Bolivien / Politik

Jeanine Áñez im Gefängnis: Beweise für den Putsch in Bolivien

Die strafrechtliche Verfolgung hat auch die höchsten Positionen erreicht. Ein juristisch korrektes und im Urteil exemplarisches Ergebnis ist von großer Bedeutung für die gesamte Region

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Jeanine Añez wurde nach ihrer Festnahme in Beni nach La Paz überstellt
Jeanine Añez wurde nach ihrer Festnahme in Beni nach La Paz überstellt

Das Foto, das Jeanine Áñez buchstäblich hinter Gittern zeigt und auf dem deutlich die Inschrift "Frauengefängnis" zu sehen ist, ging rasch um die Welt und zeitigte innerhalb und außerhalb Boliviens große Wirkung. Die Ex-de-facto-Präsidentin wurde am 13. März in ihrem Haus in Trinidad, Hauptstadt des Amazonasdepartamentos Beni, festgenommen und sitzt wegen ihrer Verantwortung beim Staatsstreich im November 2019 zunächst für sechs Monate in Untersuchungshaft.

Zwei ihrer ehemaligen Minister (für weitere drei sind Haftbefehle ausgestellt, sie befinden sich aber außer Landes) und sechs ehemalige Militär- und Polizeikommandeure wurden ebenfalls inhaftiert. Ihnen allen wird im Rahmen der von der ehemaligen MAS-Abgeordneten Lidia Paty eingereichten und jetzt von der Generalstaatsanwaltschaft vorangetriebenen Mega-Anklage "Staatsstreich" Verschwörung, Aufruhr und Terrorismus zur Last gelegt.

Der plötzliche juristische Vorstoß drängte alle die Akteure in die Defensive, die Teil des Putsches waren oder sich ihm angeschlossen haben. In Bolivien selber begannen wieder die Kundgebungen der in den Bürgerkomitees von Santa Cruz, Cochabamba und La Paz zusammengeschlossenen Sektoren der städtischen Mittelschicht. Außerhalb meldeten sich die üblichen Protagonisten zu Wort: Der Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), Luis Almagro, brachte seine "Besorgnis angesichts des Missbrauchs juristischer Mechanismen" zum Ausdruck, "die erneut zu Unterdrückungsinstrumenten der Regierungspartei geworden sind". Ebenfalls aus dem Norden nahm Jalina Porter, Sprecherin des US-Außenministeriums, den Fehdehandschuh auf: "Die Vereinigten Staaten verfolgen mit Sorge die Geschehnisse im Zusammenhang mit der kürzlichen Festnahme von ehemaligen Staatsfunktionären durch die bolivianische Regierung."

Die These von der "politischen Verfolgung", verstärkt durch die großen Medienkonsortien ("Geschichten von Rache in Bolivien und von einem Putsch, der niemals stattfand", titelte etwa Marcelo Cantelmi seine Kolumne in der argentinischen Zeitung Clarín), macht es notwendig, den Verlauf der Geschehnisse in Erinnerung zu rufen, um erneut das Offensichtliche zu verdeutlichen: dass es in der Tat einen Bruch der verfassungsmäßigen Ordnung gab und dass Áñez ihn nicht nur nutzte, sondern eine Hauptfigur in der Verschwörung war. Einige Beweise dafür sind:

- Áñez' Selbsternennung erfolgte in einer Parlamentssitzung, bei der das Anwesenheitsquorum nicht erfüllt war, nur eine Handvoll Senatoren war anwesend. Damit wurde gegen die parlamentarische Geschäftsordnung verstoßen, die besagt, dass "zur gültigen Durchführung einer Sitzung die Anwesenheit der absoluten Mehrheit der Mitglieder nötig ist".

- Ihre Nachfolge in der Präsidentschaft missachtete, was die bolivianische Verfassung festlegt. Áñez war als Vertreterin der Minderheit (ihre Partei hatte lediglich 91.855 Stimmen erhalten) die zweite Vizepräsidentin des Senats. Im Falle einer Abwesenheit des Präsidenten und des Vizepräsidenten sowie der Vorsitzenden der beiden Kammern bestimmt der Artikel 169, dass "innerhalb von höchstens 90 Tagen Neuwahlen ausgerufen werden". Áñez wurde nie zur Präsidentin des Senats gewählt; das wäre gar nicht möglich gewesen, da sie sich nur auf neun Oppositionssitze stützen konnte, gegen die 25 der Bewegung zum Sozialismus (MAS).

- Als sie ihren Amtseid ablegte, war Áñez von Militärs umringt, und die Präsidentenschärpe legte ihr der Oberkommandierende der Streitkräfte, Williams Kalimán, um.  Er hatte 72 Stunden zuvor den Rücktritt von Evo Morales gefordert. Die pompöse Teilnahme der Sicherheitskräfte, die ihre Funktionen missachteten und offen in das politische Leben des Landes eingriffen, erinnerte an die klassischen Staatsstreiche im 20. Jahrhundert.

- Die Entscheidung, die Macht gewaltsam zu übernehmen, wurde auf den Zusammenkünften am 11. und 12. November 2019 in der Katholischen Universität schöngefärbt. Daran nahmen die wichtigsten Führer der Rechten, die Botschafter der Europäischen Union sowie von Brasilien und Vertreter der Kirche teil. Parlamentarier der MAS wurden dorthin zitiert und – wie die ehemalige Abgeordnete [und Vizepräsidentin der Abgeordnetenkammer] Susana Rivero enthüllte – von Samuel Doria Medina [Großunternehmer und Oppositionspolitiker] gewarnt: "Mit Ihnen oder ohne Sie, wir haben einen Plan B." Rivero erinnerte daran, dass Áñez’ Amtsübernahme von Druck und Bedrohungen begleitet war, und dass eigentlich sie an der Reihe gewesen wäre, die Nachfolge der Präsidentschaft zu übernehmen. Dies wurde aber nicht respektiert.

- Die politische Verfolgung und Kriminalisierung, das erzwungene Exil von Morales, Álvari García Linera und Dutzenden von führenden MAS-Politikern, die Entführungen und die Brandanschläge auf Wohnungen und Häuser, die mehr als 500 willkürlichen und außergerichtlichen Verhaftungen und die 36 bei den Massakern von Senkata und Sacaba ermordeten Menschen legen Zeugnis ab von der grausamen Unterdrückung, mit der es gelang, den Staatsstreich zu konsolidieren.

Das Kolonialministerium

Die Lunte, die das Chaos entzündete und die Tür zu dem Putschmanöver öffnete, war der von der OAS 1 vorgebrachte Vorwurf des Wahlbetruges, der jedoch jeglicher Grundlage entbehrte und sich später nachweislich als falsch herausstellte. Die jetzige Positionierung von Almagro ist vollkommen schlüssig. Deshalb will die bolivianische Regierung ihn vor Gericht bringen, wie das Außenministerium ankündigte: "Herr Almagro hat nach dem enormen Schaden, den er dem bolivianischen Volk mit seiner kolonialistischen Einmischung zugefügt hat, weder die moralische noch die ethische Autorität, sich in zu Bolivien zu äußern. Seine Aktionen kosteten Menschenleben und er muss sich für sein tendenziöses, jegliche Objektivität vermissendes Verhalten verantworten."

Der Ansehensverlust Almagros wird immer größer. [Argentiniens Präsident] Alberto Fernández äußerte kürzlich in einem Fernsehinterview: "Evo Morales war Opfer eines Staatsstreichs. Die OAS war verantwortlich, und wenn er nur einen Funken Würde hätte, würde er zur Seite treten." Auch die mexikanische Regierung forderte Almagro auf, "die Einmischung in die inneren Angelegenheiten Boliviens und die Konfrontation mit einer demokratisch gewählten Regierung zu unterlassen“.

Bolivien macht den ersten Schritt, um Wahrheit und Gerechtigkeit für das jüngste Ereignis des demokratischen Bruchs in der Region zu erreichen. Áñez und ihre Truppe werden sich auch weiteren Prozessen im Zusammenhang mit den Fällen von Korruption und Unterdrückung während der 371 Tage ihrer Regierung stellen müssen.

Ein juristisch korrektes und im Urteil exemplarisches Ergebnis wird entscheidend dafür sein, dass die Losung “Nie wieder Staatsstreiche in Lateinamerika“ Wirklichkeit wird.

  • 1. Che Guevara hatte die OAS als "Kolonialministerium der USA" bezeichnet