Von Danzig in den Chaco

Von deutschen Militärberatern für die bolivianische Armee, dem einzigen Auslandseinsatz der Polizei des Freistaats Danzig und einer zweiten politischen Heimat für SA-Chef Ernst Röhm

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General Hans Kundt in Bolivien
General Hans Kundt in Bolivien

Mit dem Niedergang des Britischen Empires Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts versuchten immer mehr Großmächte, ihren Einfluss in Lateinamerika auf britische Kosten auszubauen.

Im Verlauf der Napoleonischen Kriege hatte die Regierung in London die Unabhängigkeitsbestrebungen in den spanischen Kolonien Süd- und Mittelamerikas unterstützt, um nach deren nomineller Selbstständigkeit informell die Region dominieren zu können. Ähnlich lief es mit Brasilien und Portugal1.

Neben Großbritannien spielte Frankreich von dieser Zeit an eine größere wirtschaftlichere, kulturelle und auch militärische Rolle in Mexiko und Zentralamerika. Als weitere Mächte kamen Ende des 19. Jahrhunderts auch noch Deutschland, Japan und die USA hinzu. All diese Staaten versuchten, informelle Einflusszonen zu gewinnen oder in einzelnen Sektoren – wie beispielsweise dem Militär und später der Luftfahrt – eine dominante Rolle zu erringen. Das 1871 gegründete deutsche Kaiserreich beispielsweise unterhielt in Dänisch-Westindien – den heutigen Amerikanischen Jungferninseln – ab 1900 eine dauerhaft besetzte Auslandsstation, von der aus deutsche Kriegsschiffe ihre Kanonenbootpolitik in Mittel- und Südamerika betrieben.

Doch nicht nur konfrontativ, sondern auch kooperativ bemühte sich die deutsche Regierung um militärischen Einfluss in Lateinamerika. So entsandte Berlin beispielsweise Beratermissionen nach Argentinien und Chile2.

Der liberale bolivianische Präsident Eliodoro Villazón lud 1910 auch eine deutsche Beratermission in sein Land ein. Die Mission unter dem General Hans Kundt erwies sich vor Ort als recht populär, bemühte sich aber vor allem um die Vermittlung von deutschen Rüstungsgeschäften und weniger um die bolivianische Armee3.

Mit dem Beginn des von der deutschen Regierung vom Zaun gebrochenen Ersten Weltkriegs im Sommer 1914 zogen die deutschen Berater noch in demselben Jahr wieder ab4.

Nachdem die von Deutschland angeführten Mittelmächte den damals Großen Krieg genannten Konflikt vier Jahre später verloren hatten, entwickelte sich im Zuge der Novemberrevolution aus dem Kaiserreich eine deutsche Republik: Die Weimarer Republik. Der neue deutsche Staat musste im Zuge der Verhandlungen in den Pariser Vororten auf alle formellen Kolonien in Afrika, Asien und Ozeanien verzichten. Außerdem legten die Siegermächte im Versailler Vertrag fest, dass das neue Deutschland keine Militärberater in andere Länder schicken dürfe5.

Die bolivianische Regierung interessierte das wiederum nicht und sie warb bereits im Jahr 1919 darum, dass General Kundt wieder in die Andenrepublik zurückkehren möge.

Damit das möglich wurde, legte Kundt seine deutsche Staatsbürgerschaft ab und reiste nach Bolivien, wo er Bürger des Andenstaates wurde. Zunächst bekleidet er 1920 eine zivile Position, doch bereits im Jahr 1921 ernannte ihn der neue Präsident Bautista Saavedra von der republikanischen Partei zum Generalstabschef des Landes in den Anden.

Der französische diplomatische Vertreter im Land protestierte gegen diese Ernennung, doch dessen britische und US-amerikanische Kollegen hielten sich zurück6. Die Regierung in Paris agierte damals recht konfrontativ gegen Zeichen einer wiederkehrenden deutschen Großmachtpolitik, während die Regierungen in London und Washington eher auf Ausgleich orientierten. Auf Kundts Privatinitiative hin kam noch eine Hand voll mehr deutscher Berater nach Bolivien7.

Die 1920er Jahre waren für Bolivien sozial und wirtschaftlich turbulente Jahre. Während der spanischen Kolonisationszeit exportierte das Gebiet des späteren Boliviens wegen der Mine Potosí, der weltgrößten Silbermine, große Mengen dieses Edelmetalls nach China, dem damals ökonomisch stärksten Land der Welt8. Anfang des 20. Jahrhunderts nahm die Bedeutung des Silberexports jedoch rapide ab und Zinn entwickelte sich zum wichtigsten Exportgut Boliviens.

Mit dem Bedeutungsverlust des Silberexports ging ein Abstieg der klassischen Oligarchie des Landes und der mit dieser verbandelten Liberalen Partei einher. Es entstand ein Mehrparteiensystem, wobei die Parteien aber stark auf einzelne Persönlichkeiten zugeschnitten blieben. Hinzu kamen soziale Konflikte, da immer wieder starke Preisschwankungen den Zinnmarkt prägten und die Planung der Staatsfinanzen verunmöglichte. Darüber hinaus vergaben das erste Mal US-amerikanische Banken Kredite an die bolivianische Zentralregierung und als das Land dann in eine Wirtschaftskrise rutschte, sicherten sich die USA in neokolonialer Weise direkt Steuereinnahmen der Andenrepublik9.

In den sozialen Auseinandersetzungen im Innern setzte die bolivianische Regierung oft die Armee ein. 1923 verübten Soldaten beispielsweise nahe der Mine Oruro – gelegen in etwa auf halbem Wege zwischen La Paz und Sucre – ein Massaker an Minenarbeitern10.

Währenddessen wuchs Hans Kundts politischer Einfluss im Verlauf der 1920er Jahre weiter an. Als die Kritik im bolivianischen Offizierskorps an Kundts Führung anstieg, stellte sich der bolivianische Kongress im Jahr 1924 schützend vor den in Neustrelitz geborenen Militär. Zur Jahrhundertfeier der bolivianischen Unabhängigkeit leitete der Mecklenburger Armeemanöver, die angeblich einen guten Eindruck bei ausländischen Beobachtern hinterließen.

Trotzdem zog Kundt immer mehr Kritik auf sich – auch von anderen deutschen Beratern – und auf Dauer wollten Präsident Saavedra und sein Nachfolger Hernando Siles sich nicht mit dem früheren deutschen Offizier zur politischen Zielscheibe machen. Deswegen schickte Siles im Frühjahr 1926 Kundt auf einen sechsmonatigen Urlaub nach Deutschland11.Später wurde der Urlaub sogar auf zwei Jahre ausgedehnt.

Aufgrund steigender Spannungen mit dem Nachbarland Paraguay um das Gebiet des Chacos bemühte sich die Siles-Regierung um weitere deutsche Berater. Nach den Locarno-Verträgen des Jahres 1925 stieg die Weimarer Republik zu einer von London, Paris und Washington mehr oder weniger als gleichberechtigt angesehen Großmacht auf. In Berlin begannen sogar wieder erste Planungen für eigene Kolonien12.

Der Versailler Vertrag galt jedoch weiterhin und deswegen konnte Deutschland offiziell keine Berater nach Bolivien schicken.

Ganz anders verhielt es sich jedoch mit dem deutschsprachigen Stadtstaat Danzig. In der nach dem Ersten Weltkrieg von den Siegermächten aus der Taufe gehobenen Freien Stadt Danzig lebten hauptsächlich Deutsche – der autonome Stadtstaat unterstand jedoch einem Hochkommissar des französisch und britisch dominierten Völkerbundes und gehörte darüber hinaus zum polnischen Zollgebiet.

Einem bolivianischen Offizier in Deutschland gelang es, eine Gruppe von Ex-Militärs und Polizisten zu finden, die allesamt in die Polizei Danzigs übernommen wurden und dann nach Bolivien reisten. Im November 1927 kamen sie dort an. Die Deutschen vor Ort warben in Briefen an Freunde auch weiterhin für die Tätigkeit in der bolivianischen Armee13.

Ein Deutscher, der dann 1928 nach Bolivien kam, war Ernst Röhm. Nachdem der in München geborene Röhm mit seinen Kontakten zur Reichswehr und den Freikorps unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg die Sturmabteilung (SA) als paramilitärische Kampforganisation der NSDAP aufgebaut hatte, überwarf er sich mit deren Anführer Adolf Hitler, Mitte der 1920er Jahre. Röhm versuchte daraufhin, als Kaufmann zu arbeiten, scheiterte jedoch. Mangels Alternativen ging er nach Südamerika. In La Paz angekommen, fing er an der Militärakademie an zu lehren und lernte außerdem die spanische Sprache.

Nach dem Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 stiegen die sozialen Spannungen in Bolivien weiter an. Als Studentenrevolten die größeren Städte erfassten, entschlossen sich Teile der traditionellen Oberschicht zum Putsch gegen Präsident Siles. Dieser hatte beabsichtigt, seine Amtszeit zu verlängern und war den traditionellen Eliten schon länger ein Dorn im Auge, da er sich den sozialreformerischen Nationalisten angenähert hatte14. Diese orientierten sich an den in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern aktiven Apristen und der Mexikanischen Revolution von 1910 bis 192015.Unter dem Kommando des aus Cochabamba stammenden Generals Carlos Blanco kam es zum Putsch. Blanco selbst führte daraufhin eine Junta an, die Wahlen für 1931 ansetzte.

Die deutschen Berater mussten daraufhin aufgrund ihrer Assoziierung mit der Siles-Regierung Bolivien verlassen. Auch wenn – aufgrund der Sonderstellung Danzigs – eigentlich die britische diplomatische Vertretung für die Militärberater zuständig war, half die deutsche Gesandtschaft den Deutschen bei der Ausreise. Ernst Röhm beispielsweise reiste Mitte Oktober 1930 aus dem Andenland ab.

Die Episode der deutschen Militärberater in Bolivien schien zu Ende.

Doch im Sommer 1932 ließ der neue bolivianische Präsident Daniel Salamanca den Konflikt um das ölreiche Gebiet Gran Chaco zwischen Bolivien und Paraguay eskalieren. Salamanca beabsichtigte, von innenpolitischen Problemen abzulenken und es kam zum Chaco-Krieg. Neben einer tschechoslowakischen Militärberatermission und chilenischen Freiwilligen kämpften auch Deutsche auf bolivianischer Seite in dem Krieg.

Nach ersten Niederlagen bat Salamanca Hans Kundt, nach Bolivien zurückzukehren. Entgegen Empfehlungen aus dem Berliner Auswärtigen Amt reiste dieser dann wieder nach Südamerika und kam im Dezember 1932 an16.Der Neustrelitzer erhielt den Posten des Oberkommandeurs der Armee und des Kriegsministers.

Parallel zum Beginn des Krieges in Südamerika geriet Röhm aufgrund seiner bolivianischen Zeit öffentlich in die Bredouille. Weit entfernt von der Heimat hatte sich Röhm 1928 in privaten Briefen an einen politischen Freund, den Nationalsozialisten Karl-Günther Heimsoth, zu seiner Homosexualität bekannt und stimmte Heimsoth zu, dass die Gesetzgebung gegen die sogenannte "widernatürliche Unzucht" abgeschafft werden müsste. Damit stand Röhm im scharfen Gegensatz zur offiziellen schwulenfeindlichen Politik der Nationalsozialisten.

Nach polizeilichen Ermittlungen landeten diese Briefe erst im preußischen Innenministerium und dann beim sozialdemokratischen Journalisten Helmuth Klotz. Dieser entschloss sich, sie kurz vor den Reichspräsidentenwahlen im Jahr 1932 zu veröffentlichen, um Röhm und der NSDAP zu schaden17. Die Wahlen gewann dann Paul von Hindenburg, Adolf Hitler wurde jedoch Zweitplatzierter.

Röhm versuchte, dem innerparteilichen Druck zu entgehen, indem er seine Rolle in Bolivien überhöhte. Er behauptete sogar, dass man ihm den Posten des Generalstabschefs angeboten hätte18.

Das Verhältnis zwischen Röhm und Hitler blieb nach dem politischen Skandal angeschlagen. 1933 übernahmen dann die Nationalsozialisten die Regierung, nachdem große Industriegruppen darauf gedrängt hatten. 1934 buhlten verschiedene deutsche Industrievertreter um die Gunst Hitlers und dieser suchte die Entscheidung in einem Gewaltakt und ließ Röhm im Zuge des sogenannten "Röhm-Putsches" umbringen19.

Der Chef der SA wusste bis zuletzt um seine prekäre Position im Machtapparat der Nationalsozialisten und hielt sich stets die Option offen, nach Südamerika zurückzukehren. Bis zu seinem Tod blieb er ein bolivianischer Offizier im Urlaub und hielt konstant Kontakt mit der diplomatischen Vertretung des Andenlandes in Berlin20. Doch er kehrte niemals dorthin zurück.

In Südamerika lief der Chaco-Krieg derweil verheerend für Bolivien. Nach einer Reihe weiterer Niederlagen setzte Präsident Salamanca Hans Kundt nach einem Jahr Amtszeit ab. Kundt kehrte daraufhin nach Deutschland zurück. Den Konflikt mit Paraguay verlor Bolivien deutlich.

Die jahrzehntelangen deutschen Militärberatertätigkeiten erwiesen sich für Bolivien nicht als gewinnbringend. Auch für deutsche Konzerne entpuppte sich das Engagement in dem Andenstaat als nicht profitabel21. Letztendlich zog keiner der beiden Staaten irgendeinen Vorteil aus der Beziehung.

  • 1. Leslie Bethell: Brazil: Essays on History and Politics, London 2018, S. 57–85.
  • 2. Für Argentinien siehe: Warren Schiff: The Influence of the German Armed Forces and War Industry on Argentina, 1880–1914, in: The Hispanic American Historical Review, Jg. 52 (1972), Nr. 3, S. 436–455.
  • 3. Stefan Rinke: "Der letzte freie Kontinent": Deutsche Lateinamerikapolitik im Zeichen transnationaler Beziehungen, 1918–1933, Band 2, Stuttgart: Akademischer Verlag Stuttgart 1996, S. 618.
  • 4. Eleanor Hancock: Ernst Röhm versus General Hans Kundt in Bolivia, 1929—30? The Curious Incident, in: Journal of Contemporary History, Jg. 47 (2012), Nr. 4, S. 691–708 (hier: S. 692).
  • 5. Ebenda.
  • 6. Ebenda, S. 693.
  • 7. Rinke: "Der letzte freie Kontinent", S. 622.
  • 8. Andre Gunder Frank: ReOrient – Globalwirtschaft im Asiatischen Zeitalter, Wien 2016, S. 212.
  • 9. Kenneth D. Lehman: Bolivia and the United States – A Limited Partnership, Athens 1999, S. 66.
  • 10. Rinke: "Der letzte freie Kontinent", S. 622
  • 11. Ebenda, S. 622–623
  • 12. Andrew J. Crozier: The Colonial Question in Stresemann‘s Locarno Policy, in: The International History Review, Jg. 4 (1982), Nr. 1, S. 37–54.
  • 13. Rinke: "Der letzte freie Kontinent", S. 627.
  • 14. Ebenda, S. 631.
  • 15. James M. Malloy: Bolivia – The Uncompleted Revolution, Pittsburgh: University of Pittsburgh Press 1970, S. 65.
  • 16. Hancock: Ernst Röhm versus General Hans Kundt in Bolivia, 1929—30?, S. 692.
  • 17. Andreas Dornheim: Röhms Mann fürs Ausland – Politik und Ermordung des SA-Agenten Georg Bell, Münster 1998, S. 262Fn466. Hier abrufbar.
  • 18. Hancock: Ernst Röhm versus General Hans Kundt in Bolivia, 1929—30?, S. 692
  • 19. Kurt Gossweiler: Der Putsch, der keiner war: Die Röhm-Affäre 1934 und der Richtungskampf im deutschen Faschismus, Köln 2009.
  • 20. Hancock: Ernst Röhm versus General Hans Kundt in Bolivia, 1929—30?, S. 706Fn44.
  • 21. Hancock: Ernst Röhm versus General Hans Kundt in Bolivia, 1929—30, S. 707.