Alexander von Humboldt, Venezuela und die Bolivarische Revolution

Humboldt, ein Freund Simón Bolívars, unterstützte dessen Unabhängigkeitskampf und prangerte die europäische "koloniale Barbarei" an

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Humboldt und Bonpland am Fuß des Vulkans Chimborazo, Ecuador (Gemälde von Friedrich Georg Weitsch, 1810)
Humboldt und Bonpland am Fuß des Vulkans Chimborazo, Ecuador (Gemälde von Friedrich Georg Weitsch, 1810)

"Man kann die intelligente Gesetzgebung der neuen Republiken Spaniens, die seit ihrer Gründung ernsthaft mit der völligen Einstellung der Sklaverei beschäftigt sind, nicht genug loben. In dieser Hinsicht hat dieser riesige Teil der Erde einen immensen Vorteil gegenüber dem Süden der Vereinigten Staaten."

"In Nordamerika haben sich die Weißen eine weiße Republik mit den schändlichsten Gesetzen der Sklaverei geschaffen.”

Alexander von Humboldt (1769-1859)

Im Jahr 2019 feiern wir den 250. Jahrestag der Geburt von Alexander von Humboldt, dem Wissenschaftler, der laut Símon Bolívar, der ihn persönlich kannte, der wahre "Entdecker" Amerikas war. Zwischen 1799 und 1804 bereiste Alexander von Humboldt in Begleitung des französischen Botanikers Aimé Bonpland die Kolonien des damaligen "Spanischamerikas" und erkundete Regionen, die heute zu Venezuela, Ecuador, Kolumbien, Peru und Kuba gehören. Zurück in Europa begann Humboldt mit der Veröffentlichung mehrerer Bücher, die von seinen Abenteuern in Amerika erzählten und einem neugierigen und faszinierten europäischen Publikum den natürlichen und kulturellen Reichtum Südamerikas nahe brachten.

Während er über die Wunder der tropischen Natur Amerikas und den kulturellen Reichtum seiner Ureinwohner schrieb, verurteilte Humboldt wie kein anderer vor ihm die Schrecken der Sklaverei, die Unterdrückung der indigenen Völker und die Ungerechtigkeit des Kolonialsystems. Die Bedeutung des Wissens von Humboldt für unsere Zeit ergibt sich insbesondere aus seiner Fähigkeit, diese Zusammenhänge zwischen Umwelt, Gesellschaft, Politik und Wirtschaft zu verstehen.

Er war der erste moderne westliche Denker, der den Planeten wissenschaftlich als einen lebenden Organismus beschreibt, in dem Menschen, Pflanzen, Tiere, Böden und Klima miteinander in Beziehung stehen und sich gegenseitig beeinflussen. Die Neuheit dieser Vision in ihrer Zeit, in der noch ein mechanistischer Blick auf die Natur vorherrschte, war revolutionär. Für Humboldt waren Poesie und Wissenschaft zwei komplementäre und notwendige Wege, um die Welt zu verstehen. Sein Einfluss auf Dichter, Schriftsteller und Wissenschaftler war enorm. Goethe liebte es, stundenlang mit seinem jüngeren Freund Humboldt zu sprechen, und sowohl "Faust" als auch seine Studien über Pflanzen gäbe es vielleicht nicht in der uns heute bekannten Form, wenn es Humboldts Einfluss nicht gegeben hätte.

Charles Darwin nahm mehrere Humboldt-Bücher mit auf seine Beagle-Reise, mit denen er sich ständig auseinandersetzte. Ohne Humboldt hätte Darwin kaum den "Ursprung der Arten" oder Henry David Thoreau das Buch "Walden" geschrieben.

Humboldt war wahrscheinlich der letzte Wissenschaftler, der fast die Gesamtheit der wissenschaftlichen Disziplinen seiner Zeit beherrschte und sein Wissen nutzte, um aufzuzeigen, wie die verschiedenen Phänomene miteinander in Beziehung standen. Heute würden wir dies einen „interdisziplinären Ansatz“ nennen.

Durch die Erforschung der Region des Valencia-Sees im heutigen Venezuela begann Humboldt beispielsweise den Zusammenhang zwischen Landwirtschaft und Klimawandel zu verstehen und beschrieb es so:

"Wenn Wälder zerstört werden, wie dies überall in Amerika durch die europäischen Landwirte geschieht, trocknen Wasserquellen ganz aus oder werden weniger ergiebig. Flüsse, die während eines Teils des Jahres trocken bleiben, verwandeln sich in Sturzbäche, wenn in den Bergen starker Regen fällt. Mit dem Verschwinden der Ufervegetation wird das Regenwasser nicht mehr langsam in den Fluss geleitet, stattdessen wird während starker Regenfälle die Erde an den Ufern ausgewaschen, was zu plötzlichen Überschwemmungen führt und das Land zerstört.“

Humboldt wies bereits vor über 200 Jahren darauf hin, dass Wälder die Fähigkeit der Böden, Wasser zu speichern, erhöhen und zur Kühlung des Klimas beitragen. Das Verständnis dieser Zusammenhänge und ihres Beitrags zum Klimawandel ist heute ein wesentlicher Bestandteil der Arbeit des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC).

Er verurteilte zudem das koloniale System und die kapitalistische Produktionsweise - ohne diesen Begriff zu verwenden - klar als primär verantwortlich für die Zerstörung der Umwelt und die daraus resultierenden Auswirkungen auf das Klima: Europäische Landwirte richteten ihre Produktion auf die Interessen der Metropolen aus, beuteten Menschen als Sklaven aus und vertrieben indigene Völker von ihrem Land.

Humboldt prangerte die europäische koloniale "Barbarei" an und vermittelte ein Bild von südamerikanischen indigenen Völkern und schwarzen Sklaven, das sich deutlich von den vorherrschenden Vorstellungen seiner Zeit unterschied. Humboldt lehnte nicht nur den endemischen Rassismus seiner Zeit und die vermeintliche "Überlegenheit" der "weißen Rasse" ab, sondern erklärte, dass die Kultur der indigenen Völker so kreativ und vielfältig sei wie die Europas. Darüber hinaus griff Humboldt einen der Hauptvertreter des europäischen "wissenschaftlichen Rassismus", Graf Buffon, vehement an und legte die Dummheit seiner Ideen offen.

Der Fortschritt der Wissenschaften im 19. Jahrhundert hat unweigerlich zu noch stärkeren Spezialisierungen und Isolierung der verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen voneinander geführt und damit ein umfassendes Weltbild, wie es Humboldt hatte, behindert. Dieses Phänomen ist auch heute noch vorherrschend, denn die größte Schwierigkeit besteht darin, das enorme Wissen, das wir in mehreren Bereichen gesammelt haben, in ein umfassendes Bild zu integrieren, was gleichzeitig eine grundlegende Aufgabe und ein enormer Beitrag für unsere Zukunft sein könnte. Einmal mehr ist die Arbeit des IPCC ein konkretes und aktuelles Beispiel für diesen Versuch. Der IPCC kann jedoch in seiner Funktion die politische und wirtschaftliche Dimension nicht klar und präzise in seine Studien einbeziehen, nicht mal oberflächlich auf die Probleme der kapitalistischen Wirtschaft hinweisen, ganz zu schweigen von der Verurteilung des Kapitalismus selbst.

Einerseits war ein Weltbild, wie Humboldt es vertrat und das Philosophie, Poesie und Naturwissenschaften verbindet, nur zu seiner Zeit möglich, andererseits kam Humboldt in gewisser Weise "zu früh” mit seinem Ansatz. Er starb, bevor Deutschland seine Experimente mit Kolonien in Afrika, insbesondere in Namibia, begann und der daraus resultierende Aufschwung des "wissenschaftlichen" Rassismus Deutschland und ganz Europa erfasste.

Graf de Gobineau, der das von Humboldt so lächerlich gemachte Banner des Bouffoner Rassismus zurücknehmen würde, wurde 1816 geboren. Humboldt war damals 47, der Graf lebte bis 1882, also bis 20 Jahre nach Humboldts Tod, und er hatte damit 20 Jahre Zeit, seine rassistischen Theorien zu verbreitete, ohne dass jemand mit einer ebenbürtigen Reputation und Fähigkeit wie Alexander von Humboldt ihm widersprechen konnte. Der Zusammenhang zwischen dem deutschen Kolonialismus in Afrika und der späteren Entstehung der Nazi-Bewegung wurde von Historikern wie David Olusoga und Casper W. Erichsen in "The Kaiser's Holocaust" ausführlich aufgezeigt.

Doch wie konnte mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland Ende der 1920er Jahre das Denken von Humboldt, dem berühmtesten deutschen Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts, mit der nationalsozialistischen Ideologie in Einklang gebracht werden?

Tatsächlich war Humboldt bereits Ende des 19. Jahrhunderts zu einem "peinlichen Charakter" für die kulturkapitalistische Elite Europas geworden. Folglich mussten die visionärsten Teile seines Werks gestrichen werden: die Verurteilung des Kolonialismus, der wirtschaftlichen Ausbeutung der Umwelt und der Menschen, insbesondere der indigenen Völker und Sklaven. Wir sollten vergessen, dass der berühmteste Wissenschaftler aller Zeiten den Rassismus bekämpfte und die indigenen Völker und schwarzen Sklaven vor der kapitalistischen wirtschaftlichen Ausbeutung der Kolonialländer verteidigte.

Der vielleicht relevanteste Beitrag Humboldts zum Verständnis unserer Zeit kommt aus der Beziehung zwischen ihm, Simon Bolívar und Thomas Jefferson. Nach seiner Rückkehr von der Reise durch das "spanische Amerika" im Jahr 1804 verbrachte Humboldt eine kurze Zeit in den USA, wo er Thomas Jefferson, den damals gefeierten Präsidenten traf. Jefferson teilte die gleichen Interessen in die Naturwissenschaften wie Humboldt und hatte auch einen enzyklopädischen Geist. Die beiden verstanden sich sehr gut und unterhielten sich stundenlang, als Humboldt zu Gast im Weißen Haus war.

Aber es gab eine unvereinbare grundlegende Frage zwischen den beiden: die Sklaverei. Thomas Jefferson, einer der Gründerväter der neuen Republik, die von sich behauptete, die Heimat der Freiheit und Gleichheit zu sein, war nicht nur Besitzer von Sklaven, sondern verteidigte die Bedeutung der Sklaverei als Grundlage für die wirtschaftliche Entwicklung der USA. Humboldt verurteilte die Heuchelei, die einer solchen Idee von "wirtschaftlicher Entwicklung" zugrunde liegt. Jefferson stimmte auch Buffons Vorstellungen über die "Unterlegenheit" der "schwarzen Rasse" zu, die Humboldt für idiotisch hielt.

Kurz nach seiner Rückkehr nach Europa lernte Humboldt in Paris einen jungen Adligen kennen, der gerade aus den spanischen Kolonien Amerikas gekommen war: Símon Bolívar, der zukünftige "Befreier". Bolívar berichtete später, wie das Treffen mit Humboldt seine Augen für die Wunder und das Potenzial seines eigenen Landes, des zukünftigen Venezuela, öffnete.

Es war Humboldt, der Bolivar selbst Amerika näher brachte, wie er in seinem berühmten "Brief aus Jamaika" erwähnte.

Monate später trafen sich die beiden wieder in Rom – und diesmal sprach Bolívar bereits über die Notwendigkeit der Unabhängigkeit von "Spanischamerika". In dieser Zeit waren Humboldts Ratschläge und Weisheiten von grundlegender Bedeutung, damit der junge Bolivar seine politische Reife erlangen konnte. Noch in Rom hatte Bolivar den Eid abgelegt, Amerika zu befreien und dann in sein Land zurückzukehren.

Und die Kämpfe um die Unabhängigkeit der spanischen Kolonien blieben nicht unbemerkt: Thomas Jefferson, der eine Korrespondenz mit Humboldt führte, verlangte von diesem Informationen über die von Bolívar geführte revolutionäre Bewegung und wie sie sich entwickelte. Fragen, die Humboldt "besser als jeder andere" beantworten könne, wie Jefferson schrieb. Aber Jeffersons Beziehung zum Kampf um die Befreiung der spanischen Kolonien war ziemlich zweischneidig: Einerseits hielt er die Errichtung von Republiken und das Ende der Kontrolle der spanischen Monarchie über das amerikanische Territorium für wichtig, andererseits fürchtete er die Auswirkungen dieser Befreiung auf die US-Wirtschaft.

Während Spanien seine Kontrolle über die Kolonien beibehielt, profitierte die US-Wirtschaft vom Export von Mais und Weizen nach Lateinamerika, da sich die Landwirtschaft der Kolonien ganz auf die finanziellen Interessen der Metropole konzentrierte oder, wie wir heute sagen würden, eine Wirtschaft war, die auf dem Export einiger weniger Produkte für den Weltmarkt basierte. Mit der Unabhängigkeit könnten die Kolonien Lebensmittel für den Eigenbedarf produzieren, was für die US-Exporte einen schweren Schlag bedeuten würde. Darüber hinaus stellte die Unabhängigkeit von "Spanischamerika" eine weitere, viel größere Gefahr für die USA dar, eine Gefahr, die Jefferson sehr gut verstand: Er hoffte, dass die Kolonien getrennt bleibend sich nicht in einem Land vereinen würden, denn als "eine einzige Masse werden sie ein sehr mächtiger Nachbar sein", wie Jefferson zugab.

Seitdem ist dies das eigentliche Problem und der große Alptraum Amerikas: ein vereintes, unabhängiges und mächtiges Südamerika.

Das ist der Hauptgrund für die Aggressionen, die wir heute von den USA gegen Venezuela erleben. Dass Venezuela Öl und andere natürliche Reichtümer besitzt, die von großen multinationalen Konzernen, die eng mit der US-Elite verbunden sind, begehrt werden, ist eine Tatsache. Aber das erklärt nicht vollständig die intensive Abneigung und Feindseligkeit der USA gegenüber Venezuela. Der tiefste und älteste Grund stammt aus der Zeit Humboldts und der Befreiungskriege von Bolívar und der Jefferson-Administration: die Notwendigkeit, eine Union Südamerikas auf jeden Fall zu verhindern, und ihre unabhängige und souveräne Entwicklung nicht zuzulassen.

Seit seiner Wahl 1998 hatte Hugo Chávez neben den permanenten Versuchen der Destabilisierung und der wirtschaftlichen Strangulierung drei massive Angriffe erlebt: den Staatsstreich 2002, den "Ölstreik" 2002-2003 und das Abwahlreferendum 2004. Aber Chávez war auch der Protagonist der lateinamerikanischen Integration: Unasur und Celac waren Initiativen, die hauptsächlich von seiner Regierung geleitet wurden, und die die größte und gefährlichste Herausforderung für die US-Hegemonie in der Region seit der kubanischen Revolution darstellen. Chávez und Venezuela wagten es, zu Simon Bolívars Traum von einem unabhängigen, vereinten, souveränen und mächtigen Südamerika zurückzukehren. Das Imperium kann diesen Affront und diese Bedrohung nicht ertragen.

Simón Bolívar befreite im Gegensatz zu Jefferson alle seine Sklaven und setzte in die erste Verfassung des neuen Landes, das er von Spanien befreite, das Verbot der Sklaverei ein, was auch die Bewunderung von Humboldt im am Anfang dieses Textes stehenden Zitat erklärt. Humboldt begleitete und ermutigte die Kämpfe für die Unabhängigkeit von "Spanischamerika" bis zu seinem Tod. Zwischen Jefferson und Bolívar, zwischen einer Nation, die ihre Sklaven befreit, und einer anderen, die sich von ihnen ernährt, stand Humboldt auf der Seite von Bolívar und seinem Projekt.

Im 20. Jahrhundert hätte Humboldt die Befreiungsbewegungen der europäischen Kolonien in Afrika und Asien verteidigt und unterstützt, Briefe mit Ho Chi Min ausgetauscht und Vietnam verteidigt, die kubanische Revolution begrüßt, und er wäre mit Fidel Castro und Che Guevara befreundet gewesen. Humboldt hätte Hugo Chávez und das bolivarische Projekt Alba (Bolivarische Allianz für die Völker unseres Amerika) bewundert. Und heute würde Humboldt zweifellos Venezuela gegen die Aggressionen der "Republik der weißen Männer" verteidigen. Gabriel Garcia Márquez war sich dessen bewusst und erwähnt daher Humboldt in seinem Roman "Der General in seinem Labyrinth" und in "Einhundert Jahre Einsamkeit”.

Vielleicht werden die geplanten Veranstaltungen des "Humboldt-Jahres", insbesondere von deutschen Institutionen, nicht über diesen Humboldt sprechen, vielleicht werden sie ihn als Charakter aus der Vergangenheit einordnen, mit wenig Relevanz für die Gegenwart und vor allem für die Zukunft. Aber dann muss man diese Negierung von Humboldts Idealen als eindeutiges Beispiel für den Verrat Europas an seinen eigenen aufklärerischen Idealen werten. Wenn wir sehen, wie sich Europa den Lügen der USA über Venezuela anschließt, wenn wir sehen, wie EU-Staaten die Putschversuche gegen die rechtmäßig gewählte Regierung von Nicolas Maduro unterstützen, dann ist das eine Aggression nicht nur gegen das venezolanische Volk, sondern auch gegen das Beste aus dem europäischen Erbe. Humboldt heute zu feiern und gleichzeitig Venezuela nicht zu verteidigen, wird zu einem weiteren Beispiel für die Heuchelei und den Mangel an intellektueller Ehrlichkeit, die zum Markenzeichen unserer Zeit geworden ist.

Vielleicht ist es an Venezuela, Kuba und Bolivien, die Feierlichkeiten zum "Humboldt-Jahr" zu leiten. Denn sein Erbe lebt heute viel mehr in diesen lateinamerikanischen Völkern weiter als in einem neoliberalen Europa.