Der Machismus in Mexiko unterliegt keiner Quarantäne

Frauen in Mexiko sterben eher durch Feminizide als am Coronavirus

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Bis Mitte April dieses Jahres sind in Mexiko 122 Frauen an Covid-19 gestorben. Im gleichen Zeitraum wurden 490 Frauen Opfer von Feminiziden
Bis Mitte April dieses Jahres sind in Mexiko 122 Frauen an Covid-19 gestorben. Im gleichen Zeitraum wurden 490 Frauen Opfer von Feminiziden

Nach Jahren der Gewalt durch ihren Ehemann, nach der erfolglosen Erstattung von Anzeigen wegen Körperverletzung bei der Staatsanwaltschaft, die sie nur zu Versöhnung angehalten hatte, wusste Marcela Benítez1, dass sie nicht ungeschoren aus der vorgeschriebenen Isolation des Gesundheitsnotstandes herauskommen würde. 27 Jahre alt, Mutter von zwei Kindern und ansässig in Mexiko-Stadt, stand Benítez in Kontakt mit der Frauenrechtsorganisation Espacio Mujeres para una Vida Digna y Libre de Violencia, die ihr rechtlichen und psychologischen Beistand verschafften. In der letzten Märzwoche, nachdem sie wieder Schläge von ihrem Partner erlitten hatte, dachte sie: "Mein Mann wird mich umbringen, wenn ich all die Tage zu Hause bleibe". So nahm sie ihren kleinen Koffer, den ihr das Frauenhaus empfohlen hatte vorzubereiten. Sie nutze die Gelegenheit als ihr Aggressor unter der Dusche stand, rief ihre Kinder und zusammen machten sie sich heimlich davon.

Dies ist eine Geschichte von vielen, die zahlreiche Frauen in Mexiko in der aktuellen Situation der Isolation aufgrund des Coronavirus erleben. Frauen sind wesentlich stärker von den Folgen der Pandemie betroffen, da viele ihren Gewalttätern zu Hause schutzlos ausgeliefert sind. Wie vom Nationalen Institut für Statistik und Geographie in Mexiko festgestellt, ist der Haushalt der gefährlichste Ort für Frauen, aufgrund von Gewalt die sie dort erfahren. In der Zeit der Isolation sind die Fälle von sexualisierter Gewalt in Mexiko angestiegen und mehr Frauen sind durch Feminizide ums Leben gekommen als durch das Coronavirus.

Bis Mitte April diesen Jahres sind in Mexiko 406 Menschen an Covid-19 gestorben, davon waren 122 Frauen. Im gleichen Zeitraum wurden 490 Frauen Opfer von Feminiziden. Jeden Tag werden 10 Frauen in Mexiko ermordet, alle zweieinhalb Stunden eine. In den Monaten Januar und Februar dieses Jahres sind die Fälle der Feminizide um 9,1 Prozent angestiegen, im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres. Inzwischen sind in Mexiko über 35.000 bestätigte Corona-Infizierte gemeldet, davon sind mehr als 3.400 gestorben. Die Fallzahlen zu Personen, die in Mexiko am Coronavirus gestorben sind, sind sehr unzuverlässig. Unter anderem wegen der Schwierigkeit einen Test zu erhalten, da es nicht genügend gibt und sie sehr teuer sind. Einer Untersuchung der New York Times zufolge, ignoriert die mexikanische Regierung hunderte, vielleicht tausende von Toten, die in Mexiko-Stadt am Coronavirus gestorben sind.

Trotz des dramatischen Ausmaβes der Gewalt gegen Frauen hat der Staat auch dazu keine verlässlichen und aufgeschlüsselten Zahlen oder möchte sie nicht publik machen. Dies erläutert der Bericht "Straflosigkeit von Feminiziden. Untersuchung der offiziellen Daten zur Gewalt gegen Frauen (2017-2019)", von dem Menschenrechtsnetzwerk Red Todos Los Derechos Para Todas Y Todas (Alle Rechte Für Alle).

Die Pandemie erschwert die Situation für viele Frauen, die Gewalt erleben, da weniger Frauenhäuser geöffnet sind, die Polizei weniger einschreitet und der Zugang zu rechtlichem Beistand erschwert wird. Für viele ist es schwieriger im Falle von Gewalt Notfallnummern anzurufen, aufgrund der Isolation zu Hause mit der Familie.

Darüber hinaus ist der Zugang zu sexueller und reproduktiver Gesundheitsversorgung eingeschränkt. Das Nationale Zentrum für Geschlechtergerechtigkeit und reproduktive Gesundheit hat für den Zeitraum von April bis Juni 2020 circa 260.000 Fälle von Geburtshilfe, 235.000 Geburten, 25.000 Schwangerschaftsabbrüche, 1.150.000 pränatale Kontrollen und 200.000 medizinische Beratungen während des Wochenbetts prognostiziert. All diese Fälle sind von den Einschränkungen betroffen. Vor allem im Hinblick auf Schwangerschaftsabbrüche wird es schwerwiegende Folgen für viele Betroffene geben, von körperlichem Leid bis hin zum Tod. In den meisten Bundesstaaten Mexikos ist der Schwangerschaftsabbruch ohnehin verboten und nun durch die Isolation sind einige Kliniken geschlossen und Schwangerschaftsabbrüche bis auf Weiteres eingestellt. Außerdem ist der Zugang dazu immer schon eine finanzielle Frage und abhängig von der sozialen Klasse.

Seit Beginn der Pandemie ist die Gewalt gegen Pflegepersonal, Ärztinnen und Ärzte drastisch angestiegen und viele erleiden Angriffe auf dem Weg zur Arbeit. Sie werden als Repräsentanten des Coronavirus und Gefahr der Ansteckung betrachtet. 80 Prozent des Pflegepersonals und 40 Prozent der Ärzte in Krankenhäusern in Mexiko sind Frauen. Insofern trifft diese Form von Gewalt wieder vor allem diese Bevölkerungsgruppe.

Wie die Zahlen bereits zeigen, arbeiten zum größten Teil Frauen in Pflegeberufen. Hinzu kommt Care-Arbeit (Pflegearbeit, soziale Reproduktionsarbeit) im eigenen Haushalt. Auf diese Weise befinden sich Frauen in direkter Ansteckungsgefahr mit dem Coronavirus. Besonders stark betroffen von der Gefahr einer Infektion und den Folgen der Isolation sind Arbeiterinnen und Arbeiter. Über 60 Prozent der mexikanischen Bevölkerung arbeiten im informellen Sektor und leben von der Hand in den Mund. Mehr als 54 Prozent davon sind Frauen. Diese können sich den Luxus der Isolation gar nicht leisten, da sie keine Rücklagen, geschweige denn ein sicheres Einkommen haben. Arbeiterinnen leisten zudem die Care-Arbeit in Haushalten der Mittel- und Oberschicht. Dies geschieht häufig unbezahlt und ohne Arbeitsvertrag. Die Frauen haben weder Arbeitnehmerinnenrechte, noch Sozial- oder Krankenversicherung. Als Haushaltsarbeiterinnen sind indigene Frauen überrepräsentiert und stehen damit in Fortsetzung kolonialer Gesellschaftsverhältnisse, die stark von Rassismus geprägt sind.

Indigene Frauen gehören zu der vulnerabelsten Gruppe in Mexiko, sowie Frauen in Armut, Migrantinnen, Mädchen, Opfer von Menschenhandel und Frauen mit Beeinträchtigungen. Indigene Gemeinden leiden überproportional unter der Krise des Coronavirus, aufgrund der prekären Bedingungen in denen sie auch schon vor der Pandemie lebten, mit schlechtem Zugang zu Gesundheits- und Trinkwasserversorgung. In vielen Fällen sind sie betroffen von Landraub und -Zerstörung durch Extraktivismusprojekte von transnationalen Firmen. Zudem erfahren sie Rassismus durch ihren Sprachgebrauch und durch die Ausübung kultureller Traditionen, wie zum Beispiel durch das Tragen von traditioneller Kleidung. Informationen zur Situation der Pandemie wurden in vielen Fällen nicht in den indigenen Sprachen zur Verfügung gestellt.

Die aktuelle Situation der Coronavirus-Pandemie verdeutlicht uns die soziale Ungleichheit und Geschlechterungerechtigkeit in vielen Ländern der Welt. Denn die Ansteckung und die Folgen der Isolation verlaufen entlang der Strukturen von Macht- und Herrschaftssystemen, wie Geschlecht, Klasse und ethnischer Herkunft. Aufgrund der patriarchalen Strukturen der Gesellschaft macht das insbesondere Frauen zur Zielscheibe der Pandemie, da Care-Arbeit, repräsentativ für den Haushalt, das Private, die Familie, traditionell weiblich konnotiert und meist unbezahlt sind.

Dieses Konzept basiert auf überlieferten Geschlechterrrollen, die wiederum von dieser Einteilung geprägt werden. Durch die Schließung von Schulen lastet die Betreuung der Kinder in Zeiten der Isolation zumeist auf den Schultern der Frauen, da es als ihre Aufgabe begriffen wird. Die idealisierte Vorstellung von einem trauten Heim und Familie erzeugt eine falsche Idee von Sicherheit. Die vor allem in der Situation der Isolation für viele Frauen zum Verhängnis wird, da diese Vorstellung häusliche Gewalt und Feminizide verdeckt.

Wie die feministische Gruppe Marea Verde in Mexiko es ausdrückt, macht der Machismus keine Quarantäne und die mexikanische Frau stirbt eher durch die Isolation als am Virus. Aus verschiedenen Gründen sind Frauen stärker von den Folgen der Pandemie betroffen. Die überproportionale Arbeit in Pflegeberufen, die Care-Arbeit in fremden Haushalten und im eigenen, häusliche Gewalt, der fehlende Zugang zu sexueller und reproduktiver Gesundheitsversorgung sind nur ein paar davon. In der Zeit der Pandemie verstärken sich die prekären Bedingungen und Strukturen von Diskriminierung und Ausbeutung. In diesem Sinne sind Arbeiterinnen und indigene Frauen am stärksten von den sozialen und ökonomischen Auswirkungen des Coronavirus betroffen.

Insofern gilt es strukturelle Veränderungen zu erlangen, die das Patriarchat, den Kapitalismus und Rassismus betreffen. Care-Arbeit bzw. soziale Reproduktion muss bezahlt und sollte nicht als in erster Linie weibliche Aufgabe verstanden werden. Eine Umverteilung von Reichtum und ein Sozialsicherungs- und Gesundheitssystem, das alle mit einschließt ist essentiell. Konzepte wie Heim, Haushalt und Geschlechterrollen müssen neu gedacht werden, um patriarchale Strukturen und somit auch die Gewalt gegen Frauen zu überwinden. Damit Frauen wie Marcela Benítez in Zukunft auch sicher Zuhause bleiben können.

Der Beitrag ist erschienen in der Onlineausgabe der Lateinamerika Nachrichten Nr. 551

  • 1. Name von der Redaktion geändert