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Die heuchlerische Berichterstattung über die Proteste in Venezuela, Chile und Ecuador

Wenn es um Venezuela geht, gibt es keine Grenzen für die Heuchelei und Manipulationen großer bürgerlicher Medien

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Das Hauptquartier der New York Times in Manhattan, New York City, USA
Das Hauptquartier der New York Times in Manhattan, New York City, USA

Anmerkung der Redaktion: Statt New York Times und US-Medien könnte man viele deutsche Zeitungen und andere Medien einsetzen. Die Analyse würde deckungsgleich sein

Die Bilder von Millionen von Menschen auf den Straßen Chiles, die gegen die neoliberalen Maßnahmen der Regierung von Sebastián Piñera protestieren, gingen um die Welt. Aber sie gelangten nicht auf die Titelseiten von Zeitungen wie der New York Times. Die Massenkundgebungen und die darauf einsetzende brutale Unterdrückung durch die chilenischen Behörden mit mindestens 19 Toten als Folge wurden hauptsächlich über die sozialen Netzwerke wie Twitter, Facebook und YouTube an die Öffentlichkeit gebracht.

Ich gestehe, Abonnentin und Leserin der gedruckten Ausgabe der New York Times zu sein, die sieben Tage in der Woche erscheint. Und ich erinnere mich nicht, auf einer Titelseite der Zeitschrift im letzten Monat jemals Bilder von den Kundgebungen in Chile gesehen zu haben. Jedoch erinnere ich mich an Reportage auf Reportage auf der ersten Seite über die regierungsfeindlichen (Mini-)Proteste in Venezuela während des vorigen Jahres.

Die New York Times hat seit Anfang Januar 2019 mehr als 900 Artikel gebracht, in denen von Venezuela die Rede war. In ihrer Mehrheit übten sie harsche Kritik an der Regierung von Nicolás Maduro, wobei in Leitartikeln der Zeitung die Regime Change-Politik unterstützt wurde, die von der Regierung von Donald Trump vorangetrieben wird. Präsident Maduro ist als "autoritär", "Diktator", "Tyrann", "starker Mann", "repressiv" und mit anderen beleidigenden Worten abqualifiziert worden, die ihn diskreditieren und sein Mandat schwächen sollen.

Als die Kundgebungsteilnehmer der Rechten in Venezuela bei ihren Protesten Gewalt einsetzten, darunter Molotow-Cocktails, Steine, Feuerwaffen und andere Mittel, um die Nationalgarde und die Polizei anzugreifen, wurden sie von den internationalen Medien als "Aktivisten für die Demokratie", "Pazifisten" und Opfer der Unterdrückung durch den venezolanischen Staat bezeichnet.

Sehen wir uns einige Beispiele an. In einem Artikel der New York Times vom 23. Oktober 2019 über die Proteste in Chile und im Libanon war von 15 Personen die Rede, die dabei zu Tode kamen (Anzahl nach damaligem Stand), so als ob der Staat nicht für ihren Tod verantwortlich gewesen wäre. Die Zeitung, die sich üblicherweise als "Qualitäts"-Zeitung selbstbeweihräuchert, schrieb sogar, dass die "Protestierenden Fabriken angegriffen, U-Bahnstationen in Brand gesetzt und Supermärkte geplündert hätten, sodass Piñera gezwungen war, Truppen auf die Straßen zu schicken [...], mindestens15 Personen wurden getötet, und ein offensichtlich verwirrter Herr Piñera sprach von 'einem Krieg gegen einen mächtigen und unerbittlichen Feind'".

Im Gegensatz zu der so verständnisvollen und nachsichtigen Art mit der Piñera behandelt wird (der arme Präsident, der gezwungen war, Truppen gegen das Volk einzusetzen, das er als "Feind" bezeichnet), nagelte die New York Times den venezolanischen Staatschef fast ans Kreuz. Der "autoritäre" Maduro ist verantwortlich für die "Massaker", die "Verletzung von Menschenrechten", und angesichts der Krise im Land hat er gegen das Volk "harte Schläge" ausgeteilt, indem er "Sicherheitskräfte losschickte, um die Dissidenten mit tödlichen Einsätzen niederzumachen".

Piñera nennt das Volk "Feind" und sagt, dass er sich im "Krieg" gegen die Protestierenden befindet, und die Medien fassen ihn mit Samthandschuhen an. Wenn Maduro dieselbe Sprache verwendet, so wird er "brutaler Diktator" genannt, ein Tyrann", der mit "eiserner Faust" herrscht.

Selbst als Piñera abrupt das Gipfeltreffen der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft Apec absagt, bei dem mit der Anwesenheit von Trump und dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping gerechnet wurde, gaben Medien wie die Washington Post den Protesten die Schuld. Sie erwähnten nicht einmal die Toten oder die brutale Unterdrückung seitens der chilenischen Sicherheitskräfte auf Befehl von Piñera.

In der Tat, trotz der mehr als einem Dutzend Toten, trotz der mindestens einer Million Protestierenden auf den Straßen und der massiven Unterdrückung und Gewaltanwendung seitens des Staates habe ich keinen einzigen Bericht über Chile in den US-Nachrichtensendungen gesehen, bis Piñera den Apec-Gipfel absagte, und das auch nur, weil es um einen Besuch Trumps in Chile ging. Die US-Medien haben nicht eine Reportage über die Märsche mit einer Million Teilnehmern gegen die neoliberalen Maßnahmen Piñeras auf den Bildschirm gebracht ‒ Demonstrationen, die vom Staat brutal unterdrückt und bei denen Tausende Personen verletzt und verhaftet wurden.

Im Gegensatz dazu war Venezuela von Januar bis Juni auf den Bildschirmen des Kabelfernsehens und der landesweiten US-Nachrichtensendungen fast täglich präsent, mit selbsternannten Experten und Pseudoanalytikern, die den "baldigen Sturz" des Maduro-Regimes verkündeten. Es wurden Interviews mit dem Oppositionsführer Juan Guaidó gebracht, der als "Präsident" angeredet wurde, obwohl er diesen Titel legal nicht besitzt, und ein um das andere Mal wurden die Leitlinien des US-Außenministeriums bezüglich Venezuela wiederholt: Maduro ist illegitim; die Leute wollen ihn nicht; die Mehrheit unterstützt Guaidó; Maduro tritt bald zurück; Maduro stürzt bald; es wird morgen passieren; möglicherweise heute; doch noch nicht, aber bald; gegenwärtig weiß man nicht wann, aber eines Tages wird es sein.

Im Zeitraum von Januar bis Oktober 2019 veröffentlichte das US-Außenministerium 167 Kommuniqués zu Venezuela. Zu Chile gab es im selben Zeitraum 17 Kommuniqués, und in allen wird Venezuela erwähnt und die gemeinsame Haltung gegen Maduro. Kein einziges erwähnt die Proteste in Chile, die toten Demonstranten oder die staatliche Unterdrückung. Die Heuchelei ist so krass, dass man sie nicht runterschlucken kann.

Ein ähnlich gelagerter Fall ist Ecuador gewesen, wo große Proteste gegen die Regierung von Lenín Moreno das Land zum Stillstand brachten. Der geschwächte und unpopuläre Staatschef von Ecuador musste sogar den Regierungssitz von Quito nach Guayaquil verlegen, um sich den Protesten nicht stellen zu müssen, die bis zum Präsidentenpalast Carondolet vorgedrungen waren. Wie Piñera griff auch Moreno auf Taktiken der Unterdrückung zurück, um die Proteste gegen ihn ins Leere laufen zu lassen. Und wie Piñera musste er angesichts der Forderungen des Volkes nachgeben und unpopuläre Maßnahmen wie die Abschaffung der Spritpreissubventionen zurücknehmen. Genau wie Piñera verhängte Moreno in bestimmten Landesteilen eine Ausgangssperre und ordnete die Anwendung von Gewalt gegen die Protestierenden an. Genau wie im Falle von Chile brachten die US-Medien fast gar nichts über die Krise in Ecuador und die brutale staatliche Unterdrückung des aufständischen Volkes.

Das US-Außenministerium hatte allerdings doch etwas zu den Protesten in Ecuador zu sagen, ganz im Unterschied zu Chile. Am 11. Oktober veröffentlichte Außenminister Mike Pompeo ein Kommuniqué zur Unterstützung von Präsident Moreno und der "Bemühungen der ecuadorianischen Regierung, die demokratischen Verfahrensweisen zu institutionalisieren und Wirtschaftsreformen umzusetzen". Das heißt, nichts über die Unterdrückung seitens des Staates, nichts über die Brutalität gegenüber den Demonstranten oder ihr Recht zu protestieren.

Tatsächlich kündigte Pompeo in seinem Kommuniqué an: "Wir verfolgen die Beschwerden über ausländische Akteure, die in die Demonstrationen in Ecuador verwickelt sind". Pompeo bezog sich damit auf die unbegründeten Anschuldigungen Morenos über angebliche Verbindungen Maduros und Venezuelas mit den Unruhen in Ecuador. Weder Moreno noch Pompeo legten Beweise zur Untermauerung oder Begründung dieser schwerwiegenden Anschuldigungen vor.

Die New York Times ihrerseits hat nicht viel über Ecuador und die Proteste gegen die Regierung gebracht, mit Ausnahme einiger der Regierung Moreno gewogener Artikel. Am 3. Oktober, also zu Beginn der Proteste, erschien eine Reportage unter dem Titel "Ecuador erklärt Ausnahmezustand, während streikende Arbeiter die Straßen blockieren", so als ob die Regierung gezwungen gewesen wäre, wegen der gegen sie gerichteten Proteste den Repressionsstaat einzusetzen. An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass die Regierung Maduro weder eine Ausgangssperre (wie in Chile und Ecuador) noch den Ausnahmezustand verhängt hat, trotz der zahlreichen Staatsstreichversuche, gewalttätiger Protestierer, aufständischer Militärs und sogar Bombenattentate auf den Präsidenten.

Nichtsdestotrotz ist Maduro der Diktator und Moreno und Piñera sind die Demokraten.

Ich beende diese Analyse mit Beispielen gänzlich anders klingender Töne aus Reportagen der New York Times über Ecuador und Venezuela.

Der Artikel über Ecuador endet folgendermaßen: "In einer am Donnerstag abgegebenen Erklärung brandmarkte Herr Moreno die Proteste mit starken Worten. 'Für diejenigen, die das Chaos durchsetzen wollen, um irgendetwas zu erreichen, ist die Zeit abgelaufen', sagte er. Und fügte hinzu, er sei nicht bereit, die Abschaffung der Spritpreisssubventionierung zu überdenken: 'Die von uns ergriffenen Maßnahmen sind unabänderlich', erklärte er. 'Es besteht keine Möglichkeit, daran etwas zu ändern'". (Wochen später musste Moreno einen Rückzieher machen und die Subventionen wieder einführen).

Wie man lesen kann, präsentiert die US-Zeitung Moreno als einen starken, entschlossenen und ernsthaften Mandatsträger. Sie lassen ihm das letzte Wort in der Reportage und zensieren seine Gegner, die im Artikel als chaotisch, gewalttätig und unverantwortlich dargestellt werden.

Im Gegensatz dazu ein Artikel vom 30. Januar 2019 über Venezuela mit dem Titel "Maduro setzt eine Polizeispezialtruppe ein, um die Dissidenz niederzumachen", der mit einem Zitat nicht vom Präsidenten, sondern von einer Oppositionellen endet: "'Die Regierung zwingt dich so zu sein, wie sie es wollen', sagte Frau González. 'Denn wenn du das nicht machst, werfen sie dich ins Gefängnis oder du bist tot'".

Wie sagte der US-Intellektuelle Noam Chomsky: "Die Hauptfunktion der Massenmedien in den USA besteht darin, die öffentliche Unterstützung für die speziellen Interessen zu mobilisieren, die in der Regierung und im Privatsektor vorherrschen."

Washington will einen Regime Change in Venezuela, um eine Regierung einzusetzen, die ihren Interessen dient. Das wurde in Ecuador und Chile bereits erreicht, deshalb ignorieren die Medien die staatliche Unterdrückung in diesen Ländern. Aber wenn es sich um Venezuela handelt, gibt es für ihre Heuchelei und ihre Manipulationen keine Grenzen.

30. Oktober