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Das Venezuela-Märchen von John Bolton

Boltons Überheblichkeit ist bekannt, dennoch überrascht sein Venezuela-Kapitel aufgrund der eher armseligen Lagebeurteilung und der (mutwilligen?) Ignoranz der Fakten.

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John Bolton (ganz rechts) mit Präsident Trump und Außenminister Pompeo beim Nato-Treffen in Brüssel am 12. Juli 2018
John Bolton (ganz rechts) mit Präsident Trump und Außenminister Pompeo beim Nato-Treffen in Brüssel am 12. Juli 2018

Schon mit dem ersten Absatz des mit "Venezuela Libre" (Freies Venezuela) betitelten neunten Kapitels von John Boltons1 jüngst erschienenem Buch The Room Where it Happened (Der Raum, in dem alles geschah) wird deutlich, dass Bolton hier eine Geschichte aus Erfindungen, Halbwahrheiten, Propaganda und dem einen oder anderen Körnchen Wahrheit zusammenspinnt.

Das Kapitel erstreckt sich auf 35 lange Seiten, auf denen der berüchtigte Kriegstreiber an niemandem ein gutes Haar lässt, wenn es um die Trump’sche Regierung und deren desaströse Venezuela-Politik geht. Er macht weder Halt vor US-Finanzminister Steve Mnunchin, US-Außenminister Mike Pompeo, Bürokraten aus dem Außenministerium noch vor dem US-Präsidenten selbst.

Außerdem kriegen der venezolanische Oppositionsführer Juan Guaidó und der kolumbianische Präsident Iván Duque ihr Fett weg. Ausgenommen von der Kritik sind nur die Erdenker der Venezuela-Politik: Mauricio Claver-Carone (von Bolton einst zum Abteilungsleiter für die westliche Welt im Nationalen Sicherheitsrat ernannt) und Bolton selbst.

Bolton zufolge ist der venezolanische Präsident Nicolás Maduro nur noch an der Macht, weil die Trump-Regierung nicht ausreichend Druck auf diesen ausgeübt hat. Er argumentiert, dass die Sanktionen eher lasch seien und auch nicht ausreichend angewendet wurden. Und das obwohl die Trump-Regierung unter Boltons Amtsführung Venezuelas Goldhandel blockierte, das Vermögen des staatseigenen Ölunternehmens PDVSA (darunter fiel auch das in den USA angesiedelte Tochterunternehmen Citgo Petroleum) einfror, Venezuelas Zentralbank sanktionierte und ein Wirtschaftsembargo gegen Venezuela verhängte. All dies geschah zwischen November 2018 und August 2019 – zu dieser Zeit war Bolton Nationaler Sicherheitsberater unter Trump.

Vier größere Sanktionsmaßnahmen in den vergangenen zehn Monaten, die Venezuelas Wirtschaft lahmlegen, sind wohl kaum Ausdruck einer "schwankenden und eiernden" US-Regierung, wie Bolton es formuliert. Die Sanktionen wurden auch nicht etwa langsam umgesetzt, sondern waren schnelle Reaktionen auf konkrete Ereignisse in Venezuela – mit dem Ziel, so viel wirtschaftlichen Schaden wie nur möglich anzurichten. Als Venezuela Gold in die Türkei exportierte, kam das Goldhandelsverbot. Die Sanktionen gegen Venezuelas Ölunternehmen waren als Sargnagel für Venezuelas Ölindustrie gedacht, um Citgo an der Ölraffinierung und an der Sendung von Verdünnern für die Aufarbeitung von venezolanischem Schweröl zu hindern (außerdem sollte Citgo und damit das Unternehmensvermögen auf Juan Guaidó übertragen werden).

Mit den Sanktionen gegen Venezuelas Zentralbank wurde Venezuelas Vermögen weltweit eingefroren, das Land komplett aus dem internationalen Finanzsystem ausgeschlossen, sodass es keinerlei Waren mehr importieren kann – auch keine Lebensmittel oder Medikamente. Das Wirtschaftsembargo im August 2019, das jeglichen US-Unternehmen den Handel mit Venezuela untersagt, wurde mit Sanktionen verglichen, mit denen auch "Nordkorea, der Iran, Syrien und Kuba konfrontiert sind". Angekündigt wurde es genau zu dem Zeitpunkt, als sich Venezuelas Regierung und die Opposition zu Gesprächen auf Bermuda treffen wollten.

Die wohl brauchbarste Information aus dem "Venezuela Libre"-Kapitel ist Boltons Aussage, dass Großbritanniens damaliger Außenminister Jeremy Hunt im Januar 2019 "mit großem Vergnügen kooperieren und Schritte einleiten würde, zum Beispiel das Einfrieren von Venezuelas Goldreserven bei der Bank of England". Nur Tage später fror eben diese Bank tatsächlich Venezuelas Gold im Wert von mehr als einer Milliarde US-Dollar ein, obwohl die Institution sich als unabhängig und "frei vom Einfluss des politischen Tagesgeschehens" bezeichnet.

Diese Offenlegung wird von Venezuelas Regierung auch in ihrer Klage gegen die Bank of England verwendet. Das Ziel dieser Klage ist die Freigabe der Goldreserven, welche anschließend in das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen fließen sollen, um so Lebensmittel und medizinische Versorgungsgüter im Kampf gegen die Covid-19-Pandemie kaufen zu können.2

Bolton zeigt hier einen weiteren Nutzen seiner erbitterten Sanktionspolitik auf: "Zentralbanken und Privatbankiers wollen nicht unbedingt auf der Schwarzen Liste der US-Notenbank stehen", was dazu führe, dass diese lieber den Handel mit Venezuela einstellten oder dessen Vermögen einfrören. Unter Sanktionsfachleuten spricht man hier von "Übererfüllung", Bolton aber stellt sein enges Sanktionskorsett als geeignete Maßnahmen und nicht als Fehler dar.

Das Außenministerium brüstete sich in einem Schreiben sogar mit der Schwere der Sanktionen – das Dokument ist mittlerweile allerdings vernichtet. Auch wenn alle Sanktionen zeitgleich angewendet worden wären, wie Bolton es vermutlich vorgesehen hatte, hätte man nicht von einem plötzlichen Regierungswechsel ausgehen können. Die venezolanische Regierung unter Maduro hat ihre Anpassungsfähigkeit an die Sanktionen bewiesen, sie konnte trotz der wirtschaftlichen Zerstörung die schlimmsten Folgen der Covid-19-Pandemie abwenden und sogar ein wirtschaftliches Wachstum im vierten Quartal 2019 vorweisen.

Die Sanktionen sind nicht nur grausam, sie haben auch ihr Ziel verfehlt, das darin bestand, das venezolanische Volk gegen seine Regierung aufzubringen. Einer Studie zufolge lehnen 82 Prozent der Venezolaner die Sanktionen ab. Sogar der prominenteste oppositionelle Meinungsforscher gab zu, dass die Mehrheit der Venezolaner "die allgemeinen, wirtschaftlichen, Öl- und Finanzsanktionen, deren Leidtragende die Bevölkerung ist, entschieden ablehnen". Auch auf die Gefahr hin, Bolton zu loben: Immerhin ist er ehrlich, wenn es um die Sanktionen geht. Während US-Außen- und Finanzministerium standardmäßig auf ihrer Position beharren, die Sanktionen würden ausschließlich Mitglieder der venezolanischen Regierung treffen, gibt Bolton "den Schaden, den diese dem venezolanischen Volk zufügen" zu.

Aus der Perspektive des Weißen Hauses in Washington waren nicht nur die Sanktionen kontraproduktiv. Auch militärische Drohgebärden, Staatsstreichversuche und Provokationen haben Maduros Basis gefestigt. Bolton beklagt Trumps Fixierung auf militärische Drohungen und die Aufforderung an das Pentagon, einen Einmarsch in Venezuela zu planen. Aus dem kriegslustigen Falken Trump wurde aber nicht etwa plötzlich ein Friedenstäubchen. Vielmehr wurden diese Pläne nicht umgesetzt, weil sie an dem "unweigerlichen Widerstand des Kongresses" gescheitert wären, da man dort nicht davon ausgeht, dass ein Regierungswechsel in Venezuela US-amerikanischer Truppen bedarf.

Bolton widmet einen Großteil seines Kapitels der detailreichen Beschreibung der Ereignisse um den versuchten Staatsstreich von Guiadó am 30. April [2019]. Er ist noch immer der Überzeugung, seinem Ziel an diesem Tage sehr nahe gewesen zu sein. Bolton und das Weiße Haus wähnten Verteidigungsminister Vladimir Padrino López auf ihrer Seite sowie weitere Schlüsselfiguren, darunter auch den Leiter des Obersten Gerichtshofes von Venezuela. Sie irrten sich. Es folgte ein klägliches, einige Stunden andauerndes Schauspiel, bei dem Guaidó und ein Dutzend Soldaten eine Autobahnüberführung einnahmen. In den Medien verbreitete Bolton, dass Padrino López den Plan in letzter Minute vereitelt hatte. Es sieht jedoch vielmehr so aus, als wäre Bolton "ihm auf den Leim gegangen", wie Trump es im Juni 2019 nannte, als – nicht zum ersten Mal - laut wurde, dass dessen Interesse an Venezuela gesunken war.

Auf jeden Fall ist er Guaidos Ehefrau Fabiana Rosales auf den Leim gegangen, die an Boltons Eitelkeit appellierte, als sie sagte, die venezolanische Regierung „hätte am meisten Angst, wenn John Bolton anfängt Tweets abzusetzen“. Bolton prahlt mit seinen Tweets und Kunststückchen (wie etwa als er während einer Pressekonferenz in seinen Notizblock blicken ließ, auf dem er "5.000 Soldaten nach Kolumbien" notiert hatte). Aber dies wurde als Propaganda genutzt, um Maduros Basis zu stärken. Im Januar 2019 zählte die venezolanische Miliz nämlich noch weniger als zwei Millionen Mitglieder, mittlerweile sind mehr als vier Millionen eingetragen. Boltons zahlreiche Tweets über Venezuela und jene konkret an venezolanische Amtsinhaber adressierte sowie seine Kriegshetzerei haben sehr viel mehr zu dem Eindruck bei Venezolanern beigetragen, dass ein US-Einmarsch bevorstünde, als Trumps Drohungen.

Boltons Überheblichkeit ist seit langem bekannt, dennoch überrascht sein Venezuela-Kapitel aufgrund der doch eher armseligen Lagebeurteilung und der (mutwilligen?) Ignoranz der Fakten. Sich hier in die Abgründe von Boltons Lügen und Fehlaussagen zu begeben, würde viel zu lange dauern – es seien nur drei Beispiele genannt. Er schreibt, dass Präsident Maduro sich nach dem versuchten Staatsstreich am 30. April "mehrere Tage unter strikten Sicherheitsvorkehrungen versteckte [...] [und] unsichtbar blieb, sich der Öffentlichkeit nicht stellte".

Auf dem Foto erkennt man jedoch, wie dieser am 1. Mai vor Zehntausenden, ja, sogar Hunderttausenden Anhängern sprach. Bolton behauptet weiterhin, dass Unterstützer der Regierung am 23. Februar LKWs mit Hilfsgütern abgebrannt hätten, obwohl längst bekannt ist, dass dies der Opposition zuzuschreiben ist.

Außerdem zitiert Bolton die Zeitung Daily Mail damit, dass der damalige Präsident der Nationalversammlung von Venezuela, Diosdado Cabello, seine Kinder am 23. Februar nach China verfrachtete. Nur vier Tage später traten diese live aus Caracas im Fernsehen auf.

Das Weiße Haus scheint gefangen in einer Echokammer und glaubt der selbst gestreuten Propaganda in den Mainstream-Medien. Ironischerweise scheint der Chef-Propagandist Trump derjenige zu sein, der aus dieser Informationsblase ausbricht, so erzählt es Bolton. Hier einige Trump-Zitate aus Boltons Venezuela-Kapitel:

  • Maduro ist "zu intelligent und tough", als dass er zu Fall käme.

  • "Unsere Lage gefällt mir nicht … Die gesamte Armee steht hinter ihm … Ich habe schon immer gesagt, Maduro ist tough. Diesen Jungburschen [Guaidó] kennt doch eh niemand."

  • Über Guiadó: "Er hat’s einfach nicht drauf … Wir sollten uns eine Weile rausnehmen und uns nicht zu sehr einmischen."

Natürlich ist auch Trump nicht immun gegen Propaganda, wenn er beispielsweise sagt, dass "Venezuela ein Teil der USA ist“ – Boltons unheilvolle Schlussfolgerung aus der von ihm geliebten Monroe-Doktrin.

In einer weiteren Wendung von Ironie stammt die beste Lagebeschreibung aus The Room Where It Happened vom russischen Präsidenten Wladimir Putin, die Bolton allerdings als "eine hervorragende Schau sowjetischer Propaganda" abtut. Putin schlussfolgert, dass die US-Politik zur Stärkung von Maduro als Präsidenten beigetragen hat, als Beweis dafür liefert er die Massendemonstrationen vom 1. Mai. Offensichtlich konnte nur Putin dem US-amerikanischen Präsidenten eine andere Sichtweise auf die Lage in Venezuela bieten.

Die wahrscheinlich größte Erkenntnis aus Boltons Venezuela-Kapitel ist, dass er und andere Regierungsmitglieder Trump davon abgebracht haben, in einen Dialog mit der venezolanischen Regierung zu treten. Daran hat sich leider seit Boltons Ausscheiden aus dem Weißen Haus nicht viel geändert, jetzt nehmen nur andere Einfluss auf den Präsidenten. Am 19. Juni zeigte sich Trump in einem Interview mit der US-Nachrichtenseite Axios zu einem Treffen mit Maduro bereit und äußert sich skeptisch gegenüber Guaidó. Einen Tag später zog er seine bereits veröffentlichten Aussagen zurück. Er hatte dem Druck von Medien, Politikern aus Florida und dem Präsidentschaftskandidaten Joe Biden nachgegeben, welcher Trump erwartungsgemäß von rechts angegriffen hatte. Bolton drückt es so aus: "Unterstützung für [die] harte Linie im Fall Venezuela ist auf beiden Seiten ähnlich hoch". Wer auch immer im November die Wahl gewinnt, die harten Sanktionsmaßnahmen werden nicht aufgehoben, da die bloße Erwähnung eines Dialogs unter US-amerikanischen Politikern ein Tabubruch ist.

Dennoch besteht in Venezuela die Hoffnung, dass sich bedachtere Köpfe durchsetzen werden, da die Gemäßigten in der Opposition sich von den Hardlinern lösen, mit der Regierung verhandeln und sich auf die bevorstehenden Parlamentswahlen vorbereiten. Boltons Buch und seine Arbeit im Weißen Haus zeigen, dass die USA, so sehr sie es auch wollen, nicht mehr in der Lage dazu sind, ihren Willen andernorts durchzusetzen. Hoffentlich geht nicht nur dieses Kapitel Geschichte, sondern auch Boltons Karriere einem raschen Ende entgegen.

Leonardo Flores ist Experte für lateinamerikanische Politik und Aktivist bei Codepink

  • 1. Wikipedia: John Robert Bolton war vom 9. April 2018 bis zu seinem Ausscheiden aus dem Amt am 10. September 2019 Nationaler Sicherheitsberater für US-Präsident Donald Trump. Bolton gilt als einer der Architekten des Irakkriegs 2003 und war von August 2005 bis Dezember 2006 Botschafter der USA bei den Vereinten Nationen
  • 2. Das Handelsgericht in London hat Anfang Juli gegen die Regierung von Präsident Nicolás Maduro geurteilt und damit den Goldraub juristisch abgesegnet. Die Zentralbank von Venezuela hat Ende Juli das Recht zugesprochen bekommen, gegen das Urteil Berufung einzulegen