Bolivien / Politik

Bolivien: Bevölkerung gewinnt Demokratie zurück

MAS-Wahlsieg ist eine Zurückweisung des rassistischen Putschregimes und eine Abfuhr an Trump-Regierung und OAS

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Feier des Wahlsieges der MAS in El Alto am 24. Oktober
Feier des Wahlsieges der MAS in El Alto am 24. Oktober

Am Sonntag, dem 18. Oktober, gewann Luis Arce die Präsidentschaft von Bolivien in klarer Ablehnung des Militärputsches vom letzten Jahr, durch den die gegenwärtige Regierung an die Macht gekommen war. Arce ist der frühere Wirtschaftsminister von Evo Morales, des ersten indigenen Präsidenten des Landes mit dem größten indigenen Bevölkerungsanteil in den Amerikas. Morales' demokratisch gewählte Regierung war im November des vergangenen Jahres gestürzt worden.

Der November-Putsch wurde von der US-Regierung unterstützt und die Führung der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) spielte eine zentrale Rolle dabei, die Grundlagen zu schaffen. Die Wahl vom Sonntag hat enorme Auswirkungen nicht nur für Bolivien, wo sie ein notwendiger Schritt zur Wiederherstellung der Demokratie ist, sondern auf die ganze Region, was Demokratie, nationale Unabhängigkeit, wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt und den Kampf gegen Rassismus betrifft.

Was zunächst die Wahl betrifft, so zeigen inoffizielle Stimmauszählungen Arce mit mehr als 50 Prozent der Stimmen und mindestens 20 Prozentpunkten Vorsprung vor seinem nächsten Konkurrenten, dem ehemaligen Präsidenten Carlos Mesa, in Führung. Eine Mehrheit ist entscheidend, aber selbst wenn die endgültige, offizielle Auszählung Arce unter 50 Prozent brächten, so ist sein Vorsprung auf Mesa so gut wie sicher ausreichend, um die Wahl im ersten Wahlgang zu gewinnen (dazu muss ein Kandidat mehr als 50 Prozent der Stimmen haben oder mindestens 40 Prozent mit einem Vorsprung von zehn Prozentpunkten auf den Zweitplatzierten). Bereits am Sonntagabend hatte Mesa hat die Niederlage eingestanden und De-facto-Präsidentin Jeanine Áñez gratulierte Arce zu seinem Sieg.

Tatsächlich hätte Arce die Wahl wohl sogar dann gewonnen, wenn er nicht gegen eine repressive, rassistische Regierung angetreten wäre, die durch einen Putsch an die Macht kam. Als Wirtschaftsminister seit Morales' Amtsantritt im Januar 2006 kann Arce viel Anerkennung für eine Politik beanspruchen, die jeder Ökonom als bemerkenswert erfolgreiche wirtschaftliche Wende für Bolivien bezeichnen würde. Als Morales zum ersten Mal gewählt wurde, war das Einkommen pro Person geringer als in den 26 Jahre davor. In den 14 Jahren der Regierung der "Bewegung zum Sozialismus" (Movimiento al Socialismo, MAS) stieg das Einkommen dagegen um 52 Prozent. Dies ist eine beträchtliche Verbesserung des Lebensstandards (sechstes von 34 Ländern in der Region) nach lang andauerndem wirtschaftlichen Niedergang.

Arme Bolivianer, in ihrer Mehrheit Indigene, profitierten sogar mehr als andere von den wirtschaftlichen Erfolgen der MAS-Regierung. Die Armut wurde um 42 Prozent und die extreme Armut um 60 Prozent reduziert. Ärmere Bolivianer profitierten auch überproportional von den stark zunehmenden öffentlichen Investitionen etwa in Schulen, Straßen und Krankenhäuser.

Im Gegensatz dazu waren die elf Monate der Putschregierung seit November letzten Jahres eine Katastrophe. Der Internationale Währungsfonds schätzt, dass die bolivianische Wirtschaft im Jahr 2020 um 7,9 Prozent schrumpft. Natürlich hat der größte Teil der Welt durch Covid-19 wirtschaftlichen Schaden erlitten, aber Bolivien hat aufgrund der Misswirtschaft der Putschregierung eine extrem hohe Zahl an Todesopfern im Verhältnis zu seiner Bevölkerung. Bolivien steht an dritter Stelle von 150 Ländern, gemessen an der Zahl der Menschen pro Million, die durch Covid-19 zu Tode kamen. Dies ist kriminelle Fahrlässigkeit.

Die Bolivianer litten unter weiteren vorsätzlichen Verbrechen der aktuellen Regierung. Dazu gehören zwei Massaker der Sicherheitskräfte, bei denen mindestens 22 Menschen getötet wurden ‒ allesamt Indigene. Der offene Rassismus nicht nur der Sicherheitskräfte, sondern auch der Führung des Putsches und der De-facto-Regierung sowie die Unterdrückung und politische Verfolgung durch diese Regierung wurden im Bericht der "International Human Rights Clinic" der Harvard Law School und des Universitätsnetzwerks für Menschenrechte im Juli dokumentiert. Dieser Bericht kam zu dem Ergebnis, der Putsch-Monat sei "der zweittödlichste Monat in Bezug auf die Zahl der zivilen Toten gewesen, die staatliche Sicherheitskräfte zu verantworten hatten, seit Bolivien vor fast 40 Jahren eine Demokratie wurde".

Human Rights Watch stellte fest, dass die De-facto-Regierung "Staatsanwälte und Richter öffentlich unter Druck setzte, im Sinne ihrer Interessen tätig zu werden, was strafrechtliche Ermittlungen wegen Aufruhr und/oder Terrorismus gegen mehr als 100 Personen, die mit der Morales-Regierung und Morales-Unterstützern in Verbindung stehen, zur Folge hatte". Zu den wegen Terrorismus Beschuldigten gehört Evo Morales selbst. Human Rights Watch kam zu dem Schluss, dass dies "eher ein politischer Angriff auf Morales und seine Unterstützer zu sein scheint, als die Durchsetzung des Gesetzes".

All das wäre nicht geschehen, wenn die rechtsgerichteten Kräfte ‒ die 14 Jahre lang keine Wahlen gewinnen konnten ‒ nicht in der Lage gewesen wären, einen Staatsstreich durchzuführen. Und dafür bekamen sie tatkräftige Hilfe:

Am 21. Oktober 2019, dem Tag nach der Wahl, veröffentlichte die OAS eine Erklärung und behauptete, dass es "nach Abschluss der Wahlen eine drastische und schwer erklärbare Trendwende bei den Ergebnissen gab". Beweise wurden nicht vorgebracht und die Behauptungen wurden alsbald widerlegt. Aber die OAS wiederholte den Vorwurf über Wochen und dann über Monate, und er war die politische Grundlage für den Putsch vom 10. November und zur Rechtfertigung für die dann folgenden Übergriffe.

Wie aus öffentlich zugänglichen Wahlunterlagen von Anfang an klar hervorging, war das, was tatsächlich geschah, recht einfach: Gegenden, die ihre Ergebnisse später übermittelten, hatten mehr für die MAS gestimmt als die, die früher berichteten. Das geschieht bei vielen Wahlen und war, wenig überraschend, auch in diesem Jahr so, wie es in der offiziellen Auszählung in den Tagen nach der Wahl vom Sonntag dokumentiert ist.

Am Montagnachmittag meldete Associated Press: "Bei der offiziellen Auszählung der 24 Prozent der bis Montag ausgezählten Stimmen hatte Mesa einen 41 zu 39 Prozent Vorsprung vor Arce, aber diese Stimmen kamen größtenteils aus städtischen Gegenden und nicht aus den ländlichen Kerngebieten, welche die Basis für Morales' Unterstützung sind". Und in der Tat zog Arce bald vorbei und war auf dem Weg zu seinem mehr als 20-Punkte-Vorsprung, wie es die Schnellauszählung vom Sonntagabend auch gemeldet hatte.

Doch als sich im vergangenen Jahr der gleiche, leicht erklärbare Trend zeigte, der den Vorsprung von Evo Morales von 7,9 auf über zehn Prozentpunkte vergrößerte ‒ genug, um in der ersten Wahlrunde zu gewinnen ‒ erfand die OAS die falsche Geschichte vom Betrug. Die meisten großen Medien akzeptierten diese Geschichte.

Die OAS veröffentlichte in den Monaten nach ihrer ersten Pressemitteilung noch drei weitere Berichte, ging aber auf die naheliegende Möglichkeit gar nie ein, die ihre Wahlresultate später abliefernden Bezirke könnten sich politisch von denen unterscheiden, die ihre Ergebnisse früher geliefert hatten. Es handelte sich um eine offizielle Beobachtermission der OAS, besetzt mit professionellen Wahlbeobachtern, die mindestens genauso so viel darüber hätten wissen müssen wie jemand, der Wahlen am Fernsehbildschirm verfolgt. Es ist ganz einfach unglaubwürdig, dass dieses weit verbreitete und weithin verstandene Wahlphänomen der Organisation nie auch nur in den Sinn gekommen ist.

Am 25. November fragten vier Mitglieder des US-Kongress bei der OAS, ob die Organisation an diese Möglichkeit gedacht habe, aber nach fast einem Jahr haben sie auf diese und zehn weitere grundlegende Fragen noch immer keine Antwort. Zwei von ihnen, Jan Schakowsky und Jesús "Chuy" García (beide Demokraten aus Chicago), fordern vom Kongress, das Tun der OAS zu untersuchen (der US-Kongress bewilligt rund 60 Prozent der OAS-Finanzen).

Auf die meisten Fragen von Journalisten verweigert die OAS die Antwort, zumindest offiziell; und sie beantwortete nie den Brief der 133 Ökonomen und Statistiker, in dem die gleichen Probleme und Fragen betreffend die Falschaussagen der OAS aufgeworfen wurden wie von den Kongressmitgliedern.

Aber der Generalsekretär der OAS, Luis Almagro, antwortete sehr wohl auf einen Artikel in der New York Times vom 7. Juni, in dem statistische Belege dafür geliefert wurden, dass die Behauptungen der OAS über eine gestohlene Wahl falsch waren.

Almagro überschüttete die Times mit einer Flut von Beschimpfungen und der Behauptung, sie "beabsichtige, dem bolivianischen Volk die Möglichkeit zu nehmen, bei einer neuen Wahl einen anderen Präsidenten zu wählen als Evo Morales". Er attackierte die mehr als 90 Jahre Berichterstattung der Times und erklärte deren angebliche Voreingenommenheit gegenüber Morales mit der "gut dokumentierten widersprüchlichen Geschichte der Zeitung, was die Wahrheit in Bezug auf Totalitarismus und Diktatur angeht", einschließlich der von Stalin, Castro und sogar Hitler. Dies von einer Organisation, die Länder mit einer Gesamtbevölkerung von mehr als einer Milliarde Menschen vertreten soll.

All dies zeigt, wie wichtig es ist, zu verhindern, dass die OAS von der US-Regierung weiter als Instrument für "Regime change" benutzt wird.

Die OAS hat dies bereits früher getan: Bei den Wahlen in Haiti im Jahr 2000, als die OAS ihre Analyse änderte, um den Vorwand für die Einstellung fast der gesamten internationalen Hilfe zu liefern, was zu dem US-gestützten Putsch 2004 führte; ferner 2011, als die OAS tat, was vielleicht keine andere Wahlbeobachtermission je getan hat, nämlich einfach die Ergebnisse des ersten Wahlgangs der Präsidentschaftswahlen in Haiti zu kippen.

Wir müssen selbstverständlich auch stoppen, dass "Regime change" Washingtons Standardpolitik im Umgang mit linken Regierungen in Lateinamerika ist.

Im 21. Jahrhundert hat die Mehrheit der Menschen in Lateinamerika und der Karibik linke Regierungen gewählt, die unabhängiger waren als ihre Vorgänger. Washington intervenierte stets, um fast alle zu untergraben, wie etwa in Argentinien, Brasilien, Bolivien, Haiti, Honduras, Nicaragua, Venezuela und Paraguay ‒ mit ziemlicher Sicherheit noch weitere, wofür es Indizien gibt ‒ und trug in mehreren Fällen zu einem tatsächlichen Regierungswechsel bei.

Diese Interventionen können verheerende und lang anhaltende Auswirkungen haben, wie man bei einigen der oben genannten Länder sehen kann, die allein in diesem Jahrhundert den Regime change-Operationen der USA zum Opfer fielen.

Deshalb ist die Umkehr des "Regime change" in Bolivien so wichtig — und nicht nur für Bolivien, sondern für die gesamte Region.