Kolumbien: "Wir bleiben 'Blauschilde' bis sich die Dinge ändern"

Colombia Informa sprach mit Mitgliedern des politischen Selbstverteidigungskollektivs "Escudos Azules"

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Als politisches Kollektiv aktiv für die Selbstverteidigung gegen Polizeigewalt: Die Escudos Azules in Kolumbien
Als politisches Kollektiv aktiv für die Selbstverteidigung gegen Polizeigewalt: Die Escudos Azules in Kolumbien

Am 24. Februar fand in Kolumbien der Tag gegen Polizeigewalt statt. Bei einer der Demonstrationen in Bogotá schoss die Esmad [Spezialeinheit zur Aufstandsbekämpfung] direkt auf das Auge von Gareth Steven Sella, der als "Escudo Azul" an den Protesten teilnahm. Gareth verlor sein linkes Auge. Medienkonzerne und Social-Media-Plattformen versuchten, den Angriff zu legitimieren, indem sie Gareths Mitgliedschaft im Kollektiv Escudos Azules (Blauschilde) hervorhoben.

Colombia Informa sprach mit den Escudos Azules, um zu verstehen, welches politische Interesse die Menschen, sie sich hinter den Schildern organisiert haben und wiederholt als "Extremisten" und "Randalierer" bezeichnet wurden, in Wirklichkeit verfolgen.

Wer sind die Escudos Azules und wie sind sie entstanden?

Escudos Azules ist eine Gruppe, die im Rahmen des sozialen Aufstands kurz vor dem 21. November 2019 entstanden ist. In dieser Zeit fanden all die Kämpfe in den Bereichen Bildung, Landwirtschaft und Land statt, die zusammen mit den Gewerkschaftsverbänden auf einen großen landesdweiten Streik rausliefen.

Wir haben uns als lose Gruppe zusammengefunden, als kleine Ausdrücke der Wut gegen die Brutalität der Polizei, die wir bei den Demonstrationen des 21. Novembers (21N) und auch später erlebt haben, nach dem Mord an Dilan Cruz.

Bezüge waren für uns die Ereignisse in Ländern wie Hong Kong, Chile und Frankreich, in dem Sinn, den Protest zu verteidigen als eine wirkungsvolle Methode des Dialogs mit der Regierung und der Forderungen, die wir als Volk aufstellen. So haben wir uns einerseits zusammengeschlossen, um die Demonstrierenden zu schützen, aber auch um eine Perspektive zu entwickeln, die über eine konfrontative Gruppe der "ersten Reihe" (primera línea) hinausgeht.

Wie hat die kolumbianische Gesellschaft eurem Eindruck nach auf diesen Ansatz der Organisation reagiert?

Das haben wir als sehr komplexen Prozess wahrgenommen. Nachdem wir zum ersten Mal in Erscheinung getreten sind (am 4. Dezember 2019) sagte der Polizeichef General Óscar Atehortúa, dass wir ein paar extremistische Randalierer seien, die vom [linksgerichteten] Forum von São Paulo finanziert würden, um gewalttätige Aktionen gegen die Polizei zu organisieren und die nationale politische Ordnung zu destabilisieren.

Die Frage ist, wie das Vorgehen von Jugendlichen, die sich organisieren und das Gesicht verhüllen, als legitim angesehen werden kann? In diesem Land ist das eine schreckliche Sache, denn es erinnert an die Guerilla. Trotzdem denken wir, dass wir in manchen Gesellschaftsbereichen, einigen politischen Gruppen und aktivistischen Zusammenhängen nach und nach positiv aufgenommen wurden. Das kommt durch die Aktionen, die wir durchgeführt haben, um den Protest zu schützen sowie durch unseren Einsatz für viele Anliegen der sozialen Bewegung, wie etwa die Menschenrechte, die Verbindung zur Bewegung für Wohnraum.

Außerdem sind wir uns bewusst, dass auch die Polizei Teil der Gesellschaft ist, auch wenn sie ein Kontrollorgan ist. Viele von denen, die das Handeln der Polizei und der Einsatzkräfte verteidigen, haben unseren Vorschlag mit enormer Gewalttätigkeit, Brutalität und Feindseligkeit aufgenommen, denn er wirft einen Berg an Fragen auf, Dinge, an die sie nicht gewöhnt sind. Wir wollen, dass Polizeikräfte beobachtet werden, dass sie angezeigt werden, wenn sie eine Straftat begehen.

Und schließlich machen wir nichts Illegales, wie verüben kein Verbrechen, wie sind keine Straftäter. Der einzige Weg, um an uns heranzukommen, ist, uns mit falschen Anklagen zu traktieren, gefälschte Beweise, Attacken direkt ins Gesicht und auf die Augen. Drei Mitglieder unseres Kollektivs haben bereits ein Auge verloren, darüber wird nicht viel gesprochen.

Nach dem 21N haben der Staat und seine verschiedenen Kontrollorgane mit einer justiziellen Strategie auf die Escudos Azules reagiert. Wie habt ihr diese Entwicklung erlebt?

Von Anfang an haben wir Strategien der Einschüchterung, Verfolgung, Schikane, Prozesse und Bedrohungen erlebt, alles nur Vorstellbare, was soziale Bewegungen in diesem Land erleiden müssen.

Dank großer Unterstützung und verbündeter Organisationen haben wir die Pläne der Infiltrierung, Ermittlungen und juristischer Verfolgung aufgedeckt. Es reicht schon, sich das Rundschreiben anzuschauen, dass am 22. Februar von der Direktion für Strafrechtliche Ermittlung und Interpol [Dijin] herausgegeben wurde, nachdem wir uns entschieden hatten, die Mobilisierung zu begleiten..

Uns ist klar, dass wir verfolgt werden, dass umfangreiche Ermittlungs- und Überwachungsverfahren gegen uns laufen. Die Kommunikation zwischen den Mitgliedern der Gruppe und ihren Familien wird unterbrochen, oft berichten Frauen unserer Gruppe davon, dass sie sich verfolgt fühlen, dass es Männer gibt, die sie im öffentlichen Nahverkehr verfolgen.

Dazu kommt die Stigmatisierung. Sowohl Claudia López [Bürgermeisterin von Bogotá], als auch die Polizei sagen, dass wir Vandalen und radikale Rebellen sind, daher wissen wir, dass das ganz offensichtlich von oben kommt, und daraus leitet sich eine starke Stigmatisierung durch die Presse ab. Sie sind es, die diese Informationen des Staates wiederholen.

Wie hat diese Stigmatisierung euren Prozess in den Mobilisierungen beeinflusst?

Jetzt wird zum Beispiel gesagt, dass es schon einen Grund gegeben habe, weshalb Gareth das Auge verloren hat. Weil er sich umgezogen habe, weil sie ihn umgezogen vorgefunden hätten, in anderer Kleidung als bei der Demonstration. Es war offensichtlich, dass sie ihn verfolgen und verhaften würden, warum also sollte er sich nicht die Kleidung ausziehen, die er getragen hat.

Bei den Protestzügen im August und Juni 2020 haben wir einige Escudos Azules folgendermaßen verloren: Die [Spezialeinheit zur Aufstandsbekämpfung] Esmad und andere verfügbaren Kräfte haben sie mit auf die Polizeistation Teusaquillo genommen. Durch ein Frühwarnsystem, das wir gemeinsam mit dem Kongress der Völker [Congreso de los Pueblos] organisiert haben, wussten wir, dass sie ein juristisches Konstrukt vorbereiteten. Sie riefen nämlich zu Protestmärschen zu anderen Orten und andere Stadtteile auf, zu denen wir logischerweise nicht aufgerufen hatten.

Das sind keine harmlosen Bedrohungen. Wir sind uns bewusst, dass unsere Leben in Gefahr sind, weil wir junge Leute sind, die anders denken, weil wir versuchen, mit unserer politischen Ausdrucksweise und unserem Ansatz schlagkräftig zu sein, weil wir handeln, weil wir auf die Straße gehen, weil wir Bewusstsein wecken.

Was schlagt ihr vor, um weiterhin Escudos Azules zu sein?

Als Blauschilde haben wir uns zusammengeschlossen und wir bestehen weiterhin als eine Gruppe fort, die immer darüber nachdenkt, sich auszuweiten und nicht mehr als erste Reihe zu existieren. Uns ist klar, dass das Konzept der ersten Reihe die gesamte Bevölkerung umfasst, die ganze Bürgerschaft, die auf die Straße stürzt, um ihre Rechte gelten zu machen. Daher schlagen wir vor, die soziale Mobilisierung weiter voranzutreiben. Das ist der Weg, der uns bleibt, um unsere Rechte einzufordern. Weiterhin pädagogische, populare, störende, konfrontative, alternative Räume zu schaffen, sei es im Transmilenio [öffentlicher Nahverkehr], auf der Straße oder an irgendeinem anderen Ort, wo wir den Menschen sagen, was in diesem Land vor sich sich geht.

All den Kugeln und den verloren Augen zum Trotz, ist es auch die Unterstützung der gesamten sozialen Bewegung, auf nationaler und internationaler Ebene, die von grundlegender Bedeutung ist, wenn eine einzelne Bewegung stigmatisiert wird.

Wenn das Leben von einem von uns in Gefahr ist, wenn das Auge von einem von uns verloren ist, wissen wir, dass wir in diesem Moment zusammenbleiben und am Leben bleiben müssen, wie [die indigenen Selbstverteidigungseinheiten] Guardia Indígena sagen.

Wir bleiben Escudos Azules, bis sich die Dinge ändern – und das wird noch lange dauern. Die Vorschläge bleiben bestehen, die politische Struktur bleibt bestehen. Wir sind hier für die Kämpfe des Volkes, die gewonnen werden, indem die Rechte auf der Straße geltend gemacht werden.

Wie bewertet ihr den Zusammenhang zwischen der Warnmeldung, die die Dijin am 22. Februar erließ, und dem Angriff auf Gareth Steven Sella?

Vor der Mobilisierung haben wir einen Videoaufruf an die Bevölkerung gerichtet. Darin erscheinen zwei Mitstreiterinnen und ein Mitstreiter, die einfach nur eine klare, überzeugende und wahrheitsgemäße Aussage über die Zahlen des polizeilichen Missbrauchs in Kolumbien treffen. Sie schützen dabei ihre Identität mit Kapuzen und anderen geeigneten Mitteln.

Mit polizeilichem Missbrauch sind in diesem Video die Ermordung von Jugendlichen, die strukturelle und systematische Gewalt gegen Frauen sowie die ausufernde Straflosigkeit gemeint. Letztere geht Hand in Hand mit den Institutionen, die die Polizei schützen, wie die Militärstrafjustiz.

Jenes Video, das eine anarchistische, rebellische Ästhetik beinhaltet, wollen sie als eine Todesdrohung darstellen.

Es war der Ausgangspunkt für das Rundschreiben der Dijin, eine Gefahrenwarnung, worin sie einen Screenshot des Videos verbreiteten, das wir vor dem 24. Februar aufgenommen und veröffentlicht haben. Sie sagen darin, dass die radikale und extremistische Gruppe Escudos Azules zu einem Akt aufruft, damit die gewalttätigen Mobilisierungen in Bogotá wiederaufleben, wie damals im September, und damit es in ganz Bogotá zu Vandalismus und gewalttätigem Protest kommt.

Diese Warnmeldung der Dijin und der Aufruf zu maximaler Bereitschaft von Militär und Polizei lassen darauf schließen, dass sie eine sichere Anklage im Sinn hatten. Darauf waren wir vorbereitet, aber nicht darauf, dass sie statt einer strafrechtlicher Verfolgung auf eine einzige Person losgehen und ihr das Augenlicht nehmen würden.

Es muss gesagt werden, dass die Nachforschungen der Dijin in unseren Bereichen normal geworden sind. Wir wissen, dass wir kontinuierlich überwacht werden und genau aus diesem Grund versuchen wir, die Dinge auf die bestmögliche Art und Weise zu machen. Letztendlich geht es darum, uns zu glauben, dass wir sind, wer wir sind: Menschen, Revolutionärinnen, Berufstätige, Studierende und Unabhängige, die auf die Straße gehen, um für Gerechtigkeit zu kämpfen. Ob wir uns vermummen oder nicht, das gibt keiner Person das Recht, uns als Verbrecher:innen zu bezeichnen.

Wie ordnet ihr ein, was im Rahmen der Verfolgungsstrategie vorgefallen ist, die ihr eben erwähnt habt?

Wir denken, dass sich die ganze Sache auf eine nationale Anordnung zurückführen lässt, die die gesamte soziale Bewegung auslöschen will, sei es in den Städten oder auf dem Land. Sie fürchten sich vor einer Bewegung, die Bewusstsein in der breiten Bevölkerung schafft und einen Samen der Hoffnung in die Herzen der Menschen pflanzt, dass es anders sein könnte, dass dieses Kolumbien unser Land ist, dasjenige, in dem wir uns lieben, hart arbeiten, das Leben lieben und unsere Brüder und Schwestern überall respektieren.

Die Regierung, die Polizei, dieses ganze System hängen an einem seidenen Faden. Nicht nur aufgrund der Unfähigkeit des Präsidenten, ein Land zu führen, sondern auch weil die Leute es satt haben und den Hunger und den Tod nicht mehr ertragen können.

Gareth ist unser Bruder, dem nicht einfach das Gesicht verstümmelt werden darf. Jetzt geht es um die Frage, wie wir gemeinsam die Träume umsetzten können, die er von Anfang an hatte. Wir gehen mit ihm bis zum Ende. Wir wissen, dass sie Angst haben, dass die Regierung Angst vor uns hat, und das ist das einzige, was uns in so schwierigen Momenten einen Anflug von Genugtuung gibt.

Wozu ruft ihr die Gesellschaft auf?

Wir rufen dazu auf, dass wir uns ein bisschen schämen: Nur, weil wir immer bei allem die Letzten sind, müssen wir nicht auch als Letzte protestieren und laut werden. Nur, weil wir in den Bereichen Bildung, Lebensqualität, Impfstofflieferungen die Letzten sind, müssen wir uns nicht an das Schlechteste gewöhnen.

Das Leben in diesem Land ist gut, irgendwann wird es blühend und sehr sicher, erhebend und zufriedenstellend für alle sein, aber wir müssen die Augenbinde des Individualismus ablegen und die Augen für die Empathie öffnen.

Es kann nicht sein, dass Jugendliche weiterhin auf den Straßen sterben, weil die Polizei sie erschießt.

Also rufen wir die Bürgerschaft dazu auf, dass sie daran glaubt, dass sich die Dinge wirklich ändern lassen, dass es ohne Kämpfe keine Siege gibt und dass hier das legitime Recht auf Protest verletzt und auf die unmenschlichste Art mit Füßen getreten wird, mit Gewalt und einer ausgefeilten Systematik. Hier in der Stadt sehen wir, dass sie uns die ganze Zeit schlagen, aber in den ländlichen Regionen töten sie die Menschen.

Wollen wir uns daran gewöhnen? An den Tod, den Schmerz, die Angst, die Beklemmung, die Hoffnungslosigkeit, an das: "Ich gehe hier weg, denn es lässt sich sowieso nichts mehr ausrichten"? Oder werden wir anfangen zu kämpfen?

Wie zum Teufel können wir unsere Rechte geltend machen, wenn wir nicht aufstehen, um sie zu erlangen? Wie können wir erwarten, dass wir vom Bett aus, vom Sessel aus, Siege für uns erreichen werden? Wie können wir erwarten, dass sie unseren Lohn erhöhen, dass sie damit aufhören, Führungspersönlichkeiten zu ermorden, wenn wir nicht auf die Straße gehen und laut werden?

Heute weinen wir um Gareth, doch wir weinen auch um Daniela, um Miguel Ángel. Sie haben ebenfalls ihre Augen verloren, und kein Mensch hat etwas davon mitbekommen, weil es weder in der Zeitung noch im Radio kam, weil schon der Dezember anfing, das Fest, wen interessiert es da, dass sie zwei jungen Leuten die Augen genommen haben.

Wir laden dazu ein, unsere Angst zu überwinden, aber auch die Teilnahmslosigkeit und das Desinteresse gegenüber dem Anderen. Es kann nicht sein, dass wir Kolumbianer uns untereinander nicht verteidigen wollen.