Die universelle Ausgangssperre: Von der Isolation zur Befreiung

Wir haben uns in eine globale Quarantäne in den eigenen vier Wänden verbannt. Niemand war darauf vorbereitet, doch es ist passiert und die Welt dreht sich weiter

der_kapitalismus_funktioniert_nicht_leben_ist_was_anderes.jpg

Grafito in Chile: Der Kapitalismus funktioniert nicht. Das Leben ist etwas anderes
Grafito in Chile: Der Kapitalismus funktioniert nicht. Das Leben ist etwas anderes

Ohne dass es uns bewusst war hat sich unser Leben innerhalb weniger Tage vollständig verändert. Die Frage nach dem "Was passiert hier gerade?" ist in alle Winkel der Welt vorgedrungen. Eine Art kollektiver Psychose, eine Mischung aus Panik und Verwirrung über etwas, dass wir noch nicht verstehen, nicht einmal benennen können.

Aber über eins sind wir uns sicher: Etwas hat sich verändert und es hat sich für immer verändert.

Diese Pandemie treibt einen Prozess voran, beschleunigt die Zeit auf etwas anderes zu, mit der Angst als Dreh- und Angelpunkt.

Als die Weltgesundheitsorganisation das Coronavirus (Covid-19) zur Pandemie erklärte, wurde auf internationaler Ebene ein Alarm ausgelöst. Die Regierungen aller Länder mussten die Verantwortung übernehmen, ihre Bürger vor der Ansteckung mit einer Grippe zu schützen, die aufgrund ihrer Ausbreitungsgeschwindigkeit zu Maßnahmen der "sozialen Distanzierung" zwingt , um die Infektion ganzer Bevölkerungen zu verhindern.

Und es scheint wie in einem Film, denn die gesellschaftliche Panik und die "Verantwortung", die Quarantäne zu respektieren, haben sich in eine Insigne des fortwährenden Kampfes, der Kontrolle und Disziplinierung verwandelt; und das nicht nur seitens der staatlichen Behörden, sondern auch der Gesellschaft, getragen von Nachbarn, Familien, Freunden, etc. Doch wen betrifft das Coronavirus?

Weltweit hat es zum gegenwärtigen Zeitpunkt [Anm. d. Red.: Der Beitrag ist vom 26. März] 13.570 Personen das Leben gekostet. In China starben 3.267, in Europa 7.879 Menschen (4.825 Tote in Italien und 1.753 in Spanien). Dabei fällt Folgendes auf: Im Verlauf der Tage zeigen die Todesraten auf der ganzen Welt, dass vor allem ältere Personen ab 70 Jahren zu den Todesopfern gehören. Besonders in Italien zeigen die Fälle außerdem, dass zu 60 Prozent Männer und zu 40 Prozent Frauen betroffen sind.

Nun, der Hunger, die Kriege, die Klimakrise oder das Patriarchat, um nur einige Beispiele zu nennen, töten auf der ganzen Welt bedeutend mehr Menschen als das Coronavirus und dennoch gibt es deswegen keine allgemeine Panik.

Die Systemkrise verdecken

Als Reaktion auf die Lage wurde in den meisten Ländern der Welt Quarantäne verhängt. Das bedeutet: Soziale Isolation und Grenzschließungen. Es wurde ein Zustand geschaffen, bei dem gesunde Menschen in ihren Häusern eingesperrt werden. Das Gefühl hat sich breit gemacht, einen Horrorfilm mit der Zukunftsvision des Weltuntergangs zu durchleben.

Über die vielfältigen Ursachen hinaus, die auf die Pandemie zurückzuführen sind, steht fest, dass sie in einem geopolitischen Moment der strukturellen Änderung des uns bislang bekannten Wirtschaftsmodells auftritt.

Wir erleben einen Moment der Systemkrise, in der es Akteure gibt, die all ihre Karten gespielt haben ‒ hauptsächlich die Zocker des Finanzsystems, die aufgrund der Überproduktion fiktiven Geldes mit einem Desaster konfrontiert sind, das schlimmer werden dürfte als die Krise von 2008.

Die Investitionen dieser Akteure in die Virtualisierung der Wirtschaft hat die Struktur des kapitalistischen Systems verändert. Dieser Prozess wirft Fragen bezüglich eines Wandels auf, der nicht nur die objektiven Bedingungen betrifft (Veränderungen im Produktionssystem durch die Digitalisierung der Ökonomie und die Robotisierung der Produktion), sondern auch – und insbesondere mit dieser Pandemie – die subjektiven Bedingungen: Die Schaffung der Virtualität als Vermittlung sozialer Beziehungen unter einem Modell der sozialen Kontrolle.

Mittels der Massenkommunikationsmedien und sozialen Netzwerke (als "nützliche" Partner in der Situation) kann man verlassene Städte, leere Schulen und Autobahnen und die wenigen Menschen beobachten, die noch auf den Straßen zu sehen sind (Fachkräfte aus dem Gesundheits- und Sicherheitswesen), mit Mundschutz und unter extremen Vorsichtsmaßnahmen.

Über das Ausnahmeereignis dieser Pandemie hinaus beschäftigt uns nun die Frage nach der Neuartigkeit dieser Situation der weltweiten Isolation ‒ etwas, das sich nie zuvor in der Geschichte ereignet hat. Die Coronoavirus-Pandemie hat bewirkt, dass wir uns in eine globale Quarantäne in den eigenen vier Wände verbannen. Niemand war darauf vorbereitet, doch es ist passiert und die Welt hat sich weitergedreht.

Was ist mit den Institutionen passiert? Wie ist es möglich, dass alles weiterhin funktioniert, obwohl wir nicht an unseren Arbeitsplätzen sind? Kann es sein, dass wir nicht mehr gebraucht werden? Kann es sein, dass sich etwas verändert hat – und wir haben es nicht bemerkt?

Das zwingt uns zu der Frage, ob wir der Entstehung eines neuen, postkapitalistischen Systems beiwohnen, oder ob sich eine neue Phase innerhalb desselben Kapitalismus entwickelt: Vom Agrarkapitalismus hin zum Industrie-, zum Finanz- und nun zum digitalen Kapitalismus. (Beide Hypothesen werden zunächst nicht weiter ausgeführt, sie sind in künftigen Studien zu erörtern.)

Übergänge und soziale Kontrolle

Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass der Übergang von einem Wirtschaftssystem zum anderen – oder zu einer neuen Phase – niemals als „friedlicher Übergang“ verläuft, sondern ganz im Gegenteil: Er vollzieht sich mit Gewalt durch Kriege und tiefgreifende soziale Konflikte.

Wenn wir an den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert denken, so war dies ein Moment des Klassenkampfes, in dem die Kapitalisten die Gesellschaft neu strukturieren mussten, um neuartige Formen der Produktion durchzusetzen, die noch ausbeuterischer waren als die vorherigen.

So erlebten wir auch in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts die Materialisierung neuer sozialer Beziehungen, die den Schritt hin zur Digitalisierung der Wirtschaft und die Herausbildung neuer Vermittlungen auf Grundlage der Virtualität als zentralem Element beinhalten: Eine digitale Neuordnung der kapitalistischen Produktion, die sich insbesondere in der Auseinandersetzung um die 5G-Technologie, dem Auftauchen virtueller Währungen und der Entwicklung der Künstlichen Intelligenz (KI) beobachten lässt.

Wir sehen immer deutlicher, wie unser eigentlicher Wert als Arbeitende auf der Produktion von Daten beruht – in Interaktion mit den virtuellen Plattformen –, die als notwendiger Rohstoff verwendet werden, um Algorithmen zu generieren.

In diesem Prozess machen sie uns immer abhängiger von der Technologie und immer kontrollierbarer, da sie in der Lage sind, unsere Handlungsabläufe vorherzusagen. Das Ironische an der ganzen Situation ist, dass wir selbst die Daten produzieren, die uns überflüssig machen werden.

Und wenn wir auch noch so sehr zu Hause eingesperrt sind, sind wir nicht isoliert, und obwohl wir nicht zu unseren Arbeitsplätzen gehen, arbeiten wir: Die Nutzung des Internets in dieser Zeit der Ausgangsbeschränkungen generiert enorme Datenmengen, die durch den virtuellen Raum strömen, in dem wir gezwungenermaßen nach Bildung, Unterhaltung, Lebensmitteln, Medikamenten und allem anderen suchen, was wir zum Überleben benötigen.

Die Statistiken zeigen, dass die IP-Netze seit Beginn der Quarantäne einen Anstieg des Datenverkehrs um fast 40 Prozent erlebt haben, was vor allem auf den erhöhten Konsum von Videostreams und Kommunikation per WhatsApp oder Skype zurückzuführen ist. Beim Gaming (Online-Spiele) wurde ein Anstieg um 271 Prozent festgestellt und der Datenverkehr bei WhatsApp nahm um 698 Prozent zu.

Also ließ der "Hausarrest" die von uns produzierte Datenmenge exponentiell ansteigen und damit auch die Einnahmen derer, die heutzutage die großen Besitzer der Plattformen sind, die sich in den Raum unseres "Zusammenlebens" verwandelt haben.

Diese Situation geht mit einem paradoxen Gefühl von "Freiheit" einher, das wir alle verspüren, die wir diese Daten produzieren. Wir halten uns für frei, im Internet zu surfen und auf unzählige Angebote zuzugreifen – mehrheitlich "kostenlos" –, während wir in Wirklichkeit 24 Stunden für unsichtbare Herren arbeiten, die nicht einmal mehr dafür Verantwortung tragen müssen, dass die Mindestbedingungen für das Überleben und die Reproduktion ihrer "neuen Arbeiter" sichergestellt sind.

Kurz gesagt: Mehr Ausbeutung in einer Art moderner Sklaverei. Wir können uns durchaus ein (nicht allzu fernes) Zukunftsszenario vorzustellen, wo die traditionellen Arbeitsplätze zerstört sind und damit auch die Institutionen in ihrer bisherigen Form (die sich bereits in der Krise befinden).

Millionen von Menschen leben unter einer Ausbeutung, die von neuen Formen der Mehrwertschöpfung hervorgerufen wird, enteignet, in der Privatsphäre ihres Zuhauses, auf den virtuellen Plattformen arbeitend und kämpfend, um ihre Existenzgrundlage zu sichern. Wenn du nicht online bist, existierst du nicht.

Gibt es eine Alternative?

Angesichts dieses Szenarios bietet sich die Gelegenheit, das Projekt der Subalternen Klassen zu vertiefen.

Als Ausgangspunkt hat die Pandemie zwei Probleme auf den Tisch gelegt:

Erstens hat die Reichweite des Coronavirus nicht nur die Grenzen der Globalisierung der Märkte unter Beweis gestellt, sondern darüber hinaus die Grenzen der Nationalstaaten und ihrer Ideale, Souveränität innerhalb ihrer eigenen Staatsgebiete herzustellen. Der Nationalstaat und seine Institutionen erkennen gewiss ihre enorme Abhängigkeit, ihre Überholtheit und ihre Unterordnung unter die Global Governance.

Zweitens hat der Kapitalismus selbst die Bedingungen für lokale Organisierung geschaffen und möglicherweise entwickelt sich gerade ein neues Virus, das sich deutlich von Sars-CoV-2 unterscheidet: Das Virus eines neuen Systems, das weltweit durch Netzwerke der Solidarität die Ketten der Unterdrückung zerbricht. Solidarität mit denjenigen, die in der gleichen Situation der Verunsicherung, der erzwungenen Ausgangssperre und der sozialen Disziplinierung sind.

Die Welt verändert sich unumkehrbar; mit veralteten Formeln können wir auf dem gesellschaftlichen Terrain nicht kämpfen. Wir müssen Organisationsnetzwerke auf globaler Ebene aufbauen, mit einem zutiefst revolutionären Verständnis der etablierten Ordnung, offensiv, mit Kreativität und Initiative.

Unsere Kraft als Subalterne Klassen wurzelt in unseren lokalen Gebieten, im gemeinschaftlichen Leben, in den tiefgehenden Kenntnissen der Bedürfnisse unserer Leute. Das Modell der kommunalen Organisation auf der Basis der Menschlichkeit zeigt uns Widerstandsfähigkeit und Kampfvermögen. Doch die isolierte Gemeinschaft wird heute "konterrevolutionär".

Wir können auch nicht auf den gemeinsamen Ausweg vertrauen, der in die Körper und das Denken des Kollektivs Einzug hält. Jener Ausweg, der uns dazu einlädt, dass "wir alle zusammenarbeiten", um dieser Situation zu entkommen. Wir wissen, dass dieses "alle" die 99 Prozent der Weltbevölkerung repräsentieren sollte, ausgebeutet und verstoßen, gegenüber dem einen Prozent, das auf Kosten der Arbeit anderer akkumuliert und lebt.

Der in diesem Augenblick notwendige Sprung nach vorn besteht darin, dass wir unsere lokalen Kämpfe universalisieren, in einer Art von "Nervensystem", in dem die technologischen Werkzeuge zu den Waffen der breiten Bevölkerung werden, um die Anstrengungen und Initiativen zu vereinen, um unsere Tausenden Formen des Kampfes zu vergesellschaften, bis unser sozialistisches kommunales System auf der ganzen Welt Realität wird.

Die Auseinandersetzung im virtuellen Raum austragen und diese Macht auf die Straße bringen

Die feministische Bewegung zeigt ihre Organisationsfähigkeit und ihren Kampfwillen in eben diesem Sinne. Sie errichtet auf lokaler Ebene Netzwerke der Sororität (Schwesternschaft zwischen Frauen bezüglich geschlechtsspezifischer sozialer Fragen), die dank einer bedeutenden Arbeit im virtuellen Bereich Grenzen überschreitet und ihre Losungen vereint.

Von unserer Organisations- und Kampffähigkeit hängt die Zukunft der Menschheit ab. Gegen den Fatalismus, den sie uns zeigen, setzen wir unsere Reflexionsfähigkeit, unser Geschichtsbewusstsein, unsere Initiative, unsere Werte und die Überzeugung, dass der Sieg der breiten unterdrückten Mehrheiten objektiv möglich ist.

Bei so viel Tod das Leben in den Vordergrund stellen, den Kampfwillen über die auferlegte Angst, die Solidarität über die soziale Isolierung, das Menschliche über das Künstliche.

Paula Gimenez und Emilia Trabucco aus Argentinien sind Forscherinnen und Redakteurinnen des Lateinamerikanischen Zentrums für Strategische Analyse (Centro Latinoamericano de Análisis Estratégico, CLAE www.estrategia.la)