Brasilien im Katastrophenmodus

Im Land mit den zweithöchsten Fallzahlen regt sich zaghafter Widerstand gegen die Regierung

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Immer mehr Menschen gehen gegen Bolsonaro und für Demokratie auf die Straße. Hier bei einer Demonstration in São Paulo am 7. Juni
Immer mehr Menschen gehen gegen Bolsonaro und für Demokratie auf die Straße. Hier bei einer Demonstration in São Paulo am 7. Juni

Mit 1.315.941 Infizierten und 57.103 Toten (Stand: 28. Juni) entwickelt sich Brasilien zum neuen Epizentrum der weltweiten Corona-Pandemie. Doch statt Krisenmanagement steht auf der Agenda des ultrarechten Präsidenten Jair Bolsonaro weiterhin nur sein eigener politischer Überlebenskampf und der Schutz seiner Familie. Der Machtkampf zwischen Oberstem Gerichtshof (STF) und Regierung ist in vollem Gange. Und auf der Straße stehen neben den antifaschistischen Fußball-Ultras immer größere Teile der Zivilgesellschaft den Bolsonaro-Anhänger gegenüber.

"Wir befinden uns nicht mehr im Ausnahmezustand, sondern im Katastrophenfall", erklärte der Bürgermeister von Manaus, Arthur Virgílio Neto, bereits Ende April unter Tränen. Seit in Brasilien am 19. Mai die erschreckende Marke von mehr als 1.000 Corona-Toten innerhalb von 24 Stunden überschritten wurde, jagt ein Höchstwert der täglichen Todesfälle den nächsten. Inzwischen hat sich das neuartige Virus SARS-CoV-2 in allen brasilianischen Bundesstaaten ausgebreitet.

Brasilien weist aktuell weltweit die zweithöchsten Fallzahlen auf. Ende Mai lag die Auslastung der Intensivbetten in den meisten Bundesstaaten bei über 70 Prozent. Neben São Paulo und Rio de Janeiro sind besonders die Bundestaaten Ceará und Pernambuco im Nordosten betroffen sowie der flächengrößte Bundesstaat Amazonas. In dessen Hauptstadt Manaus stehen für die 2,1 Millionen Einwohner 243 Intensivbetten in öffentlichen Krankenhäusern zur Verfügung. Zu Beginn der Pandemie waren es sogar nur 107. Im Inland des Bundesstaates ist die Versorgungslage noch kritischer.

Mit der Initiative "S.O.S Manaus – Hilfe für die Hüter des Regenwaldes" versucht Bürgermeister Virgílio Neto auch im Ausland für finanzielle und materielle Unterstützung zu werben. Seine Initiative richtete sich an 21 Staats- und Regierungschefs, darunter die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel. Prominente Unterstützung erhielt er von Greta Thunberg. In einem Video rief sie gemeinsam mit zwölf internationalen Fridays for Future-Aktivisten die internationale Gemeinschaft dazu auf, den Bundesstaat im Amazonas zu unterstützen und machte auf die globalen Folgen der hohen Todesrate, vor allem in der indigenen Bevölkerung, aufmerksam.

Während Bürgermeister und Gouverneure der Bundesstaaten sich lange Zeit Bolsonaros Aufruf widersetzten, zur Normalität zurückzukehren, beginnt langsam die Aufweichung der Maßnahmen. João Doria, Gouverneur von São Paulo, verfügte ab dem 1. Juni erste Lockerungen: Noch bevor der Höhepunkt der Krise erreicht ist, öffnen Einzelhandel, Büros und Einkaufszentren in Teilen des Bundesstaates. "Wir werden die Quarantäne beibehalten, aber mit einer gewissenhaften Wiederaufnahme einiger wirtschaftlicher Aktivitäten beginnen", so der wirtschaftsnahe Gouverneur. Zum Zeitpunkt der Entscheidung lag die Auslastung der Intensivbetten im Bundestaat bei 75 Prozent, in der Hauptstadt São Paulo sogar bei 91 Prozent.

Mitten in der Pandemie bleibt das aktuell wichtigste Ministerium führungslos: Nach dem Rauswurf des Gesundheitsministers Luiz Henrique Mandetta Mitte April, trat sein Nachfolger Nelson Teich nach nur 29 Tagen im Amt ohne genaue Angabe von Gründen zurück. Sein ehemaliger Vize, General Eduardo Pazuello, ist seither offizieller Interims-Minister. Laut der Tageszeitung Estadão sollen 40 weitere Posten im Gesundheitsministerium mit Militärs besetzt werden.

Aus dem Präsidentenpalast heißt es zu Teichs Rücktritt, Minister und Präsident seien sich über den Einsatz des Medikaments Chloroquin bei der Behandlung gegen Covid-19 uneins gewesen. Wie der US-amerikanische Präsident Donald Trump wirbt auch Brasiliens Präsident Bolsonaro dafür, Corona-Virus-Erkrankte mit dem Malaria-Medikament zu behandeln oder es sogar präventiv einzusetzen.

Die Wirkung von Chloroquin und seinem Wirkstoff Hydroxychloroquin gegen eine Corona-Erkrankung ist wissenschaftlich nicht bewiesen. Er selbst besitze eine "kleine Schachtel" des Medikaments für den Fall, dass seine 93-jährige Mutter sie brauche. In einem Interview erklärte er die Einnahme des Medikaments zur ideologischen Frage. "Wer rechts ist, nimmt cloroquina, wer links ist, nimmt tubaína". Laut der Nachrichtenseite DCM spielt Bolsonaro damit nicht nur auf die gleichnamige Limonade an. Unter Militärs werde der Begriff auch für eine Foltertechnik durch Ertränken verwendet.

Der Präsident konzentriert sich unterdessen auf andere Themen. In der Auseinandersetzung mit dem ebenfalls zurückgetretenen Justizminister Sérgio Moro gab der oberste Gerichtshof STF den zweistündigen Videomitschnitt einer Kabinettssitzung vom 22. April frei. Er sollte den Vorwurf Moros belegen, Bolsonaro habe versucht, einen Vertrauten zum Chef der Bundespolizei zu ernennen. Bolsonaro habe sich so erhofft, Informationen zu laufenden Ermittlungen gegen seine Söhne zu erhalten.

Doch das Video gibt noch ganz andere Einblicke: Bolsonaro beleidigte Gouverneure als "Stück Scheiße" und setzte seine Minister unter Druck, seiner ideologischen Linie treu zu bleiben und seine Einmischungen zu dulden – oder ihr Amt niederzulegen. Ideologische Grabenkämpfe sind auch im Corona-Ausnahmezustand die oberste Priorität des Präsidenten.

Diese Haltung Bolsonaros ist nicht nur beleidigend. Sie ist auch bedrohlich. "Schaut euch an, wie einfach es ist, eine Diktatur in Brasilien zu installieren. Darum will ich, dass das Volk sich bewaffnet", so wendete sich Bolsonaro in der Sitzung an den Justiz- und den Verteidigungsminister.

Einen Tag später veröffentlichte seine Regierung eine Verordnung, nach der es Waffenbesitzer in Brasilien nun möglich ist, mehr als 6.000 Projektile pro Jahr zu kaufen, zwölfmal mehr als zuvor. Laut dem Institut Sou da Paz könnten sich die im Land registrierten Waffenbesitzer nun innerhalb eines Jahres mit mehr Projektilen eindecken, als Brasilien Einwohner zählt.

Nicht nur der Präsident artikuliert sein zweifelhaftes demokratisches Verständnis deutlicher denn je, auch seine Minister: Umweltminister Ricardo Salles schlägt vor, die Krise zu nutzen, um unbemerkt von der Presse Änderungen an der Umweltgesetzgebung vorzunehmen. Und Bildungsminister Abraham Weintraub kommentierte, die "Verbrecher" des Obersten Gerichtshofs sollten im Gefängnis sitzen. Der Bundesrichter Alexandre de Moraes schloss Weintraub daraufhin in die seit 2019 laufenden Ermittlungen zur Verbreitung von Fake News durch Regierungsmitglieder und Angehörige des Bolsonaro-Clans ein. Bei der Vernehmung schwieg Weintraub zu den Vorwürfen. Ob der Minister sich für die Äußerungen verantworten muss, entscheiden die Bundesrichter in der zweiten Juniwoche. Sein Kollege, der Justizminister André Mendonça, beantragte schon einmal vorsorglich seinen Freispruch.

Die Bundespolizei ermittelt auch in einem anderen Fall gegen Weintraub. Auf Twitter fiel er mit rassistischen Äußerungen gegen China auf und löste eine weitere diplomatische Krise mit Brasiliens wichtigstem Handelspartner aus.

Auch wenn das Video der Kabinettsitzung Brasilien und der ganzen Welt einen tiefen Einblick in Bolsonaros Horrorkabinett gibt – aus der Sicht von Experten wird es Bolsonaros Popularität wenig beeinflussen. Sein desaströses Krisenmanagement hat die Zustimmung der Bevölkerung gegenüber ihrem Präsidenten nur marginal verändert. Der Anteil der treuen Bolsonaro-Anhänger liegt, je nach Umfrage, weiterhin zwischen 28 und 33 Prozent.

Dennoch mobilisiert sich langsam aber sicher ein Teil der Zivilgesellschaft gegen den Ultrarechten. Immer mehr Menschen gehen "Für die Demokratie" und "gegen den Faschismus" auf die Straße. Bereits Ende Mai schlossen sich in São Paulo eigentlich rivalisierende Fußballfans der vier größten Vereine zusammen und führten die Demonstrationen an. In Brasília trennten bei den Protesten am 7. Juni 300 Einsatzkräfte der Nationalen Einheit für öffentliche Sicherheit (FNSP) die antifaschistischen Demonstrierenden von Bolsonaro-Sympathisanten. Zuletzt weiteten sich die Proteste auf 20 Bundeshauptstädte aus.

Befeuert werden sie durch die weltweiten Black Lives Matter-Demonstrationen. In Brasilien starben 2019 sechsmal mehr Menschen durch Polizeigewalt als in den USA. 75 Prozent der Ermordeten waren Schwarz.

Präsident Bolsonaro diskreditierte die antifaschistischen Demonstrierenden als "Terroristen", eine Anspielung auf Donald Trumps jüngsten Vorschlag, die Antifa als Terrororganisation einzustufen. In der Tageszeitung Estadão äußert sich auch Vizepräsident Hamilton Mourão zu den Demonstrationen. Die Proteste könnten vielen Zwecken dienen, "aber niemals der Verteidigung der Demokratie", so der ehemalige General.

Mit Präsident und Vizepräsident beanspruchen in Brasilien aktuell diejenigen die Definitionshoheit der Demokratie, denen sie am wenigsten zuzutrauen ist.

Das brasilianische Zentrum für die Analyse von Freiheit und Autoritarismus (LAUT) stellt für die Monate April und Mai fast täglich Handlungen der Exekutive fest, die ein Risiko für die Freiheit und Demokratie in Brasilien darstellen. Bolsonaros Annahme, sich ohne Kontrolle in alle Sphären des Staates einmischen zu können, widerspricht dem Prinzip der Gewaltenteilung.

41 Anträge zur Amtsenthebung des Präsidenten sind beim Präsidenten des Abgeordnetenhauses, Rodrigo Maia, bis Ende Mai eingegangen. Ein Großteil der Anträge bezieht sich auf Bolsonaros Verletzungen der Prinzipien des Rechtsstaats.

Darunter ist auch ein gemeinsames Gesuch von vier Parteien der linken Opposition, unter anderem der Arbeiterpartei PT, aber auch von einem großen Bündnis von Organisationen der Zivilgesellschaft.

Die Chancen für den Erfolg eines Verfahrens stehen jedoch schlecht. Risikoanalysten der Eurasiagroup beziffern die Wahrscheinlichkeit, dass ein Impeachment Bolsonaros Mandat vorzeitig beendet, mit 25 Prozent.

Wenn die Stimmung der Bevölkerung nicht umschlägt, werden die für die Amtsenthebung notwendigen zwei Drittel des Abgeordnetenhauses nicht zu mobilisieren sein. So ist ein Impeachmentprozess gegen Bolsonaro auch für die Opposition nicht ohne Risiko, denn "ein überstimmtes Amtsenthebungsverfahren würde den Präsidenten stärken", stellt der Politikwissenschaftler José Murilo de Carvalho fest.

Der Beitrag ist erschienen in den Lateinamerika Nachrichten Nr. 552