UN-Expertin veröffentlicht Bericht über Auswirkungen der US-Sanktionen gegen Venezuela

Sonderberichterstatterin bekräftigt Forderung nach Aufhebung der Sanktionen, da sie die Menschenrechte der Venezolaner verletzen

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In der größten Kinder-Herzklinik Lateinamerikas konnten aufgrund der US-Sanktionen 2020 weniger als 120 Operationen durchgeführt werden, zuvor waren es 1.800 jährlich
In der größten Kinder-Herzklinik Lateinamerikas konnten aufgrund der US-Sanktionen 2020 weniger als 120 Operationen durchgeführt werden, zuvor waren es 1.800 jährlich

Die Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen (UN), Alena Douhan, besuchte im Februar 2021 Krankenhäuser und Schulen in Venezuela. Sie traf Regierungsbeamte, Vertreter von politischen Parteien, Gewerkschaften, dem Privatsektor, der Kirche und von Nichtregierungsorganisationen. Nun hat sie einen abschließenden 19-seitigen Bericht vorgelegt, in dem sie die negativen Folgen der von den USA verhängten Sanktionen für das venezolanische Volk darlegt.

Das Dokument ist das Resümee von Duhans zwölftägigem Besuch in dem karibischen Land im Februar. Bei der Vorstellung der Ergebnisse auf der 48. Sitzung des UN-Menschenrechtsrates am 15. September betonte die unabhängige Expertin erneut, dass die weitreichenden Sanktionen gegen Venezuela "verheerende" Auswirkungen auf die Lebensbedingungen der gesamten Bevölkerung haben.

Douhan erläuterte, wie die bereits bestehende wirtschaftliche und soziale Krise Venezuelas durch die "sektoralen Sanktionen gegen die Öl-, Gold- und Bergbauindustrie" sowie "die Wirtschaftsblockade und das Einfrieren der Guthaben der Zentralbank" weiter verschärft wurde.

Infolgedessen gingen die Einnahmen des Landes, die vorwiegend aus dem Erdölexport stammen, erheblich zurück, was sich auf "die öffentlichen Strom-, Gas-, Wasser-, Verkehrs-, Telefon- und Kommunikationssysteme sowie auf Schulen, Krankenhäuser und andere öffentliche Einrichtungen" auswirkte.

Die belarussische Anwältin fügte hinzu, dass die Androhung extraterritorialer und Sekundärsanktionen zur "Übererfüllung der Vorschriften seitens Banken und Unternehmen aus Drittländern" geführt hat, was die negativen Auswirkungen der ursprünglichen Sanktionen noch verstärke. Zudem, erklärte sie, seien die "humanitären Ausnahmen zur Linderung der Krise unwirksam und unzureichend".

Die Sonderberichterstatterin kommt zu dem Schluss, dass die einseitigen Sanktionen gegen Venezuela politisch motiviert sind, dass sie grundlegende Menschenrechte verletzten und gegen internationales Recht verstoßen. Sie forderte die USA und ihre Verbündeten auf, alle Zwangsmaßnahmen aufzuheben.

Douhan würdigte zudem das "verstärkte Engagement" der Regierung von Nicolás Maduro in Zusammenarbeit mit UN-Organisationen und Nichtregierungsorganisationen, um der Bevölkerung humanitäre Hilfe zukommen zu lassen.

Der venezolanische Außenminister Félix Plasencia nahm ebenfalls an der 48. Sitzung des UN-Menschenrechtsrates teil und begrüßte Dohans Bericht. "Die Sonderberichterstatterin hat klar gemacht, dass diese Maßnahmen, in der Form von Kollektivstrafen, nach internationalem Recht Verbrechen sind, die das venezolanische Volk bedrohen."

Am 15. September veröffentlichten über 800 Menschenrechtsorganisationen und soziale Bewegungen eine Erklärung, in der sie die jüngsten Aufrufe zur Aufhebung der Sanktionen unterstützen. Auch die UN-Menschenrechtshochkommissarin Michelle Bachelet hatte sich in dem Sinn geäußert.

Seit dem Jahr 2017, als Washington die staatliche Ölgesellschaft PDVSA ins Visier nahm, steht Venezuela unter erdrückenden US-Sanktionen. Zwischen 2019 und 2020 verhängte das US-Finanzministerium ein Ölembargo sowie ein Pauschalverbot von Geschäften aller Art mit Caracas, und unterband die Importe von Kraftstoffen und Verdünnungsmitteln sowie Tauschgeschäfte (Rohöl gegen Diesel). Darüber hinaus verhängte Washington Sekundärsanktionen und verfügte eine Reihe weiterer Maßnahmen wie das Einfrieren oder die Beschlagnahme venezolanischer Vermögenswerte im Ausland.

Recht auf Lebensmittel und Löhne

In ihrem Bericht betonte die unabhängige UN-Expertin, dass "der Rückgang der Öleinnahmen - noch verschärft durch die Sanktionen - eine Nahrungsmittel- und Ernährungskrise ausgelöst hat", die Verfügbarkeit von Lebensmitteln ging aufgrund des Rückgangs der Importe zwischen 2015 bis 2019 um über 70 Prozent zurück.

Infolgedessen sind mehr als 2,5 Millionen Venezolaner stark von Ernährungsunsicherheit betroffen. Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) verzeichnete einen "Anstieg von Unterernährung oder chronischem Hunger von 213,8 Prozent".

Douhans Bericht warnte auch vor der "kaum vorhandenen Kaufkraft der Arbeitnehmer", deren Durchschnittslohn von schätzungsweise zwei bis zehn US-Dollar pro Monat nur etwa zwei Prozent des Nahrungsmittelkorbs abdeckt.

Die Sonderberichterstatterin erkannte indes die Bemühungen der Regierung an, die Krise durch eine Reihe von Sozialprogrammen zu lindern, darunter die Verteilung von subventionierten Lebensmitteln über das CLAP-Programm. Letzteres hilft Berichten zufolge 7,5 Millionen Haushalten, hat aber seine Zuteilungen reduziert, nachdem das US-Finanzministerium die Importe ins Visier genommen hatte.

"Katastrophale" Gesundheitssituation

Die belarussische Anwältin stellte fest, dass die Sanktionen die Beschaffung von Medikamenten blockiert hat. "Dadurch wurde 2020 laut dem Büro des Ombudmanns der Kauf von Blutplasma für 2,5 Millionen Patienten verhindert, und für 123.000 weitere, die Bluttransfusionen gebraucht hätten".

Darüber hinaus betrafen die blockierten Einkäufe fast 6.000 Menschen, die an Hämophilie und am Guillain-Barré-Syndrom leiden, und verhinderten 180.000 Operationen, weil es an Antibiotika, Anästhetika und an Tuberkulosemedikamenten fehlte.

Die unzureichende Versorgung mit Basismedikamenten und deren steigende Preise führten dazu, dass um die 300.000 Menschen gefährdet wurden. 2,6 Millionen Kinder bekamen keinen Impfstoff gegen Meningitis, Rotavirus, Malaria, Masern, Gelbfieber und Grippe.

Weitere Probleme sind die Zunahme von Schwangerschaften bei Teenagern und HIV/Aids-Fällen. Derzeit mussten 80.000 von schätzungsweise 120.000 Aids-Patienten ihre Behandlung aus Mangel an Medikamenten unterbrechen, so der Bericht.

Darüber hinaus berichteten die Krankenhäuser, dass nur 20 Prozent der Ausrüstung funktioniert, weil es keine Ersatzteile gab. Die UN-Expertin dokumentierte zwei konkrete Fälle: Die Kinder-Herzklinik in Caracas machte im Jahr 2020 weniger als 120 Operationen (der Standard liegt bei rund 1.800) und das Kinderkrankenhaus "Hospital de Niños J. M. de los Ríos" in Caracas musste Nierentransplantationen für 137 Kinder aussetzen.

Douhans Bericht betont auch, dass die Beschlagnahmung der US-amerikanischen PDVSA-Tochter Citgo durch Washington das humanitäre Programm des Unternehmens stoppte. Als Folge sind 14 Kinder gestorben, die in Krankenhäusern im Ausland keine Leber-, Nieren- und Knochenmarktransplantationen mehr bekommen konnten. Weitere 53 warten darauf, dass die staatlich finanzierte Simón-Bolívar-Stiftung ihre Arbeit wieder aufnimmt.

Verschlechterte öffentliche Dienstleistungen

Bei ihrem Besuch in Venezuela stellte Douhan fest, dass alle öffentlichen Dienste seit der Verhängung von Zwangsmaßnahmen durch die USA nur noch mit halber Kraft arbeiten.

Nach Angaben venezolanischer Regierungsvertreter, die im Bericht zitiert werden, waren nur 50 Prozent der Wasserversorgung in Betrieb, und "Wasser musste im Wechsel verteilt werden, um die Versorgung aller zu gewährleisten". Der Einsatz von chemischen Mitteln zur Wasseraufbereitung und -reinigung wurde um 30 Prozent reduziert, was zu gesundheitlichen Problemen führte.

Weiter heißt es in dem Text, dass Venezuela "nur 40 Prozent des benötigten Stroms produziert und dass die Stromleitungen mit weniger als 20 Prozent ihrer Kapazität arbeiten". Im Südwesten des Landes konnten "75-80 Prozent des Stroms nicht produziert werden, weil Wärmekraftwerke beschädigt waren und repariert werden müssen". Die Situation wurde durch mutmaßliche Cyberangriffe auf die Stromnetze im Jahr 2019 noch verschärft.

Knappheit bei Benzin und Diesel

Die Sonderberichterstatterin kam zu dem Schluss, dass sich das karibische Land aufgrund des akuten Kraftstoffmangels am Rande einer "katastrophalen Situation" befindet. Sie warnte, dass die Dieselknappheit "die landwirtschaftliche Produktion, den Lebensmitteltransport, die Stromerzeugung, den Betrieb von Wasserpumpen, den öffentlichen Verkehr und sogar die Krankentransporte" gefährdet.

Zugleich führte die Benzinknappheit zu höheren Transportpreisen, blockierte den Zugang zu Krankenhäusern und Schulen und erschwerte die Verteilung von Lebensmitteln und medizinischen Hilfsgütern, insbesondere in den abgelegenen Landesteilen.

Zugang zu Bildung

Die begrenzten Finanzmittel der Regierung zum Kauf und zur Instandsetzung der Infrastruktur haben zum Rückgang der Internetabdeckung geführt, wobei Berichten zufolge nur noch zehn Prozent des Landes Zugang haben. Vor den Sanktionen lag dieser Anteil bei 50 bis 90 Prozent.

Der Bericht der belarussischen Anwältin betont außerdem, dass die höheren Internetkosten und die anhaltende Stromknappheit den Online-Unterricht seit Ausbruch der Covid-19-Pandemie beeinträchtigt haben. Nach Angaben von Universitätsforschern können schätzungsweise 80 Prozent der Schüler an öffentlichen Schulen diese Hindernisse nicht überwinden.

Eine weitere Folge der Sanktionen war 2020 die Aussetzung des Canaima-Programms der Regierung, über das 6,5 Millionen Tablet-Computer für 14 Millionen Schüler produziert und verteilt wurden.

Migration und Braindrain

Die Verschärfung der Sanktionen hat zu nie dagewesenen Migrationszahlen geführt. Der UN-Sachverständigenbericht, der sich auf eine Vielzahl von Quellen beruft (einschließlich Quellen der venezolanischen Regierung), beziffert deren Zahl bis Mai 2021 auf 1,2 bis 5,6 Millionen.

Die beschleunigte Migration führte zum Verlust von Fachkräften. Die meisten staatlichen Unternehmen und öffentlichen Dienste verloren 30-50 Prozent ihres Personals, darunter "Ärzte, Krankenschwestern, Lehrer, Universitätsprofessoren, Ingenieure, Polizisten, Richter, Techniker und viele andere". Dies führte "zu interner Desorganisation, erhöhter Arbeitsbelastung für das verbleibende Personal, verringerten Dienstleistungen und zur Verschlechterung der Qualität."

Der Besuch von Sonderberichterstatterin Alena Douhan in Venezuela ist der erste von zehn, die in den nächsten zwei Jahren im Rahmen einer 2019 unterzeichneten Vereinbarung zwischen der Regierung von Nicolás Maduro und dem UN-Hochkommissariat für Menschenrechte geplant sind.

Den vollständigen Bericht Douhans finden Sie hier