Venezuela / Politik / Soziales

Wie reagieren die Barrios in Venezuela auf die US-Sanktionen?

Der Zermürbungstatik und dem Sturmangriff der der USA kann die Stirn geboten werden. Das haben die Reaktionen in den Barrios in diesen Jahren gezeigt

venezuela_comuna_altos_de_lidice_mercado_comunal.jpg

Kommunaler Markt in Altos de Lidice, einem Barrio in Venezuelas Hauptstadt Caracas
Kommunaler Markt in Altos de Lidice, einem Barrio in Venezuelas Hauptstadt Caracas

Die Sanktionen gegen die venezolanische Wirtschaft sind nichts Abstraktes: Sie treffen die Makroökonomie und die ärmeren Viertel täglich. Hier an den Hängen, wo die untersten Klassen leben, werden mögliche Umgangsweisen diskutiert.

Es wird immer schwieriger. Die wirtschaftlichen Angriffe der US-Regierung gegen Venezuela lassen darauf schließen, dass sich die Lage in einer ohnehin schon schwierigen Situation, insbesondere in den ärmeren Stadtvierteln, noch verschlechtern wird. "Wie lange kann das so weitergehen? Wie ertragen die Menschen das? Die Stärke und der Widerstand der Leute sind bewunderungswürdig", sagt Rosiris Zapateiro. In ihrem Viertel Altos de Lídice in Caracas ist sie bekannt als "La Portu" .

Durchhalten. Wie es in dem Gedicht von Juan Gelman heißt: "Lernen zu widerstehen, nicht gehen oder bleiben, sondern widerstehen". Es gibt bereits seit mehreren Jahren Versorgungsengpässe, gefolgt von Hyperinflation, Verschlechterung von Dienstleistungen und es gibt gewaltsame Übergriffe der Rechten. Die Unterzeichnung des Embargo-Dekrets durch Donald Trump wird noch größere Schwierigkeiten bringen. Was tun? Das fragen sich die führenden Kommunarden im Viertel.

"Auf der letzten Versammlung des Parlaments der Kommune wurde über diese Situation diskutiert, denn viele Dinge werden sich verschlechtern", führt Jesús Garcia aus Altos de Lídice aus. "Wenn die Probleme zunehmen, müssen wir Vorgehensweisen und Kriterien ändern und in größerer Einheit zusammen arbeiten".

Die Anführer haben eine Verantwortung gegenüber den Kommunen1. "Die Menschen haben Hoffnung in uns, wir sind verantwortlich", sagt Rosiris. Es gilt an vielen Fronten gleichzeitig zu agieren: die Preise, das Essen, das Wasser, der Transport, die Gesundheit und die Infrastruktur.

Man kann nicht darauf warten, dass "der Staat versucht, alle Probleme inmitten der Schwierigkeiten zu lösen. Durch die Blockade kann er weniger tun. Also müssen wir selbst Alternativen suchen", fügt er hinzu.

Der Alltag

Die Kommune versucht möglichst umfassend alle Lebensbereiche zu bedienen. Sie hat ein Dienstleistungsunternehmen in sozialem Eigentum aufgebaut, das sich unter anderem um die Beleuchtung der öffentlichen Räume kümmert. Ein Bus wird in Betrieb genommen, um Mobilität auch für die höher gelegenen Teile des Viertels zu gewährleisten. Aktivitäten für Kinder und Jugendliche, wie Sportmeisterschaften und Workshops werden organisiert, in denen Jugendliche zu kommunalen "Kommunikatoren" ausgebildet werden. "In fast allen Bereichen sind wir sehr aktiv", erklärt Jesús.

Für die alltäglichen Aufgaben wurden strategische Achsen festgelegt. Die Versorgung mit Lebensmittteln ist eine davon. "Sie darf weder jetzt noch morgen fehlen", sagt Jesús. Familien mit vielen Kindern, alleinerziehende Mütter sowie ältere Menschen, die Schwierigkeiten haben ihre Häuser zu verlassen, haben Vorrang.

Dafür wird in drei Bereichen gearbeitet: die kommunalen Märkte, die regelmäßig an verschiedenen Orten der Kommune organisiert werden; das Haus für Essensausgabe (casa de alimentación), das in Verbindung mit den staatlichen Programmen arbeitet; sowie die Arbeit mit den lokalen Komitees zur Versorgung und Produktion (Clap). Und schließlich ein kommunaler Laden. Dort werden Lebensmittel verkauft, die direkt von der Kommune El Maizal geliefert werden. In dieser "bodega" werden Schweine- und Rindfleisch, Mais und Käse verkauft. Im Moment wird über die Kosten, Verkaufspreise, Überschüsse, Verantwortlichkeiten, die Umsetzung der Kontrolle, die Verkaufskreisläufe zur Verteilung in den verschiedenen Gebieten der Kommune diskutiert.

"Ich wollte nie mit irgendetwas Gewinn machen", sagt Ingrid Lucero, die in ihrem Haus einen Raum für den Laden zur Verfügung stellt. Sie war von Anfang an für das staatliche Programm zur Nahrungsmittelversorgung in ihrer Gemeinde verantwortlich - als es alles noch in Hülle und Fülle gab. Jetzt ist die Situation schwierig, sie lebt von ihrer Rente und ihr Ehemann bekommt einen Mindestlohn.

Ingrid allerdings hat eine Gewissheit: "Ich bin mehr Chavista als je zuvor. Ich habe ein Ideal und weiß, dass Schwierigkeiten, Gutes und Schlechtes immer geschehen werden. Umso mehr, wenn man die Großmacht USA gegen sich hat". Sie übernimmt eine führende Rolle, um die notwendigen Antworten zu entwickeln.

Ein weiteres zentrales Anliegen der Kommune ist die Gesundheit. Sie hat ein System geschaffen, das die Instandsetzung der Arztpraxen des staatlichen Gesundheitsprogramms "Misión Barrio Adentro" sowie die persönliche Betreuung derjenigen umfasst, die ihre Wohnung nicht verlassen können. Und kürzlich wurde eine Apotheke in der Kommune eröffnet. Die Medikamente stammen aus solidarischen Spenden, die in Chile gesammelt wurden und von der Kommune von Altos de Lídice verwaltet werden.

Derzeit bietet die Apotheke rund 250 Behandlungen pro Monat an und verfügt über ein eigenes Kontroll- und Vertriebssystem. "Die Anerkennung unserer Arbeit erleben wir mit in der Freude der Leute, wenn wir die Medikamente verteilen", sagt Rosiris.

Die rote Linie

Ein weiteres Problem ist die Wasserversorgung. Die Bewohner in den höher gelegenen Teilen von Altos de Lídice bekommen zwei oder drei Tanks pro Woche. Die Nachbarn befüllen größere Behälter und füllen sie dann in kleinere um, die sie nach Hause tragen.

Jésus und Rosiris sind sich in einem Punkt einig: "Die Grenze sind die lokalen Komitees zur Versorgung und Produktion (Clap), das ist die dünne rote Linie". Ohne die Clap wäre es kaum durchzuhalten, versichern sie. Ein Paket mit 19 verschiedenen Lebensmitteln kostet halb so viel wie ein einziges Kilo Maismehl auf der Straße. Wenn die Pakete verspätet sind, steigt die Anspannung. Alle warten auf die Nachricht, wann sie ankommen werden.

Aus diesem Grund zielen die USA mit ihren Angriffen auf Unternehmen, Schiffe und Zahlungssysteme auf die Zerstörung der Importkreisläufe. Die Clap sind für die Barrios das, was das Erdöl für die Volkswirtschaft ist ‒ lebenswichtig.

Genauso lebenswichtig ist die Selbstorganisation der Bewohner in der Gemeinschaft: "Ohne diese Organisierung gäbe es ein totales Chaos. Die Leute spüren, dass sie hier im Barrio, in den Clap, eine Stelle haben, die Kommune, an die sie sich wenden können. Sie können ihre Probleme äußern. Hier wird ihnen zugehört. Auch wenn die Kommune nicht alles sofort lösen kann, so kümmert sie sich doch und ergreift Maßnahmen", erklärt Ingrid. "Ohne diese Organisierung würde sonst inmitten einer solchen Konjunktur jeder nur versuchen, sich selbst zu retten", fügt Jesús hinzu.

Es ist ein täglicher, permanenter Kampf, in dem die Bedürfnisse zunehmen und ebenso der Druck, Antworten zu finden. "Die Kommune ist ein praktisches Instrument, damit die Gemeinschaft sich organisiert und die Probleme unter allen Umständen lösen kann, insbesondere in einer Situation wie der jetzigen." Die Kommune muss aus eigener Kraft Lösungen finden und gleichzeitig mit der Regierung, den Institutionen und der politischen Führung zusammenarbeiten.

Die Stirn bieten

Die Sprecher der Kommune müssen ihren Gemeinschaften Antworten geben. Sie fordern ihrerseits Antworten von der Regierung - "Kohärenz", wie Jesús sagt. "Die Regierung möchte den Menschen verständlich machen, dass wir uns in einem Krieg befinden und dass die Probleme, die in den Gemeinden und im Land auftreten, keine Ursache von Ineffizienz, Bürokratie oder Schwächen des Staates, sondern Teil des Kriegs, der Blockade sind. Aber wenn es Handlungen gibt, die der Logik widersprechen, denken die Menschen etwas anderes", erklärt er.

Die Rolle der Anführer ist in Krisenzeiten von zentraler Bedeutung: "Die Menschen fordern, dass die Führungspersönlichkeiten auf der Höhe der Zeit sind und sich nicht auf Reden und große Akte stützen ‒ sondern, dass sie die Dinge in die Hand nehmen, denn die Bevölkerung tut das längst und unter härtesten Bedingungen".

Der Zermürbungstatik und dem Sturmangriff der der USA kann die Stirn geboten werden. Das haben die Reaktionen in den Barrios in diesen Jahren gezeigt. Die Fähigkeit Widerstand zu leisten, Wege für Lösungen der drängenden Probleme zu suchen - in einem Land, das in sechs Jahren mehr als die Hälfte seines BIP verloren hat. Weitere Schwierigkeiten werden kommen. Die Blockade soll die Erdrosselung so weit treiben, dass das Land, die Barrios, die Menschen, gebrochen werden.

"Die Blockade wirkt sich auch emotional aus. Aber wir wissen, wo es langgeht, dass es vorangehen muss. Die Arme zu verschränken würde nicht nur bedeuten, Chávez zu verraten, sondern uns selbst, diejenigen von uns, die an dieses Land glauben. Es ist notwendig, nach Möglichkeiten, Wegen und Alternativen zu suchen, um weiterzukommen", sagt Jesús.

  • 1. Die Kommunen (Comunas) in Venezuela sind Zusammenschlüsse mehrerer Kommunaler Räte (Consejos Comunales) auf lokaler Ebene. Diese Räte sind eine Struktur der Selbstverwaltung in den Gemeinden. Gewählte Nachbarschaftsvertreter sind zur Planung und Haushaltsgestaltung in lokalpolitischen Angelegenheiten berechtigt. Sie sind seit 2006 gesetzlich verankert, haben Verfassungsrang und sollen die Grundlage für den Kommunalen Staat bilden. Ziel ist die Selbstregierung des Volkes und die Überwindung des bürgerlichen Staates