Venezuela: Aufbegehren in den eigenen Reihen

Die jüngsten Proteste finden meist nicht in Hochburgen der Opposition statt, noch fordern sie die Absetzung von Nicolás Maduro

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Ein Beispiel von vielen: Protest von Angestellten der staatlichen Universität Llanos Occidentales Ezequiel Zamora  für "ein ausreichendes Gehalt, um in Würde leben zu können"
Ein Beispiel von vielen: Protest von Angestellten der staatlichen Universität Llanos Occidentales Ezequiel Zamora für "ein ausreichendes Gehalt, um in Würde leben zu können"

Für Venezuela sind Proteste nichts Fremdes, jährlich gibt es Tausende Demonstrationen, Kundgebungen und Streiks. Mit Stand 1. Oktober haben alleine dieses Jahr bereits etwa 7.000 Proteste (also rund 25 pro Tag) stattgefunden. Das geht aus den Angaben der Venezolanischen Beobachtungsstelle gesellschaftlicher Konflikte (Observatorio Venezolano de Conflictividad Social) hervor.

Aber die Anzahl der Proteste steigt stetig, im September 2020 wurden durchschnittlich 40 pro Tag, in den letzten zehn Septembertagen allein über 700 verzeichnet.

Anders als zuvor waren die jüngsten Proteste meist weder in Hochburgen der rechtsgerichteten Opposition noch forderten sie unbedingt die Absetzung von Präsident Nicolás Maduro.

Stattdessen verlangten sie den Zugang zu Basisdienstleistungen ‒ Strom, Gas und Wasser ‒ und sie fanden eher in Gebieten statt, in denen traditionell für Maduros Vorgänger, den früheren sozialistischen Präsidenten Vorgänger Hugo Chávez, gestimmt wurde.

Im Gespräch mit [dem australischen Portal] Green Left äußerte der Sprecher der Chavistisch-sozialistischen Einheitsliga (Liga Unitaria Chavista Socialista, Luchas), Stalin Pérez Borges, dass im Gegensatz zu den "Protesten der Reichen" der vergangenen Jahre Venezuela aktuell vor allem "Proteste der Armen, angetrieben von der schwierigen Lage, in der sich diese aktuell befinden", erlebt. Sie zielten dabei meist auf Funktionäre ab, die mit Maduro und der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (Partido Socialista Unido de Venezuela, PSUV) verbunden sind.

Dem stimmt auch der Koordinator von der Vereinigten Linken (Izquierda Unida), Félix Velásquez, zu. Er sagt Green Left gegenüber, dass die Proteste "sich stark von denen unterscheiden, die wir in Venezuela etwa in den Jahren 2014 oder 2017 erlebt haben. Sie waren gewalttätig, ihr Ziel war der Sturz der Regierung. Heute sehen wir größtenteils friedfertige Proteste popularer Sektoren, die sich organisieren, in manchen Fällen sind es sogar ganze Gemeinden, die sich aufgrund des Zusammenbruchs der Grundversorgung entschlossen haben zu protestieren".

Wachsender Unmut

Weder Art noch Ursachen der Proteste sind neu.

Atenea Jiménez vom Nationalen Netzwerk der Kommunarden (Red Nacional de Comuneros, RNC) hatte bereits Anfang 2019 in Green Left über Proteste im Januar in den Barrios (ärmeren Vierteln) von Caracas berichtet, "sogar in einigen, die traditionell sehr chavistisch gewesen sind".

Im April 2020 gab es in mehreren kleineren Städten landesweit einige spontane Ausschreitungen und Plünderungen. Und wieder gehen die Proteste von Städten abseits der Hauptstadt aus. Venezuelas ländliche Regionen – ebenso wie die Armenviertel – waren über Jahrzehnte hinweg von den traditionellen Parteien links liegen gelassen worden und wurden zur stärksten Basis für Chávez.

Das Leben dort veränderte sich unter der auf die Armen ausgerichteten Bolivarischen Revolution von Chávez radikal, durch den zügigen Ausbau von Bildung, Gesundheitsversorgung und grundlegender Dienstleistungen. Außerdem wurden bedeutende Initiativen zur Förderung von Genossenschaften, Kommunen und produktive Unternehmen in Gemeinschaftsbesitz umgesetzt. Doch acht Jahre nach seinem Tod sind die Rückschläge der Revolution hier am deutlichsten zu spüren.

Die Regierung Maduro hat sich stark darauf konzentriert, dass in den Großstädten das Licht brennt und das Wasser läuft, vor allem in Caracas. Funktionierte dies, setzten Behörden zuweilen auf staatliche Repression und sogar auf bewaffnete Schlägertrupps, um den Unmut zu unterdrücken.

Aber in regionalen Städten kann es vorkommen, dass es tagelang keine Grundversorgung gibt. Und weil sie genug haben von dieser Situation, gehen populare Bewegungen auf die Straße.

Grundlegende Ursachen

Jonatan Vargas, Mitglied des Teams für internationale Beziehungen der Revolutionären Strömung Bolívar und Zamora (Corriente Revolucionaria Bolívar y Zamora, CRBZ), die innerhalb der PSUV aktiv ist, sieht den Grund der Versorgungskrise in der "Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade, die der US-Imperialismus einseitig Venezuela auferlegt hat".

Seit 2014 haben die USA mehr als 40 einseitige Sanktionen gegen Venezuela verhängt, um so die Wirtschaft das südamerikanischen Landes abzuwürgen und Maduro zu Fall zu bringen. Diese Maßnahmen haben Venezuela einen Schaden von geschätzten 116 Milliarden US-Dollar für seine Wirtschaft und mehr als 40.000 Menschenleben gekostet.

Vargas fügt hinzu, dass die Krise auch "den internen Widersprüchen des Prozesses, Ineffizienz, Unfähigkeit, Bürokratie, Gleichgültigkeit und Korruption" geschuldet ist. Ein Beispiel, wie diese Faktoren zusammenwirken und dem Land schadeten, ist das staatliche Erdölunternehmen PDVSA, "das Herz der venezolanischen Wirtschaft".

"Die PDSVA ist ein Opfer der Blockade", sagt Vargas. "Die in den USA ansässige Tochtergesellschaft Citgo, die früher die nötigen Zusätze für die Verarbeitung von Öl zu Benzin in Venezuela lieferte, wurde kurzerhand 2019 von der US-Regierung in einem Akt der Piraterie und des Diebstahls beschlagnahmt und der Imperialistenmarionette Juan Guaidó übergeben".

Im Januar 2019 erklärte sich der damalige Parlamentspräsident Guiadó selbst zum Interimspräsidenten von Venezuela. Seitdem bedienen sich die USA dieser Ausrede, um jegliches venezolanisches Staatsvermögen, das sie in die Finger kriegen können, an Guaidó und seine Unterstützer zu übergeben.

Eine Folge dessen ist der Produktionsstopp von Erdöl, was zu einem dramatischen Mangel bei der Versorgung mit Diesel und Benzin geführt hat, der vom täglichen privaten und öffentlichen Transport bis hin zur landwirtschaftlichen Produktion alle Bereiche trifft. Diese Krise war im September der gewichtigste Grund für die Unzufriedenheit und es gab mehr als 400 Demonstrationen.

"Zugleich ist die PDVSA Opfer interner Korruption geworden, mehrere ehemalige Unternehmensvorsitzende und -direktoren sind wegen Korruption verurteilt worden", ergänzt Vargas.

Neben dem Grundversorgungsproblem geht es auch um die Löhne. Im September wurden durchschnittlich neun Demonstrationen oder Streiks täglich mit der Forderung nach besseren Löhne gezählt.

Hyperinflation, neben den Saktionen ein weiteres Werkzeug im Wirtschaftskrieg gegen Venezuela, bedeutet derart gesunkene Arbeitslöhne, dass für den Großteil der Bevölkerung der Zugang zu den meisten Grundbedarfsgütern unerreichbar ist.

"Aktuell weist Venezuela die niedrigsten Löhne weltweit auf", so Velásquez. "Ein Lehrer, eine Fachkraft, ein Akademiker verdient nicht mehr als zwei bis drei US-Dollar pro Monat, was natürlich zu großen Problemen führt, wenn ein Kilo Reis einen US-Dollar kosten kann".

Was das bedeutet, erklärt Pérez Borges: "Die Leute müssen ihre gesamte Zeit, nicht nur die Arbeitszeit, darauf verwenden, alles zu tun was sie können, um beim Überleben ihrer Familie zu helfen. Das ist die größte Alltagssorge geworden".

Covid-19 hat all das noch schwieriger gemacht. Zwar seien die Eindämmungsmaßnahmen der Regierung weitestgehend erfolgreich, doch hätten etwa Ausgangssperren zu einer schwierigen Lage für all jene geführt, die sich bewegen müssen, um auf dem informellen Markt Produkte zu kaufen oder zu verkaufen, um über die Runden zu kommen, sagt Velásquez.

Die rechtsgerichtete Opposition

Über die Beteiligung oppositioneller Kräfte an den Protesten befragt, sagt Velásquez, die Spaltungen der Rechten verhinderten weitgehend, dass sie eine wesentliche Rolle spielen.

Der ultra-rechte Flügel, der seit dem Wahlsieg Maduros im Jahr 2013 dominant gewesen ist, habe an Unterstützung verloren, nicht zuletzt wegen seiner Terrorakte bei den Protesten in den Jahren 2014 und 2017 sowie dem Scheitern von Guaidòs Strategie, erläutert Velásquez. Dies führte dazu, dass er mittlerweile weitgehend "eine Minderheit ohne Verbindung zum Volk" sei.

Außerdem habe ein wichtiger Teil der Opposition kürzlich entschieden, mit der Gewaltstrategie des ultra-rechten Flügels zu brechen, um "seine eigene Strategie zu verfolgen, was die Beteiligung an der kommenden Wahl [zur Nationalversammlung am 6. Dezember] einschließt", ergänzt Velásquez.

"All dies hat zu Spaltungen innerhalb der Opposition geführt, die verhindern, dass sie die Proteste für sich vereinnahmen kann", erklärt er weiter. "Das war auch bei den jüngsten Protesten der Angestellten im Bildungsbereich zu sehen. Die Opposition hatte zu Versammlungen an einem Ort aufgerufen, aber die Gewerkschaften versammelten sich andernorts und hatten eine viel größere Demonstration. Wie andere Gewerkschaften auch will sich die Lehrergewerkschaft nicht von der Opposition benutzen lassen. Sie wollen nicht, dass ihre Proteste politisiert oder von politischen Akteuren benutzt werden."

Ein weiteres Beispiel dafür waren die Proteste in Urachiche im Bundesstaat Yaracuy im September.

Pérez Borges berichtet: "Dort hat ein lokaler Radiomoderator und Anführer der Tupamaros-Bewegung [die auf Seiten der Revolution ist] zu friedlichen Protesten aufgerufen. Ziel war es, den dortigen PSUV-Autoritäten bei einem friedlichen Marsch Forderungen und Lösungsvorschläge vorzulegen. Die Mobilisierung war sehr groß, viel größer als alles, was die Opposition mobilisieren könnte". Oppositionelle begannen dann, Fotos vom Protest auf Twitter zu posten und zu behaupten, sie hätten gegen die Regierung demonstriert, obwohl sie nichts damit zu tun hatten.

"Die Opposition hat dann versucht, für den nächsten Tag zu einer weiteren Demonstration aufzurufen, aber alles, was sie aufbieten konnte, war eine kleine Gruppe von Leuten, die das Büro des Bürgermeisters in Brand setzte, um weitere Gewalt zu provozieren. Man kann hier sehen, dass es sich um zwei unterschiedliche Momente handelte: Zunächst findet ein friedfertiger popularer Protest statt. Und dann versucht die Opposition, diesen für sich zu reklamieren, weil sie selbst nicht in der Lage ist, Menschen zu mobilisieren. Sie hat ihr Vertrauen verspielt, sogar bei ihrer eigenen Basis.“

Trennlinien ziehen

Wie sollte die Linke auf diese Proteste reagieren? In einigen Fällen haben die PSUV-Autoritäten Repressalien angewendet mit der Rechtfertigung, die Initiatoren  stellten eine Bedrohung für die Revolution dar.

Vargas, weit davon entfernt, Teil einer landesweiten Revolte gegen die Revolution zu sein, bemerkt, dass diese Proteste "voneinander getrennt bleiben und spezifische Proteste sind, in bestimmten Gebieten um bestimmte Forderungen und Probleme herum, mit denen die Menschen konfrontiert sind".

Er ist der Meinung, dass Revolutionäre "legitime Proteste und berechtigte Forderungen der Leute begleiten müssen, sich mit ihnen zusammen organisieren, Kraft sammeln und gemeinsam Lösungen finden, um die Lebensqualität der Menschen zu verbessern".

Die Linke müsse immer wachsam gegenüber den Versuchen der Opposition sein, die legitimen Proteste der Bevölkerung für sich zu vereinnahmen, um Gewalt zu schüren und das Land zu destabilisieren. Aber sie müsse auch systematisch Korruption bekämpfen und die Staatsgewalten transformieren, beginnend auf lokaler Ebene. "Das sind strukturelle Probleme, die noch nicht gelöst wurden, deren Bestehen jedoch von Maduro erkannt wurde". Ihre Lösung sei indes ein entscheidender Faktor zur Befähigung der Menschen und zum Aufbau "eines demokratischeren und partizipativen Staates", so Vargas.

Kann die Regierung Maduro ein Instrument in diesem Kampf sein oder ist sie selbst zu einem Hindernis geworden? Während eine Mehrheit der  Kräfte, die auf Seiten der Revolution stehen ‒ vor allem diejenigen in der PSUV, der bei weitem größten politischen Partei des Landes –, weiterhin den Präsidenten unterstützt, wächst die Zahl derer, die die Richtung, in die Maduro das Land führt, in Frage stellen.

Velásquez, dessen Organisation Teil einer Allianz aus linksgerichteten Parteien und Bewegungen ist, die bei den kommenden Wahlen Gegenkandidaten zur PSUV aufstellen wird, ist überzeugt, dass es von Chávez zu Maduro eine Verschiebung in der Art des Regierens gegeben hat. "Chávez hat immer das Gespräch gesucht, die Diskussion. Er ersuchte die Menschen immer darum, Vorschläge zur Überwindung von Problemen vorzubringen, und war bereit, Fehler zu korrigieren, gemeinsam mit den Menschen zu lernen. Der jetzige Regierungsstil ist ganz anders."

Die Regierung Maduro habe eine "aristokratische Vorstellung des Politikmachens, bei der die Regierenden denken, sie seien im Besitz der Wahrheit, sie seien eine Regierung der Besten für den Rest. Diese Vision von Politik hat sie dazu gebracht, die Sichtweisen und Meinungen anderer politischer Bewegungen zu diskreditieren und die Bedürfnisse und Forderungen der Menschen zu ignorieren".