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Die Ambivalenz der antirassistischen und antikolonialistischen Initiativen in Europa

Manche Initiativen in Europa tendieren zu Banalisierung, Zurückweisung von Verantwortung und sogar zu einem Ausradieren der Problematik von Rassismus und Kolonialismus

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Bemalte Büste von Baudouin, König von Belgien 1951 bis 1993, bekannt für seine postkoloniale Politik. Untersuchungen ergaben, dass er von den Plänen zur Ermordung Lumumbas wusste
Bemalte Büste von Baudouin, König von Belgien 1951 bis 1993, bekannt für seine postkoloniale Politik. Untersuchungen ergaben, dass er von den Plänen zur Ermordung Lumumbas wusste

Der Tod des Afroamerikaners George Floyd, der am 25. Mai 2020 in Minneapolis unter dem Knie eines weißen Polizisten erstickte, hat auf der ganzen Welt Aufsehen erregt. Es scheint, dass diese Tat und ihre weltweiten Auswirkungen nach und nach das Fundament der weißen Vorherrschaft untergraben: den Kolonialismus und das, was eine seiner wichtigsten "Rechtfertigungen" ist, den Rassismus.

Neben den Massendemonstrationen und dem Sturz von Statuen und anderen Denkmälern, die historischen Persönlichkeiten dieser beiden Übel gewidmet sind, wurden sie auch durch die Institutionen der ehemaligen Kolonialmächte selbst angegriffen, insbesondere in Europa.

Hier einige Beispiele: Allein im vergangenen Monat Juni hat Belgien eine parlamentarische Kommission ins Leben gerufen, die die Geschichte der Sklaverei in den ehemaligen Kolonien aufarbeiten soll; Deutschland hat die Verhandlungen mit Namibia über den Völkermord an den Herero und Nama wieder aufgenommen und das Europäische Parlament erklärte, dass die Sklaverei ein Verbrechen gegen die Menschheit ist.

Die Art und Weise, in der zahlreiche dieser löblichen antirassistischen und antikolonialistischen europäischen Initiativen formuliert sind, tendiert jedoch paradoxerweise zu einer gewissen Banalisierung, Zurückweisung von Verantwortlichkeit, Entpersonalisierung und sogar zu einem Ausradieren der Problematik von Rassismus und Kolonialismus; daraus ergibt sich eine Zwiespältigkeit.

Nachstehend wollen wir zwei dieser Ausführungen entschlüsseln, um ihre Ambivalenz aufzuzeigen.

Das Europäische Parlament und seine Resolution vom 19. Juni

Am Freitag, den 19. Juni, hat das Europäische Parlament eine Resolution über "die antirassistischen Proteste nach dem Tod von George Floyd" verabschiedet.

Warum dieser Titel für eine Resolution, deren Ziel darin besteht, die europäische Staaten zum Kampf gegen Rassismus aufzurufen? Als würde dieses Parlament endlich "den Balken im eigenen Auge" sehen, allerdings nur, weil es zuvor "den Splitter im Auge der anderen" bemerkt hat – eine Parodie des bekannten Bibelverses, durch die selbstverständlich nicht die Entsetzlichkeit der Ermordung heruntergespielt werden soll. Böse Zungen würden sagen, dass der Titel zweifellos eine gewisse Scheinheiligkeit erkennen lässt.

Im gleichen Stil werden auf detaillierte Weise die Umstände beschrieben, unter denen sich das Europäische Parlament dazu veranlasst gesehen hat, die Resolution zu verfassen. Auch die "Erwägungen" sind klar aufgeführt und orientieren sich allesamt daran, die Relevanz des Dokumentes für alle Staaten der Europäischen Union zu begründen; trotzdem ist nicht nachvollziehbar, worin die interne oder inhärente Beziehung zwischen der einen und der anderen Sache besteht. Konkret: Auf welche Weise verpflichtet der Umstand von Floyds Tod die Europäische Union notwendigerweise dazu, jetzt gegen den Rassismus zu kämpfen? War es vorher nicht notwendig?

Als wäre der Rassismus in den USA der Hauptgrund oder einer der Hauptgründe, die die europäischen Staaten dazu drängen sollten, dem Problem des Rassismus in der Europäischen Union ins Auge zu blicken und die entsprechende Entscheidung zu treffen, ihn in dieser Region der Welt zu bekämpfen. Auch wenn der Kern oder die Brutalität des Rassismus in jedem Kontext gleich ist, so könnte man doch fragen: Warum musste auf so ein entsetzliches Ereignis in den USA gewartet werden, um endlich anzuerkennen, dass in Europa "Schwarze Leben zählen", bis dahin, als regionaler Block "die Sklaverei zum Verbrechen gegen die Menschheit" zu erklären?

Als wäre das weltweite Aufsehen, das dieses Ereignis erregt hat, die Grundlage für jene äußerst interessante Resolution und nicht so sehr das Problem des Rassismus in Europa selbst. In dem Fall wäre es so, als ob man in den Spiegel der USA schaut und eher auf den Dreck hinweist, der da zu erkennen ist, als auf den Schmutz, den Europa hinsichtlich seiner rassistischen Praktiken im eigenen Spiegelbild sehen könnte. Es bleibt jedoch zweifelhaft, welchen Schmutz man auf reale und aufrichtige Weise betrachten will: den eigenen oder den der anderen? Oder dient der Schmutz der anderen vielmehr dazu, den eigenen zu verbergen und/oder zu minimieren und zu relativieren?

Andererseits wird in den "Erwägungen" (von A. bis I.) der erwähnten Resolution zuerst von George Floyds Tod gesprochen, von der grauenhaften Art und Weise, wie der weiße Polizist ihn tötete und die darauf folgenden gedankenlosen Entscheidungen von Präsident Donald Trump. Als hätten die europäischen Staaten aus Sicht dieses Parlaments nichts von diesen Nachrichten mitbekommen und als müsste es sie daher ein weiteres Mal skandalisieren. Das ist jedoch eine Strategie, denn in den daran anschließenden "Erwägungen" (von J. bis Z. hin zu A.E.), in denen die Situation in der Europäischen Union thematisiert wird, werden in erster Linie die EU-Vereinbarungen betont: die zugunsten der "Meinungs- und Informationsfreiheit", der "Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit" und die weiteren Gesetze und Maßnahmen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie mit Bezug auf die Grundrechte. Als würde, offensichtlich tendenziös, ein Kontrast zwischen dem Unrechtsstaat USA, den der Fall von George Floyd zeigt, und dem angeblichen Rechtsstaat der Europäischen Union hergestellt, den dieses ebenfalls "europäische" Parlament mit dem "Ritual" seiner Resolution bekräftigt.

Ist der Kontrast erst einmal hergestellt, durch den bewiesen werden soll, dass der andere (die USA) schlimmer ist, räumt das Parlament schließlich einige rassistische Praktiken bestimmter europäischer Institutionen ein, darunter die Polizei sowie manche Politiker und Meinungsführende des alten Kontinents. Der Kontrast dient auch dazu, auf der Notwendigkeit zu bestehen, einige dringende Maßnahmen gegen die weiße Vorherrschaft, die Fremdenfeindlichkeit und den systemischen Rassismus in Europa in Angriff zu nehmen; aber auf diese Notwendigkeit wird mit dem guten – oder zumindest nicht allzu schlechten – Gewissen hingewiesen, dass Europa nicht so schlecht dasteht wie der andere.

Aus all diesen Gründen wird für die Resolution ein rein informativer, lediglich unterrichtender, offen gesagt banaler Titel gewählt. Mit diesem Titel und insbesondere mit dieser Form der Strukturierung wird der politische, rechtliche und ethische Hintergrund des schwerwiegenden Themas ausgelöscht, das die Resolution angehen möchte. Daher die Ambivalenz dieser so lobenswerten parlamentarischen Initiative: Sie möchte alle Staaten der Europäischen Union und ihre Institutionen dazu aufrufen, Bewusstsein und Verantwortung im Kampf gegen Rassismus zu übernehmen, doch macht sie es auf eine neutrale, unpersönliche und sogar banale Art und Weise; so als müssten wir jetzt, da die ganze Welt über den Tod von George Floyd und die antirassistischen Proteste spricht, auch über den Kampf gegen den Rassismus sprechen. So wird der Kampf gegen Rassismus, zu dem das Europäische Parlament die EU-Staaten mutig und angemessen auffordert, paradoxerweise durch eben die Art und Weise banalisiert, in der jene Resolution betitelt und strukturiert wurde.

Der Brief des belgischen Königs anlässlich des kongolesischen Jahrestags der Unabhängigkeit

Ein weiteres Dokument, das unter die Lupe genommen werden muss, ist das Glückwunschschreiben, das der aktuelle belgische König Philippe dem Präsidenten der Demokratischen Republik Kongo, Félix Antoine Tshisekedi Tshilombo, am 30. Juni anlässlich des 60. Jahrestags der Unabhängigkeit der ehemaligen belgischen Kolonie geschickt hat. Dieser Brief steht sowohl im Zusammenhang mit der Untersuchung der Geschichte der Sklaverei, die das belgische Parlament zuvor aufgenommen hat, als auch mit der Protestwelle infolge des Todes von George Floyd und den Angriffen auf die Statuen von Kolonisatoren und rassistischen Denkern in Europa, darunter auch Leopold II., ein Vorfahre des heutigen belgischen Monarchen.

Ebenso wie die zuvor erwähnte Resolution des Europäischen Parlaments stellt dieser Brief ein bedeutungsvolles Ereignis in der Geschichte des Kampfes gegen den Rassismus in Belgien und in Europa dar. Zudem zeigt sich König Philippe darin herzlich, spricht von "unseren Gefühlen tiefer Freundschaft" mit der Republik Kongo, von der "intensiven Zusammenarbeit, die zwischen unseren beiden Ländern existiert", und von "unserer langen gemeinsamen Geschichte". Als würden die bereits in sich schönen Begriffe "Freundschaft", "Zusammenarbeit" und "gemeinsame Geschichte" nicht ausreichen und als wäre es notwendig, sie zu überdimensionieren; der Grund hierfür ist, dass der König direkt im Anschluss eine kurze Zusammenfassung von "unserer Geschichte", "geschaffen durch gemeinsame Leistungen", "die jedoch auch schmerzhafte Ereignisse gekannt hat", zu geben versucht. So wie im vorherigen Fall der Resolution nutzt auch dieser Brief die äußeren Umstände, diesmal den 60. Jahrestag der kongolesischen Unabhängigkeit und sogar die Covid-19-Pandemie, um mit aller Milde das unbequeme Thema der "schmerzhaften Zeiten" anzusprechen.

Was an diesem Schreiben des Königs Philippe allerdings besonders ins Auge springt, ist der so deutliche Kontrast zwischen der persönlichen Form, in der er all das Positive oder Schöne dieser gemeinsamen Geschichte beider Länder hervorhebt, und der unpersönlichen Art, mit der er das Negative oder Hässliche betont, das in dieser Geschichte geschah.

So spricht er zum Beispiel von "unseren Gefühlen tiefer Freundschaft", "unseren Verbindungen", "unserer gemeinsamen Geschichte"; doch auch wenn er sich auf sein "tiefstes Bedauern" (original auf Französisch: “mes plus profonds regrets”) bezieht, so entpersonalisiert er die Taten, die dieses angebliche Bedauern überhaupt erst hervorgerufen haben, nämlich: die "Akte der Gewalt und der Grausamkeit, die in der Zeit des Kongo-Freistaats begangen wurden", "die Leiden und Erniedrigungen", die in der Kolonialzeit verursacht wurden. Als würde der amtierende König auf die gleiche Weise (oder sogar noch mehr) leiden, wie die Nachfahren der kongolesischen Bevölkerung selbst, die erbarmungslos versklavt wurden; mit dem Unterschied, dass in dieser gemeinsamen Geschichte einer gewann, sich bereicherte und ein wohlhabendes Land auf Kosten des anderen errichtete, den diese Vergangenheit bis zum heutigen Zeitpunkt in der Armut versinken lässt und von seinem eigenen Land entwurzelt.

Darauf aber besteht der König: "Ich werde weiterhin gegen alle Formen von Rassismus kämpfen." Damit auch ja deutlich wird, dass "er" persönlich diese negativen, verletzenden Zustände ändern möchte und weiterhin ändern wird. So ein Glück.

Und ab dieser Stelle beginnt der belgische Monarch zu predigen, ganz der gute König: "Die globalen Herausforderungen verlangen, dass wir im Geiste der Zusammenarbeit und des gegenseitigen Respekts in die Zukunft blicken. Der Kampf für die Menschenwürde und die nachhaltige Entwicklung erfordert, dass wir unsere Kräfte vereinen. Dies ist der Wunsch, den ich für unsere beiden Länder und unsere beiden Kontinente zum Ausdruck bringe." Als müssten die Kongolesen diesem visionären König schon im Voraus danken, der die Zukunft so klar vor sich sieht, in die er sie führen wird ‒ der jedoch in Hinblick auf die Vergangenheit, die Schrecken und die Verbrechen dieser gemeinsamen Geschichte so wortkarg ist und der selbstverständlich keinerlei Verantwortung bei sich oder seinen Vorfahren zum Ausdruck bringt: Uns bleibt also nur sein "tiefstes Bedauern" und sonst nichts, vorerst.

Dieser Brief des Königs Philippe erinnert uns ein wenig an die Ansprache seines Vorgängers Baudouin anlässlich der Unabhängigkeit der Republik Kongo vor 60 Jahren: "Afrika und Europa ergänzen sich gegenseitig und sind aufgerufen, auf Grundlage der Zusammenarbeit zur strahlendsten Zukunft zu gelangen"; selbstverständlich sagte er dies erst, nachdem er der Welt klar gemacht hatte, dass "die Unabhängigkeit des Kongo die Fortführung des Werkes darstellte, das König Leopold II. geschaffen hat." Dies ist der Gipfel des Zynismus: Wie kann der als "Völkermörder" angesehene Leopold II. als Befreier eines Volkes präsentiert werden, das er den grässlichsten Grausamkeiten unterworfen hat? Der heutige König Philippe thematisiert die Vergangenheit in seinem Brief auf andere Art und Weise und zeigt ein wenig Respekt.

Nichtsdestotrotz verschleiern all diese Äußerungen der belgischen Monarchie bezüglich der Unabhängigkeit der Republik Kongo, von König Baudouin bis hin zum amtierenden König Philippe, in großem Maße die Verantwortlichkeit des ehemaligen Kolonisators, insbesondere konkret die des Königs Leopold II. für die kolonialen Grausamkeiten. Als würde ein ums andere Mal der Versuch unternommen, den Kern des Problems des Kolonialismus auszuradieren, nämlich den Rassismus gegen Schwarze. Diese Auslöschung steht im klaren Gegensatz zu der Deutlichkeit der Beziehung zwischen Rassismus und Kolonialismus, die der damalige Premierminister Patrice Lumumba in der ersten Rede zur Unabhängigkeit des afrikanischen Landes im Jahr 1960 hervorhob: "Wir haben Verspottungen, Beleidigungen, Schläge erlebt, morgens, mittags und abends mussten wir darunter leiden, weil wir 'Schwarze' waren."1

Sollten die europäischen Autoritäten Afrika und den Opfern und/oder Nachfahren der Opfer von Kolonialismus und Rassismus nicht ein wenig mehr zuhören, um nicht wieder und wieder in diese Ambivalenz zu verfallen?

Der Afrokolumbianer Wooldy Edson Louidor ist Professor und Forscher am Institut für Sozial- und Kulturwissenschaften der Pontificia Universidad Javeriana in Bogotá

  • 1. In seiner Ansprache sagte Lumumba wörtlich: „Nous avons connu les ironies, les insultes, les coups que nous devions subir matin, midi et soir, parce que nousétions des ‚nègres‘.“