystems, die nur an der Abgeordnetenkammer festhalten möchten.

Für Constanza Schonhaut, Konventsmitglied von Frente Amplio, würde der Artikel 9 gewährleisten, die legislativen Prozesse im Sinne der Bevölkerung zu vereinfachen. "Wir sind dabei, das neue politische System zu gestalten: Mit einer asymmetrischen Legislative aus zwei Kammern. Auf diese Weise lassen wir den Senat hinter uns und gehen den Schritt zu einer Kammer der Regionen (Cámara de las Regiones), um die Repräsentation der Regionen zu verbessern, den legislativen Verfahrensweg zu beschleunigen und auf die Forderungen der Bürgerschaft einzugehen."

Darüber hinaus stimmten die Mitglieder des Konvents dafür, dass die direkte Wiederwahl als Präsident:in der Republik nach vier Amtsjahren erlaubt sein soll, so wie es in Argentinien, Kolumbien, Bolivien und Venezuela geregelt ist.

Außerdem senkt der Artikel 40 das Mindestalter für die Ausübung des höchsten Amtes: "Um als Präsidentin oder Präsident der Republik gewählt zu werden, ist es notwendig, die chilenische Staatsangehörigkeit zu haben, Bürgerin oder Bürger mit Wahlrecht zu sein und das 30. Lebensjahr vollendet zu haben", besagt der Text. Des Weiteren ist ein tatsächlicher Wohnsitz auf nationalem Territorium für mindestens vier Jahre vor der Wahl erforderlich, es sei denn, jemand war im Ausland im Einsatz.

Der Verfassungskonvent

Die neue Verfassung würde eine rechtliche Revolution bedeuten, die unerlässlich für die soziale Transformation ist, die die chilenische Bevölkerung unablässig fordert. Das fand während des sozialen Aufstands im Oktober 2019, als Santiago in Flammen stand, seinen sichtbarsten Ausdruck. Die verfassungsgebende Versammlung ist paritätisch, divers, umfasst Gruppierungen gegensätzlicher Ideologien und setzt sich mehrheitlich aus Frauen und Männern zusammen, die aus sozialen Bewegungen kommen und kaum einen oder gar keinen Werdegang in politischen Parteien haben.

Es sollte beachtet werden, dass der Verfassungskonvent die indigenen Völker durch die sogenannten "vorbehaltenen Sitze" einbezieht. Nie zuvor ist in Chile etwas Vergleichbares passiert. Mapuche, Aymara, Rapa Nui, Atacameño, Diaguita… indigene Völker, auf die nie gehört wurde, nehmen nun an der Ausarbeitung einer neuen Verfassung teil. "Sie waren immer hier, aber wir haben sie nicht gesehen", kommentiert ein Mitglied des Konvents mit leiser Stimme.

Hinzu kommt ein nicht unbedeutender Umstand: Die Notwendigkeit einer gestärkten Beschlussfähigkeit von zwei Dritteln des Plenums, wodurch die Mehrheit das letzte Wort bei der Abstimmung hat. Diese Entscheidung war hart umkämpft, denn wenn eine Minderheit im Konvent darauf beharren würde, die verfassungsgebende Versammlung zu boykottieren, wäre sie jederzeit dazu in der Lage, die Annahme jeden Vorschlags durch die Mehrheit mit einem Veto zu blockieren.

Cecilia Vergara Mattei aus Chile ist Journalistin, Mitglied des Lateinamerikanischen Zentrums für Strategische Analyse (Centro Latinoamericano de Análisis Estratégico, CLAE)