Lateinamerika: Legale Abtreibung, ein verweigertes Recht

Auch wenn in einigen Ländern die Abtreibung legal sein mag, wird der Zugang sozial und institutionell erschwert

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Frauen in Lateinamerika fordern das Recht auf legalen, sicheren und kostenlosen Schwangerschaftsabbruch
Frauen in Lateinamerika fordern das Recht auf legalen, sicheren und kostenlosen Schwangerschaftsabbruch

In einer Entschließung, die am 28. August im Amtsblatt veröffentlicht wurde, heißt es, dass medizinische Stellen in Brasilien schwangere Frauen, die legal abtreiben wollen "auf die Möglichkeit hinzuweisen haben, den Fötus oder Embryo per Ultraschall sichtbar zu machen". Dieser soziale Zwang in Gesundheitseinrichtungen ist eine der Methoden, den freiwilligen Schwangerschaftsabbruch zu verhindern, selbst in Fällen sexueller Gewalt oder Lebensgefahr für die Schwangere, wie sie in Brasilien für eine legale Abtreibung gesetzlich vorgesehen sind.

Der jüngste Fall des zehnjährigen Mädchens in Espírito Santo veranschaulicht die Realität in ganz Lateinamerika: Auch wenn in einigen Ländern die Abtreibung legal sein mag, wird der Zugang sozial und institutionell erschwert. In den meisten Ländern der Region ist Abtreibung in irgendeiner Form in der Gesetzgebung vorgesehen. Es kommt jedoch häufig vor, dass die Gesundheitsversorgung unzureichend oder von schlechter Qualität ist oder ganz fehlt..

Die Möglichkeit, Informationen und Mittel für den freiwilligen Schwangerschaftsabbruch zu bekommen, steht in direktem Zusammenhang mit besserer Gesundheitsversorgung, während der Vormarsch konservativer Regierungen in der Region und der größere politische Einfluss fundamentalistischer Bewegungen, wie in Brasilien und Bolivien, zu größeren Rechtsverletzungen, höheren Sterblichkeitsraten durch unsichere Abtreibungen und zu Zwangsgeburten führen.

Die soziale Ungleichheit ist auch die Ursache für die großen Unterschiede bei der Kriminalisierung von Abtreibung und dem Zugang zum sichere Schwangerschaftsabbruch und zur Information. Übertroffen nur noch von Subsahara-Afrika, sind Lateinamerika und die Karibik die Regionen mit den höchsten Schwangerschaftsraten bei Jugendlichen im Alter von 15 bis 19 Jahren.

In Ländern, in denen die Gesetzgebung (wenn auch ausschließlich in ganz bestimmten Fällen) den freien Schwangerschaftsabbruch vorsieht, wird der Zugang durch die medizinischen Einrichtungen selbst behindert, indem die Patientinnen oftmals ‒ entgegen der medizinischen Ethik selbst und unter Bruch der Vertraulichkeit gegenüber der Person ‒ durch den unangemessenen Einsatz der Gewissensprüfung (wenn etwa der Mediziner sich aus moralischen oder religiösen Gründen weigert, den Eingriff durchzuführen) angezeigt werden oder sie sogar falsche Informationen bekommen.

Brasilien

Die Macht der fundamentalistischen und religiösen Sektoren des Landes gefährdet die Durchsetzung des Gesetzes, das Abtreibung in drei Fällen erlaubt: Lebensgefahr für die Schwangere, Vergewaltigung und Föten mit Anenzephalie.

In diesen Fällen ist keinerlei Genehmigung für den Eingriff erforderlich, aber es mangelt an Wissen bei den Angehörigen der Gesundheitsdienste selbst, wie Carla Vitória Barbosa feststellt, Rechtsanwältin und spezialisiert auf dem Gebiet der Sexual- und Reproduktionsgesetzgebung. "Weil es als Tabu angesehen wird, verfügen viele Fachleute nicht über korrekte Informationen, sie kennen das Gesetz nicht, bestehen auf Meldung des Vorfalls oder versuchen gar, die Person von der Abtreibung abzuhalten".

Eine von der Nichtregierungsorganisation "Artigo 19" durchgeführte Übersicht zeigt, dass von den 176 Krankenhäusern, die den Eingriff durchführen, lediglich 76 tatsächlich bestätigen, den Schwangerschaftsabbruch in den gesetzlich vorgesehenen Fällen vorzunehmen.

Mexiko

Seit 2007 ist der Schwangerschaftsabbruch in Mexiko-Stadt legal und seit 2019 im Bundesstaat Oaxaca, was dort auch Schwangeren aus der näheren Umgebung den Abbruch ermöglicht. In Mexiko gibt es in jedem Bundesstaat spezifische Regelungen für eine legale Abtreibung, wobei sexuelle Gewalt der einzige Grund ist, bei dem unter den 32 Bundesstaaten des Landes Konsens besteht.

Laut Berichten der Informationsgruppe für selbstbestimmte Reproduktion (GIRE) gibt es in Fällen von Vergewaltigung im ganzen Land Schwierigkeiten beim Zugang zur Abtreibung: Frauen und Mädchen wird das Recht auf Abtreibung wegen "mangelnder Kenntnis des rechtlichen Lage seitens des medizinischen Dienstes" verweigert.

"So ist die Vorstellung normal, für die vergewaltigte Frau oder das Kind sei Abtreibung ein Verbrechen und dementsprechend wird agiert, Informationen werden verweigert oder verzerrt". GIRE betont, dass dieses Verhalten der Gesundheitseinrichtungen nicht nur die Betroffenen erneut zu Opfern macht und ihre Menschenrechte verletzt, sondern auch den Gesetzen des Landes widerspricht.

Argentinien

In fünf Monaten der Corona-Quarantäne wurden im Land drei Todesfälle durch illegale Abtreibung registriert. Die Schwierigkeit beim Zugang zum freiwilligen Schwangerschaftsabbruch auch in den gesetzlich vorgesehenen Fällen (Gefahr für Gesundheit und Leben der Schwangeren und Vergewaltigung), spiegelt sich in den alarmierenden Zahlen, die von Unicef veröffentlicht wurden: Alle drei Stunden wird in Argentinien ein Mädchen zur Geburt gezwungen.

Die politisch einflussreichen Konservativen in Argentinien initiierten im Jahr 2018 die Bewegung "Salvemos las dos vidas" (Retten wir die zwei Leben) gegen die Verabschiedung des Gesetzes für legale Abtreibung. Neben der institutionellen Politik gibt es Behinderungen vor allem in der täglichen medizinischen Praxis, wie etwa seitens des Fachpersonals, das über die aktuelle Schwangerschaftswoche lügt, um Abtreibungen zu verhindern.

Letztes Jahr wurde ein zwölfjähriges Mädchen, das nach einer Vergewaltigung schwanger wurde, zur Entbindung durch Kaiserschnitt gezwungen. Das Baby starb vier Tage später. Dies geschah in Jujuy, einer der elf Provinzen, für die das "Protokoll für eine umfassende Betreuung von Menschen mit dem Recht auf Schwangerschaftsunterbrechung" bindend ist. Solche Fälle treten jedoch noch häufiger in Provinzen auf, in denen es kein solches Protokoll gibt, das eine angemessene Versorgung bei legaler Abtreibung sichert.

"In den Provinzen besteht große Ungleichheit beim Zugang [zu Schwangerschaftsunterbrechung], es hängt stark ab von öffentlicher Mobilisierung", sagt Yanina Waldhorn von der Nationalen Kampagne für legale, sichere und freie Abtreibung in Argentinien. "In der Regel besteht dort, wo es einen Arzt aus dem 'Netzwerk für Gesundheit und das Recht zur freien Entscheidung' gibt, kein Hindernis beim Zugang zu Schwangerschaftsabbruch und umfassender Gesundheitsversorgung".

Venezuela

Das Strafgesetzbuch verbietet Abtreibung in fast allen Fällen, mit Ausnahme der Gefährdung des Lebens der Schwangeren. Hinzu kommt, dass der Zugang zu Verhütungsmitteln knapp ist und in einigen Städten fast völlig fehlt.

Die Verfassung enthält widersprüchliche Artikel, die sowohl konservativen Angriffen als auch der Entscheidungsfreiheit Raum geben: Ein Artikel betrachtet das Leben von der Empfängnis an, während ein anderer das Recht garantiert, zu entscheiden, wie viele Kinder eine Familie haben möchte.

"Religiöser Fundamentalismus, vor allem bei den evangelikalen Kirchen, hat sich im Land verbreitet", sagt Daniella Inojosa vom feministischen Kollektiv Tinta Violeta. "Sogar der Verband der Geburtshelfer und Gynäkologen hat sich für die Möglichkeit zur Abtreibung ausgesprochen und mit sehr fortschrittlichen Argumenten eine Gesetzesänderung im Falle der Lebensgefahr der Frauen gefordert. Heute machen viele Ärzte keine Abtreibungen, selbst wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist. Aber zum Glück sind sie nicht die Mehrheit, es sind Einzelfälle".

Die feministische Bewegung in Venezuela kämpft für die vollständige Entkriminalisierung der Abtreibung. "Aber wir wissen, dass es in der Realität, in der wir leben, schon ein Erfolg wäre, die klassischen Fälle einzubeziehen", sagt Daniella mit Blick auf die Fälle von Vergewaltigung und Gefahr für die Gesundheit.

Kolumbien

Seit 2006 haben Schwangere in Kolumbien das Recht auf Abtreibung in drei Fällen: Gefahr für Leben oder Gesundheit der Schwangeren, sexuelle Gewalt oder nicht-lebensfähiger Fötus. Schwierigkeiten, diese Rechte auch vollständig wahrzunehmen, liegen beim Zugang zu Informationen und an Hindernissen seitens der Institutionen. Verzögerungen bei der Erlangung eines legalen Schwangerschaftsabbruchs führen dazu, dass Schwangere erst im fortgeschrittenen Stadium die Schwangerschaft abbrechen.

Für das Land kennzeichnend war der Fall einer Frau, deren Bitte um Rat bei einer Hilfseinrichtung für Schwangerschaftsabbrüche, Profamilia, öffentlich bekannt wurde. "Das führte dazu, dass viele Frauen Angst bekamen, zu Profamilia zu gehen", sagt Laura Vásquez Roa von der kolumbianischen Kampagne für legale, sichere und freie Abtreibung.

"In diesem Fall musste die Frau wegen einer Reihe behördlicher Hindernisse im siebten Monat abtreiben. Es gab eine massive Kampagne der Abtreibungsgegner, sie machten die Identität der Frau bekannt und gaben dem Fötus einen Namen, als sei er ein geborenes Kind. Viele Frauen bekamen daraufhin Angst um ihre eigene Privatsphäre".

In der feministischen Bewegung Kolumbiens gibt es Netzwerke, um Menschen zu begleiten, die einen sicheren Schwangerschaftsabbruch wünschen und Informationen dazu suchen.

Ecuador

Nach ecuadorianischem Strafrecht ist Schwangerschaftsabbruch nur in zwei Situationen erlaubt: Wenn Lebensgefahr für die Frau besteht oder wenn die Schwangerschaft Ergebnis des sexuellen Missbrauchs einer geistig Behinderten ist.

Im Jahr 2012 hätte eine Gesetzesreform die Fälle erlaubter Abtreibung ändern sollen, aber das Parlament versagte die Zustimmung, und das Gesetz von 1938 blieb in Kraft. Zwischen 2009 und 2016 zwang dieses Gesetz 17.448 Mädchen unter 14 Jahren zur Entbindung, in den meisten Fällen schwanger durch Vergewaltigung.

Wie Alejandra Santillán Ortíz erläutert, Mitglied des "Parlamento Plurinacional y Popular de Mujeres y Organizaciones Feministas", propagieren die von sich überzeugten Machistas die gleiche Art Politik im Land, ebenso die Vertreter der katholischen religiösen Opus Dei. "Diese Situation ist die Folge des Fehlens von staatlicher Politik mit Geschlechterperspektive. Die Vorstellungen der Abtreibungsgegner haben nichts mit dem Leben der Frauen zu tun".

Am 25. August verabschiedete die ecuadorianische Nationalversammlung ein neues Gesundheitsgesetz mit einigen Fortschritten, die Ergebnisse feministischer Aktivität sind. Der neue Kodex erklärt Schwangerschaft bei Kindern und Jugendlichen zu einem Problem der öffentlichen Gesundheit, ebenso Schwangerschaften mit Risiko für das Leben der Schwangeren, und stützt sich dabei auf Daten zu Müttersterblichkeit und Selbstmord.

El Salvador

Eines der rigidesten Gesetze zur Abtreibung ist das von El Salvador. Wie in Ecuador wurde Schwangerschaftsabbruch vollständig mit Strafe bedroht, seit Ende der 1990er Jahre eine Verfassungsreform "menschliches Leben ab Empfängnis" unter Schutz stellte. Diese Restriktion führt zu besorgniserregenden Raten von unsicheren Abtreibungen und Selbstmord.

Der Fall von Evelyn Hernández veranschaulicht die Justiz des Landes, was Schwangerschaftsabbruch angeht. Im Jahr 2016 hatte die junge Frau Komplikationen bei der Entbindung und wurde wegen Mordes zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt. Sie war 33 Monate im Gefängnis, bis sie letztes Jahr freigesprochen wurde.

"Die meisten Fälle im Zusammenhang mit diesem Gesetz sind Notfälle bei der Geburtshilfe und bei Klinikentbindungen", sagt die Journalistin und feministische Aktivistin Clanci Rosa. "Frauen, die weiter weg auf dem Land leben, werden wegen Mordes verurteilt, wenn sie einen Geburtsnotfall haben und nicht rechtzeitig ins Krankenhaus kommen".

Die feministische Bewegung des Landes tritt ein für eine Regelung mit vier gesetzlich zulässigen Fällen: sexuelle Gewalt, Gefährdung von Gesundheit und Gefährdung des Lebens der Schwangeren und nicht-lebensfähiger Fötus.

Bolivien

Seit den 1970er-Jahren ist Abtreibung in Fällen von Vergewaltigung und Lebensgefahr für die Schwangere erlaubt. Verzögerungen im Justizverfahren haben jedoch die Prozesse in Fällen von Vergewaltigung bis nach dem neunten Schwangerschaftsmonat verlängert.

Im Jahr 2014 ermöglichte ein Beschluss des Verfassungsgerichts den Schwangerschaftsabbruch auf Antrag. Außerhalb größerer Städte und der Hauptstadt kommt man dem aber nicht nach. "In ländlichen Gegenden ist es schwierig, Gesundheitszentren zu finden, die den Eingriff durchführen", sagt Adriana Guzmán Arroyo, Mitglied der Socorristas Comunitárias de Bolívia, einem Netzwerk, das zusammen mit Nothilfe-Einrichtungen in Argentinien gegründet wurde.

"Die meisten Schwierigkeiten bei der Beachtung der Vorschriften machen die Fälle der Vergewaltigung von Kindern. Im Juli dieses Jahres gab es im Chaco, im Gebiet der indigenen Guaraní, sogar eine Mobilisierung, um den legalen Schwangerschaftsabbruch bei einem Kind zu verhindern, das vom Stiefvater mehrfach vergewaltigt worden war. Der einzige Weg, hier eine Abtreibung zu ermöglichen, war die Intervention der Ombudsbehörde", sagt sie und betont, dass die Situation in Bolivien sich nach dem Putsch weiter verschlechterte.

"Die konservative Bewegung des Landes erschwert die Beachtung des Verfassungsurteils, welches die einzige Option für legalen Schwangerschaftsabbruch ist. Mädchen werden von den Kirchen gezwungen zu gebären oder das Kind zur Adoption freizugeben".

Chile

In diesem südamerikanischen Land macht ein großer Teil der Ärzteschaft Gewissensgründe geltend, etwa 50 Prozent des medizinischen Personals im öffentlichen Dienst tun dies. Das Land gestattet eine Verweigerung aus Gewissensgründen nicht nur den Angehörigen der Gesundheitsberufe, sondern den Institutionen selbst. Die legalen Fälle von Abtreibung in Chile sind: Lebensgefahr für die Schwangere, sexuelle Gewalt und mangelnde Lebensfähigkeit des Fötus.

Lieta Vivaldi, Anwältin von Abofem und des "Mesa Acción por el Aborto en Chile" verweist darauf, dass die Einfachheit, einen Einspruch zu erheben, sich als wirksames Mittel erwiesen hat, um freiwillige Schwangerschaftsunterbrechung sogar in den gesetzlich vorgesehenen Fällen zu verhindern. "Man muss nur ein Formular ausfüllen. Man kann Einspruch aus beruflichen Gründen erklären oder einfach wegen der Arbeitsbelastung oder wegen zuviel Bürokratie", sagt Lieta.

"Ein weiteres erhebliches Probleme ist die mangelnde Ausbildung des Personals im Gesundheitssystem, nicht nur mangelt es an Wissen, wie mit diesen Fällen umzugehen ist, sondern auch um zu informieren und die Abtreibung zu entstigmatisieren", ergänzt sie.

Buenos Aires, Argentinien, 28. August 2020