Forderungen internationaler Konzerne könnten für die armen Länder verheerend sein

Unternehmen können Handelsgerichte anrufen, um zu verhindern, dass Maßnahmen für die öffentliche Gesundheit ihre Gewinne schmälern

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Die Mehrheit der Investor-Staats-Klageverfahren wird bei der Weltbank am International Center for Settlement of Investment Disputes (ICSID) in Washington verhandelt
Die Mehrheit der Investor-Staats-Klageverfahren wird bei der Weltbank am International Center for Settlement of Investment Disputes (ICSID) in Washington verhandelt

Das Letzte, was die verarmten Länder im Kampf gegen die Verwüstungen durch die Corona-Pandemie brauchen, sind die Forderungen mächtiger transnationaler Konzerne in ihrem Versuch zu verhindern, dass Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit ihre Profite beeinträchtigen.

Das Land befand sich im freien Fall. Familien aus der Mittelschicht verkauften ihre Wertsachen auf der Straße. Bei Einbruch der Dunkelheit suchten die Verzweifeltesten in den Mülleimern nach Essen.

Das war Argentinien im Jahr 2002. In dieser dunklen Stunde, als argentinische Beamte darum kämpften, den Schmerz einer tiefen Wirtschaftskrise bei der Bevölkerung zu lindern, war eine Flut von Unternehmensforderungen das Letzte, was sie brauchten. Aber es war das, was sie bekamen.

So verklagte beispielsweise CMS Gas Argentinien wegen des Einfrierens der Tarife für öffentliche Versorgungsleistungen. Der Staat hatte diese Tarife festgelegt, um so die Verbraucher vor einer galoppierenden Inflation zu schützen. Ein supranationales Gericht verurteilte die unter Druck stehende Regierung zur Zahlung von 133 Millionen US-Dollar an das US-Unternehmen. Andere Unternehmen einigten sich mit der argentinischen Regierung über weitere Hunderte von Millionen Dollar.

Viele der angesichts der globalen Covid-19-Pandemie um ihr Überleben kämpfenden Länder könnte das Schicksal Argentiniens ereilen. Mit dem beginnenden wirtschaftlichen Niedergang müssen Entscheidungsträger und Politiker nun befürchten, dass ihr politisches Handeln sie zur Zielscheibe von Forderungen in Höhe von vielen Millionen Dollar machen könnte.

Ein exklusives Rechtssystem für Unternehmen

Die Anwaltskanzleien scheinen sich angesichts des von solcherart Klagen ausgehenden Potenzials bereits die Hände zu reiben.

"Während die Zukunft ungewiss bleibt", so Aceris Law, eine supranationale Schiedsgerichtskanzlei, "werden die staatlichen Reaktionen auf die Covid-19-Pandemie wahrscheinlich mehrere BIT-Schutzmaßnahmen verletzen und zu künftigen Ansprüchen ausländischer Investoren führen". Das in Washington ansässige Unternehmen Aceris hat Schiedsverfahren für zahlreiche globale Unternehmen gewonnen.

Es handelt sich um ein Rechtsgebiet, das durch die Verbreitung von etwa 3.000 internationalen Investitionsverträgen und Handelsabkommen lukrativ geworden ist. Diese Verträge und Abkommen räumen den Unternehmen das Recht ein, Regierungen aufgrund einer Minderung des Wertes ihrer ausländischen Investitionen oder sogar aufgrund einer erwarteten Minderung des Gewinns auf Hunderte von Millionen oder sogar Milliarden Dollar zu verklagen. Möglich wird dies durch die Verwendung der Klausel der "indirekten Enteignung".

Durch dieses System der "Investor-Staat-Streitbeilegung", besser bekannt unter der englischen Abkürzung ISDS, können ausländische Investoren nationale Gerichte umgehen und Forderungen direkt bei supranationalen Schiedsgerichten einreichen. Das am häufigsten angerufene Schiedsgericht ist das Internationale Zentrum für die Beilegung von Investitionsstreitigkeiten ICSID der Weltbank.

Ein reiches Land wie die USA könnte solchen Forderungen wegen politischen Handelns gegen das Coronavirus natürlich die Stirn bieten. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, die Trump-Administration würde das südkoreanische Hyundai-Werk in Alabama zwingen, Ventilatoren statt Autos herzustellen. Hyundai hätte daraufhin das Recht, im Rahmen des Freihandelsabkommens zwischen den USA und Korea eine Klage einzureichen.

In der Praxis würden jedoch nur wenige ausländische Unternehmen zu einem rechtlichen Schlag gegen die Trump-Administration ausholen. Die Vereinigten Staaten haben tatsächlich noch nie einen Fall verloren. Die Regierungen der Entwicklungsländer sind dagegen einem viel größeren Risiko ausgesetzt. Sie sind Aufnahmeländer für transnationale Unternehmen und dadurch auch politisch verwundbarer.

So gibt es bereits Befürchtungen, dass die peruanische Regierung mehrfach mit Einsprüchen ausländischer Unternehmen, die Mautstationen auf Autobahnen betreiben, konfrontiert werden könnte, wenn sie der vorgeschlagenen Notfallmaßnahme nachkommen würde, die Mautgebühren auszusetzen, weil peruanische Familien bei ihrem Exodus aus den Städten die Autobahnen füllten – aus Angst vor dem Virus.

Mehrere andere Rechtsexperten haben davor gewarnt, dass ausländische Investoren mit massivem Druck in Form von Zahlungsforderungen reagieren könnten, wenn Regierungen als Reaktion auf Covid-19 im Bereich der öffentlichen Gesundheit und der Wirtschaftspolitik Notfallmaßnahmen ergreifen würden; zu diesen Maßnahmen könnten z.B. Produktionsauflagen, Exportverbote für medizinisches Gerät oder die Zollsenkungen auf die Einfuhr von medizinischen Geräten gehören.

Arme Länder im Visier

Dass Unternehmen die ISDS nutzen, um im öffentlichen Interesse erteilte Vorgaben und Vorschriften zu unterhöhlen, hat nicht erst mit der Pandemie begonnen. Nach Aussagen der Handels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen (UNCTAD) haben ausländische Investoren im Jahr 2020 die Marke von mehr als 1.000 Investor-Staat-Klagen erreicht. Aufgrund des Mangels an Transparenz weiß niemand genau, wie viel die Regierungen bisher zahlen mussten.

Am Institut für Politikstudien (IPS) in Washington D.C. haben wir errechnet, dass Regierungen allein in den Fällen von Streitigkeiten zu Öl-, Gas- und Bergbauverträgen gezwungen waren, ausstehende Zahlungen in Höhe von mindestens 72,4 Milliarden Dollar zu leisten. Auf Rohstoffindustrien wie den Bergbau entfällt ein großer Anteil der Klagen. Diese werden häufig von Regierungen ausgelöst, die versuchen, die durch diese wirtschaftlichen Tätigkeiten verursachten Schäden an der Umwelt oder der öffentlichen Gesundheit zu verhindern oder sicherzustellen, dass im Herkunftsland ein höherer Ertrag verbleibt.

Von den 34 früheren Fällen von Ansprüchen von Rohstoffunternehmen, die wir untersucht haben, richtete sich nur einer gegen Kanada. Alle anderen Fälle richteten sich gegen Regierungen von Ländern des globalen Südens. Die Rohstoffunternehmen klagen in 59 anhängigen Fällen, die bekannt sind, auf mindestens weitere 73 Milliarden Dollar. Von diesen Ansprüchen richten sich nur fünf an Regierungen reicher Länder. Weitere Milliarden betreffen Schlichtungsklagen von Unternehmen der Agrarindustrie, des Finanzwesens, des Energiesektors und vieler anderer Branchen. Diese Unternehmen drohen damit, eigentlich für die Pandemie-Bewältigung und andere dringende sozialen Bedürfnisse bestimmte Ressourcen umzuleiten.

Schon vor der aktuellen Krise der öffentlichen Gesundheit hatten sich einige Länder stark verschuldet, um transnationalen Unternehmen ihre Ansprüche aus Schiedssprüchen zu zahlen.

In einem Schiedsverfahren zu einer Gold- und Kupfermine wurde Pakistan im Jahr 2019 zur Zahlung von etwa fünf Milliarden Dollar an das australische Unternehmen Tethyan Copper verurteilt. Dieser Betrag macht einen großen Teil des kürzlich ausgehandelten Rettungsdarlehens des Internationalen Währungsfonds an Pakistan in Höhe von 6 Milliarden Dollar aus, das zusätzlich noch an drakonische wirtschaftliche Sparmaßnahmen geknüpft ist.

Ecuadorianische Organisationen brachten im vergangenen Jahr vor, dass IWF-Kredite, welche mit Sparmaßnahmen verbunden waren, die zu großen Protesten im Land führten, zur Bezahlung transnationaler Unternehmen wie Chevron verwendet würden. Diese US-amerikanische Ölgesellschaft gewann in einer Klage Investoren vs. Staat 77 Millionen Dollar gegen Ecuador; weitere Klagen sind anhängig.

Mit dem neuen Abkommen zwischen Mexiko, USA und Kanada (oder dem neu ausgehandelten "NAFTA 2.0") wurden einige Fortschritte zur Abschwächung des Mechanismus zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investoren und Staaten erzielt. Einerseits wird er zwischen den USA und Kanada abgeschafft, andererseits bleibt Mexiko aufgrund der komplexen Bedingungen des Abkommens nach wie vor für Klagen US-amerikanischer und kanadischer Unternehmen (letztere im Rahmen des Transpazifik-Abkommens) anfällig. Damit wird der neokolonialistische Charakter des Investitionsschutzsystems weiter gestärkt.

Die Opfer der wirtschaftlichen Folgen von Covid-19 werden nicht ausländische Investoren sein, sondern die ärmsten und verletzlichsten Gesellschaften der Welt. Wenn Länder auf der ganzen Welt um Ressourcen für den Umgang mit der Covid-19-Pandemie kämpfen, sollten die Regierungen auf multilateraler Ebene zusammenkommen und sich darauf einigen, alle Investoren-Staat-Fälle sowie die ausstehenden Zahlungen an Unternehmen unverzüglich auszusetzen.

Darüber hinaus müssen längerfristig die übermäßigen Befugnisse ausländischer Investoren aus den Handels- und Investitionsverträgen vollständig abgebaut werden.

Manuel Pérez-Rocha aus Mexiko ist Mitarbeiter Institute for Policy Studies in Washington