Kolumbien: "Der Streik hört nicht auf "

Carlos Aznárez vom argentinischen Portal Resumen Latinoamericano sprach mit Jimmy Moreno, einem Sprecher des Volkskongresses, über die aktuellen Kämpfe in Kolumbien

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Junge Leute der "Primera Linea" in Cali bringen ihre Forderungen vor
Junge Leute der "Primera Linea" in Cali bringen ihre Forderungen vor

Um über die aktuelle Situation und die künftige Entwicklung zu reden, haben wir einen Sprecher des Volkskongresses (Congreso de los Pueblos) 1, Jimmy Moreno, interviewt. Er ist ein authentischer Vertreter einer Jugend, die sich nicht zurückzieht und weiter jeden Tag auf den Straßen des Landes kämpft.

Was sind die wesentlichen Gründe, warum das kolumbianische Volk kämpft?

Kolumbien ist historisch gesehen in einem sozialen und bewaffneten Konflikt versunken gewesen, der die soziale und politische Bewegung und das Volk allgemein in ständige Mobilisierung versetzt hat, um seine Rechte zu verteidigen und vom Staat die Erfüllung von Vereinbarungen und aufgeschobenen Forderungen zu verlangen. Seit 2010 befinden wir uns in einer Dynamik wachsender Kämpfe der sozialen Bewegungen. Seit damals begann die Bewegung der Bauern, der Indigenen, der Afrokolumbianer, sowie studentischer, gewerkschaftlicher und sozialer Sektoren zu entstehen.

Danach gab es eine ganze Reihe von Verhandlungsprozessen, die 2016 mit dem Abkommen mit der Farc-Ep-Guerilla endeten.

In den Jahren seit 2016 ist der Krieg gegen die sozialen Bewegungen eskaliert. Ein Krieg, der den Tod von mehr als 1.000 Menschenrechtlern, mehr als 230 Unterzeichnern des Friedensabkommens2 und über 200 vom kolumbianischen Staat juristisch verfolgte Führungspersönlichkeiten bedeutet hat.

Auf der anderen Seite haben sich die neoliberale Politik, Steuerreformen, die Privatisierung des Gesundheits- und Bildungswesens, die zunehmende Militarisierung der Territorien und die Rolle Kolumbiens als Speerspitze gegen progressive Regierungen und Volkskämpfe im Rahmen der Außenpolitik der USA vertieft; und aktuell erleben wir die Einmischung gegen unser bolivarisches Brudervolk in Venezuela.

Im Jahr 2019 gab es eine große Mobilisierungswelle; und auch wenn später die Pandemie aufkam und sie verlangsamt hat, so verschärfte sich die soziale Krise in die Gesundheitssituation, die wir in der Welt sehen. Diese Regierung nutzt die Gelegenheit, per Dekret zu regieren und vertieft so ihr Modell, vertieft die Spaltung, verstärkt die extraktivistische Politik und verschärft die Militarisierung der Territorien und die staatlichen Praktiken des Völkermordes.

Die Organisation und Entschlossenheit, mit der sich alle Sektoren des Volkes bewegen, wenn es darum geht, gegen eine staatliche Maßnahme zu kämpfen, erregt Aufsehen. Vor allem wenn man bedenkt, dass niemand weiß, wann dieser Kampf endet. Es gibt eine schlagkräftige Parole, die besagt: "Der Streik hört nicht auf."

In diesem Sinne haben wir im April zu einem nationalen Streik der Gewerkschaften, der sozialen Bewegungen und des Volkes im Allgemeinen aufgerufen, bei dem es eine massenafte Beteiligung gab, trotz der Einschränkungen, die die Regierung machen will, um soziale und politische Kontrolle auszüben; trotz des Versuchs, die Mobilisierungen mit Hilfe von Gerichtsurteilen zu stoppen und trotz der Drohungen gegen diejenigen, die die Würde des Volkes verteidigen.

Der landesweite Streik in Kolumbien ist in vollem Gange und findet in verschiedenen Städten des Landes statt, wie in Valle de Cauca, und er ist vor allem in Cali enorm, das weiterhin starken und würdigen Widerstand leistet. Auch im Cauca mit den Aktivitäten der Bauernbewegungen, und seit Montag auch der indigenen Bewegung und der Transportarbeiter. Ein weiterer Punkt ist der Chocó, wo die indigenen und afrokolumbianischen Bewegungen der Region Straßen blockieren. In Zentralkolumbien leistet das Volk seit dem 28. April Widerstand.

Und daher hat Duque beschlossen, den Staatsterrorismus auszuweiten. Wir haben gesehen, dass der Kampf jeden Tag an Umfang zunimmt. Die nationale Regierung hat dazu aufgerufen, die Städte zu militarisieren und hat keine politische Antwort auf das gegeben, was das Volk in den politischen Aktionen des nationalen Streiks gefordert hat.

Heute sprechen wir von etwa 30 Morden durch die nationale Polizei. Viele Menschen wurden verhaftet, mehr als 500, es gab viele Razzien, es gab Fälle von sexueller Gewalt durch die Polizei in den Haftanstalten, viele Angriffe auf Menschenrechtsverteidigerinnen und es gibt etwa 18 Genossinnen und Genossen, die Augenverletzungen erlitten haben. Auch hier sehen wir Polizeibrutalität durch die Mobile Anti-Aufruhr-Einheit (Escuadrón Móvil Antidisturbios, Esmad)3.

Infolge dieses landesweiten Streiks hat die Regierung die Steuerreform zurückgezogen, die mehr Steuern für die Armen und mehr Vorteile für die Reichen vorsah. Es ist ein Sieg, das kolumbianische Volk bleibt auf der Straße. Der Finanzminister mit seinem gesamten Team ist zurückgetreten, weil die Rücknahme der Steuerreform eine Niederlage für die nationale Regierung ist.

Aber wir sagen: "Der Streik hört nicht auf ". Der Streik wird weitergehen, weil wir es mit einer schlechten Regierung zu tun haben, einer korrupten, kriminellen Regierung, die nicht auf die Leute hört und weiter das verstärken will, was wir "Duques Mogelpackung" nennen. Damit beabsichtigt er, die Privatisierung des Gesundheitswesens, die Militarisierung, die Kriminalisierung mittels der Justiz und die brutale Repression fortzusetzen und möglicherweise eine weitere Steuerreform zu präsentieren. Wir fordern die Auflösung der Esmad.

Wir informieren Unser Amerika als Ganzes darüber, dass das Volk weiter kämpft, dass es würdevoll und im Widerstand bleibt. Unsere Losung als soziale und politische Bewegung ist, mit dem Volk zu sein und den Rücktritt dieser schlechten Regierung zu fordern. Denn das Volk versteht, dass diese nur für die Reichen regiert und dass wir, die Armen, Vorschläge in Form von Alternativen der Volksmacht haben.

Die Regierung tut jetzt auf der einen Seite so, als würde sie die Maßnahmen, die sie ergreifen wollte, zurücknehmen, was eindeutig ein Sieg des Volkes ist. Angesichts dessen zu sagen, "Der Streik hört nicht auf", oder "Wir wollen, dass die schlechte Regierung geht" – glaubst du, dass die Organisationen und das Volk noch Kraft haben, den Einsatz zu erhöhen und mehr zu fordern? Das heißt, zu verlangen, dass Duque geht?

Sagen wir es so: Wenn wir nach unserer Lesart gehen, sehen wir, dass die Regierung Angst hat; wenn sie militärische Unterstützung auf die Straßen ruft, dann deshalb, weil sie nicht in der Lage ist, diese Dynamik der Mobilisierung, die im Land stattfindet, aufzuhalten, und deshalb wollen sie durch Angst und Repression den Protest und den nationalen Streik unterdrücken. Aber Pech für die Regierung: Die Würde des Volkes, wenn es sich erhebt, ist unerschütterlich. In dem Sinne haben sich in dieser Woche noch weitere Sektoren angeschlossen, die verstanden haben, dass dies der Moment der Einheit und der Bündelung der sozialen Kämpfe ist.

Deshalb hat sich die indigene Bewegung dem Streik angeschlossen. Auch die Transportarbeiter, die Taxifahrer und die Bauernbewegungen und die stärker organisierten Sektoren wie das Nationale Streikkomitee. Wichtig scheint uns die Kraft, der Kampfeswille, den die Menschen haben, dass sie trotz der Repression weiter auf die Straße gehen. Sie erteilen uns eine wichtige Lektion: Wenn das Volk spricht und sich erhebt, müssen wir da sein und diese Ebenen des Kampfes verstärken.

Es gibt einen landesweiten fortdauernden Streik und die Menschen werden nicht zulassen, dass sie weiterhin schlecht behandelt werden. Das Volk wird weiterhin die politischen Losungen erheben, "Weg mit Duque", "Weg mit der schlechten Regierung" und auch "Schluss mit der neoliberalen Politik", die diejenigen Sektoren verarmt hat, die heute marginalisiert und arm sind. Der Geist der jugendlichen und studentischen Kräfte und der territorialen Kräfte der Sektoren, die seit Jahren unter diesem Modell leiden, tragen die Fahnen und sind die Vorhut der sozialen Kämpfe.

Zweifellos war das kolumbianische Regierungssystem bei der Unterdrückung der Forderungen des Volkes schon immer sehr gewalttätig. Aber wenn man Bilder sieht, wie Polizei und Militär in diesen Tagen gehandelt haben, ist klar, dass es eine Entschlossenheit gibt, zu verletzen und zu töten, und das mit absoluter Straffreiheit. Was glaubst du, warum ein Großteil dieser staatlichen Gewalt am stärksten auf Cali konzentriert war?

Weil der Streik in Cali und im gesamten Departamento Valle am stärksten ist, weil die Leute vom Zentrum aus Verbindungsstraßen nach Cauca blockieren und die Regierung nicht zulassen kann, dass der Streik stärker wird. Angesichts des Charakters dieses Regierungssystems, das kriminell ist, das militaristisch ist, das militärische Gewalt mit aller Macht anwendet, hat der Präsident also den Aufruf gemacht, "Leute zu töten", ganz direkt, indem er die Armee auf die Straße schickte.

So erleben wir, wie die Armee in diesen Tage, wo die Mobilisierung auf den Straßen anhielt, mit Gewehren auf das mobilisierte Volk schoss oder es aus Hubschraubern bombardierte. Der kolumbianische Staat will Angst verbreiten und die Dynamik der Mobilisierung eindämmen, denn er weiß, dass sie auf das ganze Land ausstrahlen wird.

Deshalb hat es in Städten wie Cali, Manizales, Popayán, Pereira, Bogotá und Medellín Tage mit starken Kämpfen und auch viel Repression gegeben. Ironischerweise handelt es sich dabei um Departamentos, die zumeist von ‒ in Anführungszeichen ‒ alternativen Regierungen regiert werden, wie es in Cali, Bogotá und Medellín der Fall ist. Aber offensichtlich sind diese auf die nationale Linie der Stigmatisierung und Kriminalisierung von sozialem Protest und dem militärischen Vorgehen dagegen, das schon immer angewandt wurde, ausgerichtet.

Wie haben sich im Kontext des nationalen Streiks die Gewerkschaftsverbände verhalten?

Es wurde viel Druck ausgeübt. Auf Seiten der Gewerkschaftsbewegung gibt es viele verschiedene Ansichten darüber, wie dieser nationale Streik durchgeführt werden sollte. Bezüglich des 1. Mai gab es Diskussionen, weil es Sektoren gab, die zu virtuellen Märschen aufriefen, während das Volk dazu aufforderte, auf die Straße zu gehen und den nationalen Streik aufrechtzuerhalten. Deshalb bestehen wir weiterhin darauf, dass die organisierten Sektoren wie die sozialen und gewerkschaftlichen Bewegungen mit dem Volk zusammen sein und den Kampf in der Auseinandersetzung suchen müssem. Darin bestand die Dynamik des nationalen Streiks.

Ein großer Teil der Gewerkschaftsbewegung dieses klassenbewussten Sektors, der mit dem Volk zusammen ist, hat zusammen mit den Leuten in den Städten gekämpft. Wir glauben, dass die Menschen selbst die organisierten Sektoren dazu bringen, sich auf irgendeine Art dem permanenten Streik anzuschließen, weil sie verstehen, dass wir heute in Kolumbien einen ganz besonderen Moment erleben, in dem wir dazu übergehen können, die Staatskrise zu vertiefen und einen anderen Vorschlag für das Land zu präsentieren.

Wir haben in den Straßen Kolumbiens ein Phänomen gesehen, das auch in Chile bei der Revolte gegen Sebastián Piñera aufgetreten ist: Tausende von jungen und sehr entschlossenen Menschen. Im Fall Chile ist die rebellierende Jugend durch ihren Überdruss und ihre Ablehnung der bürgerlichen Politik, der traditionellen Politiker, einschließlich derer der Linken, gekennzeichnet  dieser furchtsamen Linken, die auf ein Pöstchen oder einen Sitz im Parlament spekuliert. Ist das in Kolumbien auch so?

In der Tat besteht diese große Masse aus jungen Leuten, die sich gegen jene apathischen Politiker und gegen die Art der Gestaltung der Politik, insbesondere diese Wahlpolitik und diese liberale Demokratie richten. Es sind junge Menschen, die unter den Auswirkungen dieser Politik zu leiden hatten, und es sind junge Menschen, denen die Hoffnung im Leben genommen wurde, weil es keine Möglichkeit für Arbeit, keine Möglichkeit zum Studium, keine Aussicht auf eine angemessene Rente gibt. In diesem Sinne sind sie die Hoffnung unseres Landes und haben verstanden, dass man auf der Straße seine Rechte einfordern muss und nicht zulassen darf, dass sie einem weiterhin von den politischen Parteien und den verschiedenen Regierungen, sowohl auf lokaler als auch auf nationaler Ebene, weggenommen werden.

Was das betrifft, glauben wir, dass wir eine Vorstellung entwickelt haben, dass der Kampf bei Wahlen, die Ausübung des Regierungsamtes selbst, ein Weg ist, der es uns erlauben wird, bei Veränderungen voranzukommen. Aber jetzt, in diesem Moment, läuft das über den Aufbau von Mechanismen der Volksmacht, wo die Völker im Hinblick auf souveräne Projekte vorankommen und eine andere Vision des Landes aufbauen können. Ein Rahmen, in dem wir alle Sektoren und alle Völker anerkennen, die historisch von diesem Regierungssystem niedergemacht wurden. Ich denke, es ist sehr wichtig, dass dieser Kampf und dieser nationale Streik uns ermöglichen, das mobilisierte Volk zu organisieren und zu politisieren, um das hervorzubringen, was wir vom Congreso de los Pueblos als den Aufbau der Volksmacht und unserer eigenen Regierungsformen bezeichnet haben.

Ich würde dir gerne diesen Raum anbieten, damit du einen Aufruf machen und sagen kannst, dass diese kolumbianische Volksbewegung, die heute auf den Straßen kämpft, internationale Solidarität braucht.

Es ist wichtig für diesen Moment in Kolumbien, sagen und zum Ausdruck bringen zu können, welche Rolle die internationale Gemeinschaft, die lateinamerikanischen Völker, die sozialen Bewegungen, mit denen wir uns verbünden, spielen können. Es ist notwendig, die Repression und diese Situation des Staatsterrorismus, des Völkermordes, die in unserem Land stattfindet, sichtbar zu machen und auch die Vorschläge und Forderungen, die im Rahmen des nationalen Streiks gemacht wurden. Wir glauben, dass Solidarität zwar ein wichtiges Element ist, aber wir rufen auch zur Einheit in der Aktion auf.

Was in Kolumbien und in den Kämpfen der Region geschieht, sind Probleme, die alle Länder und alle Völker teilen. Es ist der Moment zu schauen, wie wir unsere Kämpfe gegen dieses Imperium, gegen dieses Modell, gegen diese Militarisierung, die jeden Tag in unseren Ländern stärker wird, gegen die Repression, die wir jeden Tag erleben, organisieren können. Wir müssen diesen popularen Internationalismus weiter verstärken, der sich im Kampf, in der Einheit der Aktion und in den Möglichkeiten ausdrückt, nicht nur an ein Kolumbien unter einem Projekt der Würde und des guten Lebens zu denken, sondern der auch Lateinamerika in einem Kampf vereint, der unsere Völker zusammenführt und danach strebt, einen Kontinent für die Würde unserer Völker aufzubauen.

Wir rufen dazu auf und bringen zunächst unsere Dankbarkeit für die Solidaritätsbekundungen unserer Brudervölker gegenüber unserem Land zum Ausdruck. Dafür bedanken wir uns und hoffen, dass dies auch weiterhin geschehen wird und dass wir zusammen diesen gemeinsamen Feind sehen können, den wir in all unseren Ländern haben.

5. Mai 2021

  • 1. Landesweites Netzwerk von Basisorganisationen in Kolumbien
  • 2. Als "Unterzeichner des Friedensabkommens" werden alle ehemaligen Angehörigen der Farc-EP-Guerilla bezeichnet, die den 2016 mit der kolumbianischen Regierung geschlossenen Friedensvertrag unterstützen, demobilisiert sind und sich an den Wiedereingliederungsprogrammen in das Zivilleben beteiligen
  • 3. Zahlen vom 7. Mai der NGOs Temblores und Indepaz: 47 Tote, zwölf Opfer von sexueller Gewalt durch staatliche Sicherheitskräfte, 28 Menschen mit Augenverletzungen, 548 Verschwundene sowie 1.956 Fälle von Polizeigewalt