Venezuela: Der Sprung ins Kommunale

Über die Gründe der ökonomischen Krise in ihrem Land sind sich venezolanische Linke ebenso wenig einig wie über die Wege zu ihrer Bewältigung

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Hugo Chávez ist in dem Stadtviertel 23 de Enero auf Häuserwänden und Mauern stets präsent
Hugo Chávez ist in dem Stadtviertel 23 de Enero auf Häuserwänden und Mauern stets präsent

Vor der Metrostation Agua Salud im Westen von Caracas schlängelt sich die Straße einen der Hügel des Stadtviertels 23 de enero hinauf. An der Seite ragen breite, 15-stöckige Hochhausblocks empor. Dazwischen erstrecken sich die für Venezuela typischen, als barrios bekannten Armenviertel aus roten Backsteinhäuschen, von ihren Bewohnern einst in Eigenregie erbaut. In den 1950er Jahren hatte der Militärherrscher Marcos Pérez Jiménez den modernistischen Architekten Carlos Villanueva damit beauftragt, 38 große und 57 kleinere Hochhäuser als Sozialbauprojekt zu errichten. Noch vor dem Bezug stürzte der Diktator am 23. Januar 1958, die Gebäude wurden besetzt und nach diesem Tag benannt.

Vor Block 26 kündigt ein geschwungener Torbogen die Sozialistische Kommune Panal 2021 an. Panal bedeutet Bienenwabe. "Die Biene steht für uns als Symbol für die arbeitende Bevölkerung", erklärt Ana Marín. "Die Königin ist für uns die Versammlung der Community. Und was wir uns aufbauen, verteidigen wir mit unserem Leben, denn die Biene stirbt, wenn sie sticht."

Das 23 de enero ist bis heute eine Bastion der Chavistas, der Anhänger des 2013 verstorbenen Präsidenten Hugo Chávez. Früher hieß es scherzhaft, jeder der Hochhausblocks habe seine eigene marxistische Partei. Maríns Augen glänzen, wenn sie davon erzählt, wie Chávez vor 20 Jahren die zahlreichen linken Organisationen in dem politischen Projekt vereint hat, das unter dem Namen "Bolivarische Revolution" bekannt wurde. Sie ist Aktivistin des "Colectivo Fuerza Alexis Vive", der treibenden Kraft hinter Panal 21. Entstanden ist das Kollektiv während des kurzzeitigen Staatsstreichs gegen Chávez im April 2002, der Namensgeber Alexis González Revette wurde damals von putschenden Polizeieinheiten erschossen.

Seitens der rechten Opposition wird der Begriff Colectivo meist als Synonym für bewaffnete motorisierte Stoßtrupps der Regierung verwendet. Tatsächlich gibt es derartige Gruppen, auch das Kollektiv Alexis Vive ist früher durchaus martialisch aufgetreten. Doch verbergen sich hinter den Colectivos ebenso zahlreiche linke Organisationen, die radikaldemokratische Basisarbeit betreiben. "Das ist an sich nichts Neues", sagt Ana Marín. Auch früher schon seien linke Bewegungen als Guerillas oder Kommunisten diffamiert worden. Bei Gruppen, die das Spiel mitmachten und sich den Medien mit Waffen präsentierten, handele es sich jedoch häufig schlicht um Kriminelle. "Revolutionär zu sein, bedeutet nicht, dass man einfach Delikte begehen darf." Hinter der Dämonisierung stecke aber Kalkül, ist sich Marín sicher. "Das Imperium weiß genau, dass wir uns nicht verkaufen und nicht aufgeben werden. Als erstes würde das US-Militär daher das 23 de enero angreifen."

Nachdem Chávez das Projekt einer partizipativen und protagonistischen Demokratie anfangs eher mit sozialdemokratischen Ideen verfolgt hatte, erhob er ab 2005 den Aufbau eines Sozialismus des 21. Jahrhunderts zum Ziel. Die Keimzelle des neuen "Kommunalen Staates" sollten die Kommunalen Räte werden, in denen sich jeweils bis zu 400 Haushalte in einem selbst definierten geografischen Gebiet zusammenschließen, um basisdemokratisch über die Belange in der Nachbarschaft zu entscheiden. Auf einer höheren politischen Ebene können diese Räte Comunas bilden.

"Die Kommune bedeutet für uns, dass die Bevölkerung in Versammlungen entscheidet, Projekte durchführt und Aufgaben delegiert", betont Marín, während ihr einjähriger Sohn auf dem als Gemeinschaftsprojekt beschlossenen Basketballplatz wacklige Gehversuche unternimmt. Nach einer Anfangsphase in reiner Selbstverwaltung erhielt Panal 21 umfassende Fördermittel seitens der Regierung Chávez. "Das was eine sehr wichtige Hilfe, doch in der dritten Phase zeigt sich nun, ob wir als Comuna funktionieren oder nicht." Mit den staatlichen Institutionen kooperiert Panal 21 noch immer. Im Gegensatz zu anderen sieht sich die Kommune aus dem 23 de enero jedoch nicht als Anhängsel des Staates, sondern baut in mehreren Regionen Venezuelas ein Netzwerk produzierender Comunas auf. "Sozialismus heißt für uns, dass wir unabhängiger von der staatlichen Finanzierung werden und uns selbst verwalten."

Auf dem Gebiet von Panal 21 leben heute etwa 14.000 Menschen, die in sieben Kommunalen Räten mit zahlreichen sozialen und kulturellen Gruppen organisiert sind. Die Kommune betreibt eine Bäckerei, einen Textilbetrieb sowie eine Zuckerverpackungsanlage und baut Gemüse auf einer urbanen Ackerfläche an. Sogar eine eigene kommunale Währung gibt es. "Wir tragen mit dazu bei, die Effekte der Krise abzumildern, anstatt mit verschränkten Armen abzuwarten", sagt Marín. "Heute leiden wir darunter, dass wir in Venezuela die Wirtschaft nicht diversifiziert haben und weiter vom Erdöl abhängen." Daher sei es wichtig, die eigene Produktion im Kleinen voranzutreiben.

Seit Jahren durchlebt Venezuela die schwerste Wirtschaftskrise seiner Geschichte. Das Bruttoinlandsprodukt hat sich seit 2013 um etwa 60 Prozent reduziert. Die Erdölproduktion ist der Organisation Erdölexportierender Staaten (OPEC) zufolge von mehr als drei Millionen Barrel pro Tag auf zuletzt nur noch 761.000 Barrel gesunken. Öffentliche Dienstleistungen wie Strom, Wasser, Gesundheit oder öffentlicher Nahverkehr stehen kurz vor dem Kollaps und die Hyperinflation hat sämtliche Ersparnisse und Löhne in der Landeswährung Bolívar entwertet.

Versuche der Regierung Nicolás Maduro, die Wirtschaft mittels einer Währungsreform und Ausgabenkürzungen zu stabilisieren, schlugen fehl. Der US-Dollar ist von 60 Bolívares nach der Währungsreform im August 2018 auf mittlerweile etwa 50.000 gestiegen. Der Mindestlohn beträgt zurzeit nur noch drei US-Dollar pro Monat. Zusätzlich gibt es Lebensmittelgutscheine in gleicher Höhe. Im Privatsektor wird etwas mehr gezahlt, doch ohne die beinahe kostenlosen Lebensmittelkisten der Regierung und Rücküberweisungen migrierter Familienangehöriger könnten die meisten Venezolaner zurzeit nicht überleben.

Zwischen Oktober 2018 und März dieses Jahres legalisierte die Regierung den Tausch von US-Dollar und schaffte die Preiskontrollen, die für zahlreiche Güter des täglichen Bedarfs bestanden, de facto ab. In der Folge stehen die meisten Produkte mittlerweile wieder in den Supermarktregalen, aber zu horrenden Preisen. Bargeld in der Landeswährung ist kaum zu bekommen, dafür wird der Dollar nun fast überall als gängiges Zahlungsmittel akzeptiert.

Während die Regierung lange Zeit einen "Wirtschaftskrieg" seitens der Opposition und der USA für die Krise verantwortlich machte, sieht sie die Ursache heute vor allem in den US-Sanktionen. Auch für Ana Marín stellen diese eines der entscheidenden Probleme Venezuelas dar. "Sie schränken unsere Selbstbestimmung ein und der Staat kann seine historische soziale Schuld gegenüber den ärmeren Klassen nicht mehr weiter abbauen." Zudem steige die Korruption weiter an. "Da es weniger gibt, versucht jeder um so mehr, seinen Teil einzustecken", sagt Marín. "Zuvor wurde auch viel geplündert, aber wenigstens ausreichend Erdöl gefördert."

Der linke Ökonom Manuel Sutherland sieht die Verantwortung für die Krise hingegen vor allem bei der Regierung. "Auch wenn es die Linke schmerzt: Den derzeitigen Zustand der Ökonomie haben Strukturen verursacht, die der Chavismus seit 2003/2004 geschaffen hat". Durch den niedrig gehaltenen Dollarkurs habe die Regierung ab 2003 die Importe künstlich verbilligt, gleichzeitig jedoch der heimischen Produktion geschadet und dafür gesorgt, dass sehr viel Geld ins Ausland abgeflossen sei. "Dies hat die enorme Korruption und Plünderung der Erdölrente ermöglicht". sagt Sutherland. Die Sanktionen hingegen hätten die Krise nicht ausgelöst, verschlimmerten die Situation vor allem der ärmeren Bevölkerung aber drastisch. "Im August 2017 hatte das Bruttoinlandsprodukt bereits 30 bis 40 Prozent eingebüßt", sagt Sutherland.

Er bezieht sich damit auf den Zeitpunkt, an dem US-Präsident Donald Trump erstmals Sanktionen verhängt hatte, die sich nicht gegen Einzelpersonen, sondern die gesamte venezolanische Wirtschaft richteten. Nachdem sich der Parlamentsvorsitzende Juan Guaidó im Januar letzten Jahres mit Unterstützung der USA zum Interimspräsidenten erklärt hatte, verschärfte die US-Regierung die Sanktionen drastisch. Zunächst konfiszierte sie Citgo, den venezolanischen Erdölkonzern in den USA. Mittlerweile beziehen sich die Sanktionen sogar auf Dritte, die mit Venezuela Geschäfte betreiben.

Sutherland sieht sich selbst als Marxisten, kann der Regierung Maduro aber nicht mehr viel abgewinnen. Bevor er 2014 in Ungnade fiel, lehrte er an der unter Chávez gegründeten Bolivarischen Universität (UBA) Ökonomie. Bei einer öffentlichen Veranstaltung hatte er damals die von der Regierung vertretene These eines Wirtschaftskrieges als Ursache der Krise zurückgewiesen. Ein paar Monate später erfuhr er, dass seine Lehrveranstaltungen in Zukunft unerwünscht seien. "Eine offizielle Begründung habe ich nie erhalten, es hieß schlicht, ich hätte zu viele Fehlzeiten."

Derzeit beobachtet Sutherland einen offiziell niemals erklärten Privatisierungskurs. "Die Regierung hat mit ihr nahestehenden Wirtschaftsakteuren und Militärs unter der Hand eine Öffnung der Ökonomie ausgehandelt", sagt er. Durch die US-Sanktionen sei es kaum mehr möglich, Kapital außer Landes zu schaffen. "Daher wird jetzt wieder vermehrt in Venezuela investiert, aber nicht in öffentliche Dienstleitungen wie Strom, Wasser oder die Metro." Vielmehr stecke eine kleine aufstrebende Elite ihr Geld in plötzlich entstehende private Immobilien oder importiere Luxusgüter.

Tatsächlich wächst in Caracas in jüngster Zeit eine Infrastruktur, die ausschließlich vermögende Leute anspricht. In Einkaufszentren und Luxushotels werden teure Importwaren von französischem Champagner, über spanische Weine und Chorizo bis hin zu Handtaschen internationaler Modefirmen angeboten. Ende November fand in Venezuela erstmals der aus den USA stammende Rabatttag "Black Friday" statt. Die Leute im wohlhabenden Osten von Caracas strömten in Massen in die Läden. Im historischen Stadtzentrum, das zahlreiche Regierungsgebäude beherbergt, ansonsten aber eine ärmere Wohngegend ist, sind hippe Cafés mit europäisch anmutendem Interieur entstanden.

Die staatliche Supermarktkette Abastos Bicentenario, die seit 2010 stark subventionierte Lebensmittel verkauft hatte, ist bereits im vergangenen Jahr den privaten Tiendas Clap gewichen. An den Eingängen prangt das identische Logo der ebenfalls als Clap bezeichneten staatlichen Lokalen Produktions- und Versorgungskommitees (Comités Locales de Abastecimiento y Producción, Clap)), die seit 2016 Lebensmittelkisten zu symbolischen Preisen an offiziell sechs Millionen Haushalte verteilen. Doch die Tiendas Clap haben nichts mit den Kisten zu tun, sondern verkaufen überteuerte Waren.

Im noch immer sozialistischen Regierungsdiskurs werden solch obskure Privatisierungen nicht an die große Glocke gehängt. "Von Anfang an hat Maduro versprochen, Chávez' Erbe fortzuführen", sagt Sutherland. Da die Öffnung der Ökonomie aber dem genauen Gegenteil von Chávez' wirtschaftlichem Kurs entspreche, verkünde die Regierung diese Maßnahmen sehr zurückhaltend. "Mit dem sozialistischen Diskurs richtet sich die Regierung an ihre eigene Basis, denn sie muss zeigen, dass sie anders ist als die Opposition."

Ana Marín von Panal 21 hingegen sieht es positiv, dass etwa die Kommunen im Regierungsdiskurs noch immer präsent sind. "Aber es gibt große Defizite", meint sie. "Denn die Regierung blickt vor allem auf Statistiken. Es geht aber nicht um die Anzahl der Kommunen, sondern um einen politischen Sprung." Sie und ihre Mitstreiter beziehen sich in ihrer Arbeit direkt auf die letzte programmatische Rede von Hugo Chávez im Oktober 2012, in der er sich deutlich für eine Stärkung der Kommunen aussprach. "Wir nehmen das wörtlich und wollen Chávez' Wunsch erfüllen. Wenn es einen dritten Weg gibt, dann ist das die Kommune." Die derzeitige Situation hinterlasse jedoch ihre Spuren. "Jetzt während der Krise ziehen sich viele Leute zurück und entpolitisieren sich", beobachtet Marín. "Viele vor allem junge Menschen verlassen das Land. Das ist die Realität, sei es wegen der Krise oder weil sich die Menschen falsche Versprechungen machen."

Sutherland traut der Regierung nicht mehr zu, aus eigener Kraft die Krise zu überwinden. "Sie hat dafür keine Instrumente", sagt er. "Die einzige Möglichkeit, den Mindestlohn nachhaltig anzuheben, ist, die Produktivität zu erhöhen." Die Erholung der Wirtschaft könne daher nur in einem Dialog zwischen den moderaten Sektoren beider politischer Lager ausgehandelt werden.

Nachdem Gespräche zwischen rechter Opposition und Regierung unter der Vermittlung Norwegens im September gescheitert waren, verkündete Maduro überraschend einen neuen Dialog mit einem kleineren Teil der Regierungsgegner. Erste Einigungen konnten bereits erzielt werden. Dies führte unter anderem zur Freilassung inhaftierter Oppositioneller sowie der Rückkehr der Abgeordneten der Regierungspartei PSUV in das von der Opposition dominierte Parlament. Auch soll der Nationale Wahlrat neu besetzt werden. Damit ist die Spaltung der rechten Opposition, die bereits bei den umstrittenen Präsidentschaftswahlen im Mai 2018 zu einem Teilboykott geführt hatte, erneut aufgebrochen.

"Auch wenn Maduro es nicht verdient hat, muss ihm ein gesichtswahrender Abgang ermöglicht werden", meint Sutherland. "Wenn, dann wird die Regierung die Macht an eine ihnen näherstehende Opposition abgeben, die anschließend weitere Wirtschaftsreformen durchführt, den Verteidigungsminister aber im Amt belässt." Der selbsternannte Interimspräsident Juan Guaidó hat seine Mobilisierungsfähigkeit seit Januar letzten Jahres deutlich eingebüßt, besteht aber weiterhin auf dem bedingungslosen Abgang Maduros.

Ana Marín will trotz aller Kritik nichts von einem Regierungswechsel wissen. "Wir glauben nicht an die Opposition, die während des Putschs 2002 unseren Compañero Alexis erschossen hat." Was die Regierung mit ihren Gegnern zu verhandeln habe, weiß die Aktivistin nicht. "Wir als Kommune führen einen Dialog mit der Bevölkerung", betont sie. "Das hier muss ein transparenter, ethischer Raum sein, der angesichts der Zersetzung der Gesellschaft als Vorbild gilt."

Der Beitrag ist am 4. Januar 2020 in der Printausgabe von Neues Deutschland erschienen