Der feministische Frühling und die patriarchale Gegenoffensive

Die Welt muss verändert werden und die Frauen stehen dabei an vorderster Front

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Der Feminismus fordert dazu auf, die Nachhaltigkeit des Lebens in den Mittelpunkt eines neuen Gesellschaftsprojekts zu stellen
Der Feminismus fordert dazu auf, die Nachhaltigkeit des Lebens in den Mittelpunkt eines neuen Gesellschaftsprojekts zu stellen

Eine der gegenwärtig relevantesten politischen Tatsachen ist die Positionierung des Feminismus als eine umgestaltende Kraft im Weltmaßstab. Dies geschah sowohl durch ihren Beitrag zur Mobilisierung von Ideen, um die Realität zu begreifen und auf dieser Grundlage zu handeln, als auch durch die politische und strategische Aktion, die sich als Kernstück einer jeden Veränderung in verschiedene Szenarien entfaltet.

Von Buenos Aires bis Manila, von Kapstadt bis São Paulo, von Delhi bis San Juan und an allen Ecken der Erde zeichnet eine Vielfalt struktureller Situationen und Daten die bunte Kartografie der Beziehungen der patriarchalischen Macht; gleichzeitig zeigen breite Mobilisierungen, Forderungen und Widerstände den historischen und daher umkehrbaren Charakter dieser Macht.

Als Vermächtnisnehmer der erkenntnistheoretischen Provokation, die durch die Konzeptualisierung des Patriarchats als komplexes sozialökonomisches und kulturelles System aufgestellt wurde, hat der Feminismus des 21. Jahrhunderts die Aufklärung über die Bestandteile dieser gesellschaftlichen Formation in Angriff genommen; sowohl seine situationsbedingten Ausdrucksformen als auch sein systemischer Charakter wird sichtbar gemacht und Veränderungen vorgeschlagen, die die Dynamiken unterbinden, welche seine historische Reproduktion begünstigen.

Diese politischen und Theoriefortschritte haben es ermöglicht zu zeigen, dass die Umgestaltung der sozialökonomischen Wirklichkeit der Frauen in dialektischer Beziehung zu allgemeinen Veränderungen der Gesellschaft steht. So etabliert der Feminismus in einem Kontext, in dem die Konzentration der Güter und Ressourcen immer weiter zunimmt und sich die Ebenen der geo-ökonomischen Exklusion vervielfältigen, den Widerspruch zwischen Kapital und Leben als unverzichtbare Kategorie der Analyse, um solche Phänomene wie die Tendenz der exponentiell zunehmenden Ausgrenzung von Frauen und anderen, von strukturellen Ungleichheiten betroffenen Personen zu erklären. Der Widerspruch Kapital-Leben spitzt sich zu, während die Reproduktion des globalen Kapitalismus auf die Kommerzialisierung des Lebens – aller seiner Bereiche und Bedürfnisse – zielt, und seine Expansion gleichzeitig auf der Intensivierung der Ausbeutung der Natur und der Menschen beruht.

Basierend auf der Anerkennung der geschlechtlichen Arbeitsteilung, wie sie im 19. Jahrhundert formuliert wurde, und des Wertes der häuslichen Arbeit – konzeptioniert im 20. Jahrhundert – hat die feministische Ökonomie Eingang gefunden in die Formulierung von alternativen und systemischen ökonomischen Zielvorstellungen, die auf die Nachhaltigkeit des Lebens abzielen1; sie geht vom Standpunkt ökonomischer Diversität aus, in der der kapitalische Markt die vorherrschende Macht ist, aber auch nur das.

Diese Sichtweise kommt in jüngeren Konzeptionen wie der des Guten Lebens2 vor, die die Reproduktion des Lebens und nicht die des Kapitals in den Mittelpunkt der Gesellschaftsprojekte stellt.

Ähnliche Vorstellungen werden in anderen Perspektiven von alternativen Ökonomien wie der von der Pflege umrissen, die „verschiedene Aktivitäten der Produktion, des Austausches und der Generierung von Einkommen umfassen, die sich nicht nach der Logik des kapitalistischen Marktes richten, sondern verbunden sind mit der Befriedigung von Grundbedürfnissen der Ernährung, Wohnung, Kleidung, grundlegender Infrastruktur. Sie beziehen Wissen, Technologien und Praktiken mit ein, die Teil des Kulturgutes verschiedener Gesellschaften und Gemeinschaften sind.“3

Mit Kreativität und vielfältiger Infragestellung der vorherrschenden Diskurse, ihrer Unterlassungen und Mutmaßungen, hat der Feminismus eine heterogene, vielschichtige und widersprüchliche Realität enthüllt, die ihrerseits zu erneuerten dialektischen Sichtweisen auf Zukunft und Geschichte ermuntert. Sie schließen Themen ein, die früher als besondere Bereiche betrachtet wurden – wie Fragen von Sexualität und Reproduktion – und die heute gleichermaßen in Bereichen der staatlichen Politik und der internationalen Normen wie auf der Straße, auf wirtschaftspolitischer und wirtschaftlicher Bühne, in den Medien und anderswo debattiert werden.

Das Patriarchat folgt seinerseits den Umgestaltungen in den Machtverhältnissen des globalen Kapitalismus nach, zeigt Muskeln und entwickelt an die Umstände und die Zeit angepaßte Mechanismen. Die Symbiose zwischen Patriarchat und globalem Kapitalismus ist präsent im Streit um die Kontrolle der Welt seitens der transnationalen, der Finanz-, Kommunikations- und Militärmächte; sie ist gegenwärtig im Kampf um die technologische Vorherrschaft – zwingend erforderlich für die Machtausübung im Überwachungskapitalismus; sie steckt in den geo-ökonomischen Angeboten und "territorialen Neuordnungen", die der Kontrolle der "natürlichen" Ressourcen und des Bodens innewohnen, ebenso wie u.a. in den Entwürfen für die Gestaltung der Gesellschaften "jenseits der Politik" .

Der Übergang von einer multilateralen Vorstellung von der Welt, basierend auf der Existenz von Staaten, Ländern und Kulturen, hin zu einer Welt, die auf privaten Konzerninteressen gründet, mit supra-staatlichen, faktischen, unumsschränkten Mächten ist nicht zu unterschätzen. Die Globalisierung, die sich im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts herauskristallsierte, führte zu einem wichtigen Richtungsstreit, nicht nur wegen des Widerstandes von Völkern und Kulturen angesichts der Homogenisierung, sondern weil ihr extraterritoriales Modell unter der Vorherrschaft der transnationalen Konzerne und des Finanzkapitals eine massive Verletzung wirtschaftlicher, sozialer und kollektiver Rechte mit sich bringt – darunter auch der Arbeitsrechte –, um die Produktion im Weltmaßstab durch die Verlagerung und Flexibilisierung der Arbeit oder globale Produktionsketten zu reorganisieren.

Die Frauen stellen die Mehrheit in den flexiblen und oftmals ungesunden Produktionsketten, in Schlüsselbereichen dieser neuen Phase des Kapitalismus dar, z.B. bei den digitalen Technologien 4, nicht zu reden von den bekannten Freihandelszonen oder den Bereichen der transnationalen Agrarproduktion, um nur einige zu nennen. Aber es ist noch mehr. Es haben sich sozioökonomische Ränder herausgebildet, wo Frauen zusammen mit völlig machtlosen Menschen – u.a. solchen ohne Papiere – weltweit eine „Geopolitik des Überlebens“ herausbilden.5 Saskia Sassen charakterisiert die „Schattenökonomien“ , die informellen und auch illegalen Wirtschaftsbereiche als dem System struktureigen in dem Sinne, dass die Prekarisierung der Arbeit nicht parallel zu den gehobenen Löhnen, den Rechten und der würdigen Beschäftigung für Wenige existiert, sondern diese aufrechterhält.

Aber wir stehen auch vor einer Transnationalisierung der patriarchalen Gewalt, denn auf einer Stufe mit der Verschärfung der öffentlichen und privaten machistischen Gewalt haben sich auch die Doktrin der Kontrolle und mit dem Überwachungskapitalismus verbundene Praktiken des Raubs privater Daten etabliert und schlimmer noch: Symboliken und Realitäten des Krieges haben Eingang in den Alltag gefunden.

Mit der großen Machtfülle, die der militärisch-industrielle Komplex der USA und seiner Lakaien hat, liegt die Restrukturierung einer politischen Ökonomie der Gewalt auf dem Tisch, außerdem eine erneuerte Version der internationalen und geschlechtlichen Arbeitsteilung bei der Zerstörung und bei der Kriegsführung; diese reicht von der Einbeziehung von Frauen als Militärs oder Paramilitärs bis zu ihrem Einsatz in der Prostitution oder bei anderen mit Unterhaltung und Vergnügung verbundenen Aktivitäten, welche die Militarisierung befördert6. Aber es gibt auch Arbeiterinnen, die, weil sie chemischen Produkten ausgesetzt sind oder unter prekären Bedingungen arbeiten, bei der Herstellung von Drohnen-Chips oder anderen Waffensystemen krank werden.

Paradoxerweise bilden sich sich in diesem ungesunden Umfeld erneut stereotype, der Weiblichkeit zugeschriebene "Subkulturen" und Konsummentalitäten heraus; und die mit dauerhafter Verschuldung, während die erworbenen Imitationen der „globalen“ Marken sehr kurze Verfallszeiten haben und sich in Luft auflösen. Aber dies passiert auch den Ländern, die sich verschulden, um an Sicherheits- und Verteidigungsinitiativen in ihrer Region oder in der fernen Welt teilzuhaben; wobei bekannt ist, dass die Waffen im Süden eingesetzt werden, um die Territorien und Ressourcen der Verschuldeten auszuplündern.

Der Militärisch-Industrielle Komplex als faktische globale Macht stellt ein Projekt der Militarisierung ad infinitum dar, das direkt mit den Renditen des Finanzkapitalismus verbundenes Kapital bindet; die transnationalen Konzerne haben ihrerseits die Garantie, ihre Gewinne – manu militari (mit Gewalt) – bis ins Unendliche vermehren zu können.

Die sexistische Macht, die in den Symbolen steckt

Beim Übergang zum patriarchalen und kapitalistischen Globalismus, mit der symbolischen und kulturellen Produktion und den Kommunikationsplattformen unter hegemonialer Kontrolle der transnationalen Konzerne, vollzieht sich sowohl die Wiederauflage des Sexismus in den Rechtsnormen und Praktiken als auch die Neuausrichtung der patriarchalen Denkweise und Hierarchie in den gesellschaftlichen Beziehungen in allen Bereichen.7

Unter Rückgriff auf Mittel der Verführung versucht man die Hirne und Herzen mit der Symbolik des mit der finanziellen Macht verbundenen Erfolgs zu füllen; man erweckt Hoffnungen mit den Allegorien vom unverzichtbaren Fortschritt, die das Bild von den Transnationalen prägen. Und man versucht sogar ein Gefühl der Notwendigkeit der Militarisierung zu wecken, um mit Waffen und Technologien die privaten Unternehmerinteressen abzusichern – so als wären es die eigenen.

In dieser Hinsicht sticht auch die Banalisierung der Gewalt hervor. Die unermüdliche Zur-Schau-Stellung von Krawallen, sexistischen Übergriffen, von Schlägereien, Schießereien, Unterdrückung und Krieg bringt eine ganze Vorstellungswelt von Gewalt und Unterwerfung mit sich. Die zunehmende Kultur der Militarisierung und die Militarisierung der Kultur haben entscheidenden Einfluss auf die Herausbildung von Wertvorstellungen und Inhalten.

Lateinamerika und die antipatriarchalen Auseinandersetzungen

Ein Feminismus agiert mit hoher Intensität und streitet über die Zukunftsperspektiven in Lateinamerika und der Karibik. Hier hat ein beispielloser historischer Prozess des Wandels seit Beginn dieses Jahrhunderts perspektivische Vorschläge mit nationaler und regionaler Bedeutung hevorgebracht, die hinsichtlich Gemeinwohl, Umverteilung und Rechten für den gesamten Süden wichtig sind. Damit einhergehend erreichte eine Vielzahl von thematischen Ansätzen, Strömungen und Tendenzen der feministischen Bewegung eine bedeutende Massenmobilisierung. Die Forderungen reichen vom Recht auf Abtreibung und für ein Leben ohne Gewalt bis zum Kampf für die Agrarreform, gegen die Armut oder die globale Erwärmung.

Aber gleichzeitig gibt es seine Antithese, die sogenannte konservative Restauration, „deren Antworten der Disziplinierung nichts auslassen. Sie wenden als Teil eines Steuerungsmusters systemischen Charakters mit zahlreichen und heterogenen Mechanismen eine umfassende Strategie an, um die Vorstellungen der Welt-Eliten als unveränderlich zu etablieren und sicherzustellen, dass die finanziellen, militärischen, Handels- und Kommunikationsmachtfaktoren national und international wieder die absolute Kontrolle über das Schicksal der Region erlangen...“8. Es gibt sogar gewisse Versuche, zu einer Speerspitze des sogenannten globalen Faschismus zu werden. Entsprechend sind die feministischen Vorschläge verdächtig, werden die Rechte und Freiheiten eingefroren und die feministische Agenda muss in die Defensive gedrängt werden.

In diesem Streit der Ansichten und Sichtweisen ist die wechselseitige Beziehung zwischen den Szenarien der Umgestaltung und den Möglichkeiten der Verschmelzung feministischer Initiativen nicht zu leugnen9.

In Bolivien, jetzt unter einer neofaschistischen Diktatur, hat man die historische, von der Regierung von Evo Morales in Angriff genommene Initiative der Dekolonisierung und Ent-Patriachalisierung – das heißt des Abbaus der machistischen Strukturen der Institutionen und der Gesellschaft – gestoppt. Zugleich macht sich die Rückkehr zur Segregation gegenüber den indigenen Frauen bemerkbar, die zum ersten Mal in der Geschichte in zentralen Bereichen am Prozess der Umgestaltung teilgenommen hatten; ganz zu schweigen von der Durchführbarkeit verschiedener ökonomischer Umverteilungs- und Gleichstellungsinitiativen.

Präsident Bolsonaro versucht seinerseits, Brasilien in längst vergangenen Zeiten zurückzubringen, indem er femininistisch inspirierte öffentliche Politiken, die von den Regierungen von Lula und Rousseff umgesetzt wurden, durch solche ersetzt, die von der Inquisition inspiriert sind.

Ebenso sind mit der Rückkehr zum Neoliberalismus in Ecuador verschiedene Prioritäten der Wirtschaftspolitik von der Tagesordnung verschwunden, die die Notwendigkeit der Bezahlung der Pflege sichtbar gemacht hatten; mehrere Themen, die zur Wirtschaftspolitik gehören, wurden wieder in die Rubrik "Wohlfahrt" zurückgeführt, während die Budgets für Maßnahmen u.a. gegen machistische Gewalt auf ein Minimum reduziert wurden.

Aber die Machtverhältnisse sind auch dialektisch, und von Standpunkten aus, die konträr zur Viktimisierung der Frauen sind, wehren sich die Frauen wie z.b. in Chile und anderen Ländern.

Auch treten Lebensweisen und Wissensbereiche zutage, die sich von der Anti-Ethik und der Anti-Ästhetik des patriarchalischen Kapitalismus unterscheiden; als herausragend ist hier die historische Erklärung des feministischen Sozialismus zu nennen, die von Hugo Chávez im Jahr 2006 formuliert wurde, verbunden mit der entsprechenden Herausforderung seines Aufbaus inmitten von Blockaden und Bedrohungen. Kuba übertrifft sich indes selbst bei der Vertiefung des kulturellen Wandels in der Gesellschaft, hin zu einer vollen und beispiellosen Gleichheit im Sinne der Menschlichkeit.

Schlussfolgerung

Der Feminismus hat seinen Aufruf verbreitet, die Nachhaltigkeit des Lebens in den Mittelpunkt eines neuen Gesellschaftsprojekts zu stellen, das frei ist von kapitalistischer und patriarchalischer Macht, das sich getrennt hat vom Neokolonialismus der Unternehmen und der Diktatur des Marktes. Es geht um ein Projekt des Friedens in der Welt und im alltäglichen Leben, das aufruft zur Bildung einer breiten Bewegung zur Veränderung der Welt.

Mit den Worten von Magdalena León T.: „ Die geografische Verbreitung geht einher mit der Projektion der strategischen Reichweite des Feminismus: Es geht darum, die Welt zu verändern, einen radikalen Wandel des hegemonialen Systems zu befördern, aus dem Raubtierkapitalismus herauszukommen, die patriarchalische Ordnung und jedwede Form von Beherrschung, Ausbeutung und Gewalt hinter sich zu lassen. Es ist ein dringend notwendiger Wandel, bei dem Frauen bereits an vorderster Front stehen, motiviert von einer Verpflichtung gegenüber dem Leben, die sie auf verschiedene Art, aber kontinuierlich im Verlauf der Geschichte aufrechterhalten haben. Von einer Logik der Bewahrung des Lebens ausgehend die materiellen Bedingungen schaffen, für Gleichheit und Gerechtigkeit kämpfen – das sind Grunderfahrungen, die den Feminismus bereits zu einer Lösung für eine Welt in der Krise machen.“10

Irene León aus Ecuador ist Soziologin, Analystin für internationale Politik, spezialisiert auf Alternativen zur Globalisierung und das Recht auf Kommunikation. Direktorin der Stiftung für Studien, Aktion und soziale Teilhabe (FEDAEPS). Mitglied des Netzwerkes zur Verteidigung der Menschheit