Peru: "Denn uns haben sie nicht verschwinden lassen"

Der Angehörigenverband Anfasep kämpft für die Erinnerungsstätte in Ayacucho

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Anfasep wurde 1983 gegründet und entwickelte sich zu einer der größten Opferverbände und Menschenrechtsorganisationen während des Konflikts
Anfasep wurde 1983 gegründet und entwickelte sich zu einer der größten Opferverbände und Menschenrechtsorganisationen während des Konflikts

Die peruanische Andenprovinz Ayacucho war in den 1980er Jahren ein Hauptschauplatz des internen bewaffneten Konflikts zwischen dem maoistischen Leuchtenden Pfad und dem Militär. Die Hinterbliebenenorganisation Anfasep setzt sich seit 1983 für die Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen wie Fällen von gewaltsamem Verschwindenlassen ein, die damals an der lokalen Bevölkerung verübt wurden. Darüber und über aktuelle Konflikte um den Bau einer Gedenkstätte auf ehemaligem Militärgelände sprachen die Lateinamerika Nachrichten mit Mitgliedern des Vorstandes.

Es wurde berichtet, dass auf dem Gebiet der geplanten Erinnerungsstätte der Flughafen von Ayacucho ausgebaut werden soll. Welche Rolle spielte dieser Ort während des internen bewaffneten Konflikts?

Juana Carrión: In den 80er und 90er Jahren wurden wegen des Leuchtenden Pfads in vielen Gemeinden Militärbasen errichtet. Der Ort La Hoyada war eine Trainingsstätte der Kaserne Nummer 51, genannt Los Cabitos. Als sie die Bauern und Bäuerinnen festnahmen, wurden sie hier eingeäschert, verschwundengelassen. Wir wussten damals nicht, wo sich der letzte Aufenthaltsort unserer Verwandten befand. Als wir zu den Polizeiwachen gingen, sagten sie uns, dass sie nie verhaftet wurden.

Lidia Flores de Huamán: 1984 wurde mein Mann entführt und sie ließen ihn verschwinden. Damals trat ich Anfasep bei. Zusammen mit Angélica Mendoza de Ascarza (eine der Gründerinnen, Anm. d. Red.), deren Sohn sie im Vorjahr hatten verschwinden lassen, begannen wir mit der Suche und damit, die Fälle öffentlich zu machen. Es fanden sich Betroffene von überall zusammen. Denn uns haben sie nicht verschwinden lassen.

Mit welcher Absicht haben Sie die Organisation gegründet?

Adelina García: Wir haben die Organisation gegründet, um unsere Liebsten wiederzufinden − lebendig. Vor 37 Jahren haben wir nicht gedacht, dass sie verschwunden bleiben würden. Unser Motto war "Lebendig wurden sie uns genommen, lebendig wollen wir sie zurück". Damit sind wir damals auf die Straßen gegangen. Wir protestierten an vielen Orten, überall präsentierten wir unsere Dokumente, mit dem Ziel sie schließlich lebendig wiederzufinden. Nun sind 37 Jahre vergangen und wir suchen immer noch nach den sterblichen Überresten unserer Liebsten. 1983 gab es so viele Menschen, die verschwanden. Jeden Morgen kamen sie und holten sie aus den Häusern.

Wie lief dieses Verschwindenlassen ab?

Juana C.: Zuerst wurden sie verhaftet. Im Hauptquartier des Geheimdienstes, das damals als das "rosa Haus" bekannt war, wurden sie dann gefoltert und ermordet. Anschließend brachte man die Leichen zur Trainingsstätte.

Und sie blieben vermisst?

Juana C.: Dort hatten sie Öfen gebaut, um die Überreste zu verbrennen. Wir erfuhren erst aus dem Buch Muerte En El Pentagonito des Journalisten Ricardo Uceda, dass so viele in dieser Kaserne ermordet wurden. 2003 begann die Exhumierung, bis 2009 wurden dort 109 Leichen gefunden. Da einige in den Öfen verbrannt worden waren, war nur die eine Hälfte der Überreste vollständig, von der anderen fand man nur Teile. Dem Buch zufolge sind mehr als 500 Menschen an diesem Ort begraben, es wurden allerdings nur 109 gefunden. Doch der Staatsanwaltschaft fehlt das Geld für weitere Exhumierungen.

Haben die Angehörigen von Verschwundenen aus anderen Teilen der Region Ayacucho bei ihrer Suche mehr Erfolg gehabt?

Mila Segovia: In der Region Ayacucho fehlen viele − Tausende − Verschwundene. Viele bleiben deshalb verschwunden, weil die Täter damals bei der Folter einem bestimmten Ablauf gefolgt sind.

Für die Folter verbanden die Mitglieder der Einheit des Geheimdienstes ihren Opfern zunächst die Augen und befahlen ihnen, ihre Kleider auszuziehen. Nach der Folter, noch immer mit verbundenen Augen, sagten sie: "Zieh' deine Kleidung an!" und die Gefolterten zogen die Kleidung an, welche ihnen am nächsten lag. Verwandte erkannten nach der Exhumierung zwar die Kleidung wieder, doch die DNA-Tests waren negativ. Aus diesem Grund haben sich viele Kartons mit nicht-identifizierten Überresten bei der Staatsanwaltschaft angesammelt, etwa 800 Skelettteile.

In anderen Fällen wurden ganze Familien ausgelöscht, so dass niemand zum Identifizieren geblieben ist. Da wir nicht alle unsere Angehörigen auffinden können, wollen wir einen Friedhof bauen, auf dem diejenigen begraben werden, die bisher nicht identifiziert werden konnten. Dafür eigneten wir uns keine Freifläche an, sondern nutzen den klandestinen Friedhof, den damals die Armee errichtet hat.

Wie kommt das Projekt voran?

Mila S.: 14 Jahre lang haben wir von Anfasep dieses Landstück geschützt, um ein Sanktuarium der Erinnerung bauen zu können. Ein Teil der Fläche wurde an Angehörige des Militärs verteilt. Später, als der Ort bereits als Sanktuarium registriert war, drangen Siedler auf das Gebiet, das an den Flughafen und die Kaserne grenzt. Im Jahr 2011 haben wir gemeinsam mit anderen Menschenrechtsinstitutionen ein großes weißes Kreuz aufgestellt. Dieses Kreuz der Erinnerung soll den Ort vor Eindringlingen schützen, denn bis heute wird sich dieser Raum von einigen widerrechtlich angeeignet. Doch nun haben wir den Prozess gewonnen. Nur die Räumung steht noch aus.


Die Nationale Vereinigung von Familienangehörigen von Entführten, Verhafteten und Verschwundenen in Peru (Anfasep) wurde 1983 gegründet. Zunächst nur als Unterstützung bei der gemeinsamen Suche gedacht, entwickelte sich die Organisation schnell zu einer der größten Opferverbände und Menschenrechtsorganisationen während des Konflikts. Neben der öffentlichen Anprangerung der staatlichen Strategie des Verschwindenlassens organisierten sie eine Essensausgabe für Waisenkinder. Nach dem Konflikt wurde Anfasep zu einem zentralen Akteur in der Erinnerungskultur, im Jahr 2005 errichteten sie unter dem Namen "Para que no se repita" (Damit es sich nicht wiederholt) den ersten Erinnerungsort für die Opfer des internen Konflikts. Die peruanische Generaldirektion für die Suche nach vermissten Personen schätzte im Jahr 2018 die Gesamtzahl der Verschwundenen während des Konflikts auf 20.329 Personen, fast die Hälfte davon aus der Region Ayacucho.


Juana C.: Für die technischen Bauunterlagen hat das Justizministerium 2019 400.000 Soles (umgerechnet knapp 93.800 Euro, Anm. d. Red.) bereitgestellt. Es wurde insgesamt fast eine Million veranschlagt, der Rest sollte von der Regionalregierung kommen. Die Architekten arbeiten bereits, das Projekt ist schon weit fortgeschritten; es gibt einen Bauplan sowie Modelle.

Seit wann wissen Sie vom geplanten Ausbau des Flughafens?

Mila S.: In den letzten 14 Jahren ist gar nichts passiert. Weder das Transportministerium noch die Aufsichtsbehörde für nationale Güter hatte diesbezüglich etwas verlauten lassen. Wir haben erst diesen Oktober auf einem Treffen erfahren, dass das Ministerium ein Dokument ausgestellt hat, welches die Aneignung von einem Teil unseres Gebietes für den Ausbau des Flughafens ermöglicht. Laut den Betreibern soll der Flughafen bald internationale Flüge anbieten. Mit dieser Aktion will sich die Firma Aeroperú einfach über uns hinwegsetzen.

Juana C.: Betroffen davon wäre ein für die Gedenkstätte zentraler Ort: der Haupteingang mit dem Parkplatz, dem Aussichtspunkt und der Eingangsrampe.

Es scheint widersprüchlich zu sein, dass die Regierung an beiden Projekten beteiligt ist…

Juana C.: Wir können das auch nicht nachvollziehen. Daher fordern wir die Regionalregierung auf, den Ausbau nicht zu erlauben.

Lidia F.: Der Gouverneur Carlos Rua hat sich doppelzüngig verhalten. "Zur Zweihundertjahrfeier wird es fertig" hat er gemeint, da waren wir froh, aber mittlerweile redet er nicht mehr davon und hält sich bedeckt. Die Regionalregierung hat uns hintergangen und marginalisiert. Wenn wir nicht aufgrund der Pandemie de facto eingesperrt wären, hätten wir schon Demonstrationen organisiert, wir wären überall hingefahren, wenn nötig.

Sie haben unter anderem ein Gesuch an den Premierminister Walter Mantos geschickt. Was geschah danach?

Maria Elena Tarqui: Am 23. Oktober haben wir uns mit der Justizministerin Ana Neyra Zegarra sowie dem Kulturminister Alejandro Neyra getroffen. Auch ein Vertreter des Transportministeriums war dabei. Man sagte uns, dass das Sanktuarium respektiert werde. Mit Worten geben wir uns nicht zufrieden, bis der Beschluss über die Aneignung des Geländes offiziell aufgehoben ist. Es bleibt also unklar.

Das Museo de la Memoria "Para que no se repita" wurde zwischen 2004 und 2005 auf Initiative von Anfasep gebaut und war das erste Museum von Betroffenen. Trafen Sie dabei auf Widerstand?

Adelina G.: Als das Museum gebaut wurde, war die Bevölkerung nicht zufrieden mit der Gestaltung der Fassade oder lehnte das ganze Projekt ab. Einmal rief mich ein Journalist an und sagte: "Mit dem was ihr sagt, betreibt ihr Rufschädigung an den Militärs. Ihr könnt das nicht mit Gewissheit behaupten." Wir sollten Exponate entfernen. Ich meinte nur: "Ich werde nichts entfernen. Das ist die Wahrheit". Die Wahrheit, die wir erlebt haben, wird in unserem Museum dargestellt. Wir haben keine Angst mehr. Wenn man die Wahrheit auf seiner Seite hat, gibt es nichts zu fürchten.

Juana C.: Während jener Zeit beäugten Familien derjenigen Militärs, die in der Notstandsregion stationiert waren und Übergriffe verübt hatten, das Museum kritisch. Auch Abgeordnete der Amerikanischen Revolutionären Volksallianz (Apra) und der Fujimori-Partei (diese bzw. eine Vorgängerin waren Regierungsparteien während des Konflikts, Anm. d. Red.) stellten das Museum infrage.

2017 titelte ein Artikel im Expreso "Museum in Ayacucho macht aus dem Leuchtenden Pfad ein Spiel". Ein Polizist kam und stellte Fragen. Infolgedessen musste ich mich bei der Staatsanwaltschaft wegen vermeintlicher Verharmlosung des Terrorismus verantworten. Der Abgeordnete und ehemalige Vorsitzende der Antiterror-Strafkammer, Marcos Ibazeta, hatte uns angezeigt.

Der Abgeordnete Mauricio Mulder wollte darüber hinaus, dass man das Museum schließt. Das hat uns sehr besorgt, aber 2018 wurde die Anzeige zu den Akten gelegt. Angehörige von Tätern lehnen unsere Organisation bis heute ab. Sie behaupten, wir seien Terroristen oder deren Angehörige oder Apologeten. Das wird vermutlich nicht aufhören.

Was sind die Unterschiede zwischen dem Anfasep-Museum und der Gedenkstätte?

Adelina G.: Der Unterschied ist, dass am Gedenkort selbst die Taten geschehen sind, an die erinnert wird. Dort sind Leichen verbrannt und die Überreste exhumiert worden. Am Ort des Museums hingegen ist nichts geschehen. Der Folterraum sowie viele Exponate, welche die Gewalt darstellen, sind Repliken. Als in Lima das LUM (Ort der Erinnerung, Toleranz und sozialen Inklusion, Anm. d. Red.) entstand, lebte Angélica Mendoza noch. Sie fragte: "Warum macht man das in Lima, wo kaum etwas geschehen ist?" Die Gewalt fand größtenteils in den ländlichen Regionen statt, warum also sollte es keine Gedenkorte in Ayacucho oder anderen Regionen geben?

Welche Rolle spielt die Gedenkstätte heute im Leben der Angehörigen?

Lidia F.: Es ist der Ort, an dem wir unsere Familienmitglieder gefunden haben. Wir haben ihn seitdem freigehalten und vor Eindringlingen geschützt, genauso wie uns unsere Angehörigen geschützt haben.

Juana C.: Es stellt für uns einen Trost dar, einen Gedenkort für diejenigen zu haben, die man nicht gefunden hat. Dort gibt es jetzt Kreuze für die Verschwundenen. Unser Anliegen war, dass die Gedenkstätte errichtet wird, damit wir, deren Angehörigen nicht wiedergefunden wurden, einen Ort haben, an dem wir an Geburtstagen Blumen niederlegen und Kerzen aufstellen können, um die Erinnerung an sie aufrecht zu erhalten.

Maria Elena T.: Dort wurden Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Bis heute steht hier der Benzintank, dessen Inhalt zur Verbrennung und zum Verschwindenlassen von Beweisen genutzt wurde. An all dies muss erinnert werden, damit unsere Angehörigen gewürdigt werden, der Staat symbolische Reparationen leistet und sich das Geschehene niemals wiederholt.

Der Beitrag ist erschienen in den Lateinamerika Nachrichten Nr. 558