Brasilien / Politik

Brasilien: Bolsonaro und der Faschismus

Der "Bolsonarismus" ist der hoffentlich erfolglose Versuch der völligen Unterwerfung und Rekolonisierung Brasiliens unter der Ägide der USA

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Brasiliens Präsident Bolsonaro
Brasiliens Präsident Bolsonaro

Es ist ein Gemeinplatz geworden, die neue Regierung von Jair Bolsonaro als "faschistisch" zu bezeichnen. Das ist meiner Meinung nach ein schwerer Fehler. Der Faschismus leitet sich nicht aus den Merkmalen eines politischen Führers ab, wie auch immer in den Persönlichkeitstests - oder in den Einstellungen seines täglichen Lebens, wie im Falle von Bolsonaro - eine überwältigende Dominanz reaktionärer, fanatischer, sexistischer, fremdenfeindlicher und rassistischer Einstellungen zu erkennen ist. Das haben US-Soziologen und -Sozialpsychologen nach dem Zweiten Weltkrieg mit der berühmten "F-Skala" gemessen, wo sich das "f" auf den Faschismus bezog.

Man dachte damals, und einige nähren immer noch diesen Glauben, dass der Faschismus die Kristallisation von gestörten Persönlichkeiten auf der Ebene des Staates und des politischen Lebens war, Träger schwerer Psychopathologien, die aufgrund der Umstände an die Macht gekommen waren. Die politische Absicht dieser Operation war offensichtlich: Für das konventionelle Denken und für die Sozialwissenschaften der damaligen Zeit musste die Katastrophe von Faschismus und Nazismus der Rolle einiger Individuen zugeschrieben werden: Hitlers Paranoia oder Mussolinis Größenwahn. Das System, das heißt der Kapitalismus und seine Widersprüche, war unschuldig und hatte für den Holocaust des Zweiten Weltkriegs keinerlei Verantwortung.

Nachdem diese Vision verworfen wurde, gibt es diejenigen, die darauf bestehen, dass die Anwesenheit von Bewegungen oder sogar politischen Parteien von klarer faschistischer Inspiration die Regierung Bolsonaro unweigerlich färben wird. Ein weiterer Fehler: Es sind auch nicht sie, die die tiefe Natur einer Staatsform wie den Faschismus definieren. Sowohl im frühen Peronismus1 der 1940er Jahre als auch im brasilianischen Varguismus2 wucherten in Macht-affinen Kreisen mehrere faschistische oder faschistoide Organisationen und Persönlichkeiten. Aber weder der Peronismus noch der Varguismus erbauten einen faschistischen Staat. Der klassische Peronismus war, unter Verwendung der Konzeptualisierung Gramscis, ein Fall von "progressivem Cäsarismus", den nur sehr voreingenommene Beobachter aufgrund der Anwesenheit von Gruppen und Personen, die dieser Ideologie anhängen, als faschistisch charakterisieren konnten. Das waren Faschisten, aber Perons Regierung nicht. Kommen wir zu unserer Zeit: Donald Trump ist, wenn wir von seiner Persönlichkeit sprechen, ein Faschist, aber die US-Regierung ist keine faschistische.

Aus der Perspektive des historischen Materialismus wird der Faschismus nicht von Persönlichkeiten oder Gruppen definiert. Es ist eine außergewöhnliche Form des kapitalistischen Staates mit absolut einzigartigen und unwiederholbaren Eigenschaften. Sie tauchte auf, als ihre ideale Herrschaftsform, die bürgerliche Demokratie, in der Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg einer sehr schweren Krise ausgesetzt war. Deshalb sagen wir, dass es sich um eine "historische Kategorie" handelt und dass sie sich nicht mehr reproduzieren kann, weil die Bedingungen, die ihre Entstehung ermöglicht haben, für immer verschwunden sind.

Welches waren die so besonderen Bedingungen dessen, was wir als "Ära des Faschismus" bezeichnen könnten, und die heute nicht gegeben sind? Der Faschismus war in erster Linie die politische Formel, mit der ein von einem nationalen Bürgertum beherrschter, dominanter Block mit reaktionären und despotischen Mitteln eine Hegemoniekrise löste, die durch eine beispiellose aufständische Mobilisierung der Unterklassen und die Vertiefung des Dissens innerhalb des dominanten Blocks nach dem Ersten Weltkrieg verursacht wurde. Noch dazu kämpften diese Bourgeoisien in Deutschland und Italien darum, sich einen Platz in der Verteilung der kolonialen Welt zu erobern, was diese Länder mit den dominierenden Mächten auf der internationalen Bühne, vor allem dem Vereinigten Königreich und Frankreich, konfrontierte. Das Ergebnis: Der Zweite Weltkrieg.

Heute, in der Ära der Transnationalisierung und Finanzialisierung des Kapitals und der Dominanz von global operierenden Mega-Unternehmen, liegt die nationale Bourgeoisie auf dem Friedhof der alten Herrschaftsklassen. Ihren Platz nimmt nun eine imperiale und multinationale Bourgeoisie ein, die sich ihre nationalen Artgenossen unterworfen hat (einschließlich die in den Ländern des entwickelten Kapitalismus); sie handelt auf dem Weltschachbrett mit einer Einheit des Kommandos, die sich regelmäßig in Davos trifft, um globale Strategien der Akkumulation und politischen Herrschaft zu entwerfen. Und ohne nationale Bourgeoisie gibt es kein faschistisches Regime, da sein Hauptakteur fehlt.

Zweitens waren die faschistischen Regime radikal staatsbezogen. Sie zweifelten nicht nur an liberalen Politiken, sondern agierten offen gegen sie. Ihre Wirtschaftspolitik war interventionistisch, erweiterte das Spektrum der öffentlichen Unternehmen, schützte die des nationalen Privatsektors und etablierte einen starken Protektionismus im Außenhandel. Darüber hinaus nahmen bei der Reorganisation des Staatsapparats, die erforderlich war, um den Bedrohungen durch den Volksaufstand und die Zwietracht unter "denen da oben" zu begegnen, die politische Polizei, die Nachrichtendienste und die Propagandabehörden eine prominente Stellung ein. Angesichts der derzeitigen Struktur und Komplexität des brasilianischen Staates ist es unmöglich, dass Bolsonaro etwas Derartiges versucht; und erst recht nicht, da doch seine Wirtschaftspolitik in den Händen eines "Chicago Boy" liegt und er seine Absicht, das Wirtschaftsleben zu liberalisieren, schon in alle Himmelsrichtungen bekundet hat.

Drittens waren die europäischen Faschismen Regime der Organisation und Mobilisierung der Massen, insbesondere der Mittelklassen. Gleichzeitig mit der Verfolgung und Zerstörung der Gewerkschaftsorganisationen des Proletariats haben sie große Bewegungen der bedrohten Mittelschichten eingefangen. Im Fall Italiens wurden diese Bemühungen in die Sphäre der Arbeiter getragen, was zu einem vertikalen und den Befehlen der Regierung untergeordneten Gewerkschaftswesen führte. Mit anderen Worten, das soziale Leben wurde "korporativiert" und den "von oben" erteilten Befehlen gefügig gemacht.

Bolsonaro hingegen wird die Entpolitisierung verstärken, die unglücklicherweise begonnen hat, als die Regierung Lula in die technokratische Falle tappte und glaubte, dass der "Lärm" der Politik die Märkte erschrecken würde. Er wird den Zerfall und die Atomisierung der brasilianischen Gesellschaft, die Privatisierung des öffentlichen Lebens, die Rückkehr von Frauen und Männern in ihre Häuser, ihre Tempel und ihre Arbeit vertiefen, damit sie ihre traditionellen Rollen erfüllen. All dies steht an den Antipoden des Faschismus.

Viertens, die Faschismen waren extrem nationalistische Staaten. Sie kämpften darum, die "Teilung der Welt" zu ihren Gunsten neu zu definieren, was sie kommerziell und militärisch mit den dominanten Mächten konfrontierte. Der Nationalismus von Bolsonaro hingegen ist eine unbedeutende Rhetorik, Gerede ohne praktische Folgen. Sein "nationales Projekt" besteht darin, Brasilien zum Lieblings-Lakaien Washingtons in Lateinamerika und der Karibik zu machen und Kolumbien vom unehrenhaften Platz des "südamerikanischen Israel" zu verdrängen. Der Bolsonarismus, weit davon entfernt, das nationale brasilianische Interesse erneut zu bekräftigen, ist der Name des hoffentlich erfolglosen Versuchs der vollständigen Unterwerfung und Rekolonisierung Brasiliens unter der Ägide der USA.

Aber bedeutet dies alles nun, dass das Bolsonaro-Regime von der Anwendung der brutalen repressiven Politik, die den europäischen Faschismus kennzeichnete, absehen wird? Auf keinen Fall! Wir haben es zur Zeit der völkermörderischen, "zivil-militärischen" Diktaturen bereits gesagt: Diese Regime können – mit Ausnahme der von Hitler ausgeführten Shoa – noch grausamer sein als die europäischen Faschismen. Die 30.000 Verhafteten-Verschwundenen in Argentinien und die Verallgemeinerung von abscheulichen Formen von Folter und Hinrichtung von Gefangenen zeigen die perverse Bösartigkeit, die diese Regime entwickeln können; die phänomenale Rate der Inhaftierung pro hunderttausend Einwohner, die die uruguayische Diktatur kennzeichnete, ist weltweit beispiellos3; Gramsci4 überlebte elf Jahre in den Verliesen des italienischen Faschismus und in Argentinien wäre er, wie so viele andere, Tage nach seiner Inhaftierung ins Meer geworfen worden.

Daher hat die Zurückhaltung, die Regierung von Bolsonaro als faschistisch zu bezeichnen, absolut nicht die Absicht, das Bild einer Persönlichkeit schönzufärben, die aus den Kloaken der brasilianischen Politik aufgetaucht ist; oder das Bild einer Regierung, die eine Quelle enormen Leidens für das brasilianische Volk und für ganz Lateinamerika sein wird. Es wird ein Regime sein, das den blutigsten Militärdiktaturen der Vergangenheit ähnelt, aber es wird nicht faschistisch sein. Es wird diejenigen, die sich seinen Gewalttaten widersetzen, ohne Gnade verfolgen, inhaftieren und ermorden. Die Freiheiten werden eingeschränkt und die Kultur wird einer beispiellosen Verfolgung ausgesetzt werden, um die "Gender-Ideologie" und jede Art des kritischen Denkens zu beseitigen. Jede Person oder Organisation, die sich dem widersetzt, wird Ziel seines Hasses und seiner Wut sein. Die Landlosen, die Obdachlosen, die Frauenbewegungen, LGTBI, Gewerkschaften, Studentenbewegungen, die Favela-Organisationen werden zum Objekt seiner repressiven Raserei.

Aber Bolsonaro hat nicht alle auf seiner Seite und wird auf viele Widerstände stoßen, auch wenn diese zunächst ungeordnet und unorganisiert sein werden. Die Widersprüche sind vielfältig und sehr ernst: Die Unternehmerschaft – oder die "autochthone Bourgeoisie", die nicht national orientiert ist, wie Che sagte – wird sich der wirtschaftlichen Öffnung widersetzen, weil sie durch die chinesische Konkurrenz zerstört würde; das aktive Militär will nichts von einem Überfall auf venezolanisches Gebiet hören, um sein Blut einer von Donald Trump in Funktion der nationalen Interessen der USA beschlossenen Invasion anzubieten; und die popularen Kräfte werden sich selbst in ihrer derzeitigen Zerstreuung nicht so leicht überwältigen lassen.

Außerdem tauchen ernsthafte Korruptionsvorwürfe gegen diesen falschen "Außenseiter" der Politik auf, der 28 Jahre lang Abgeordneter im brasilianischen Kongress war und dabei Zeuge oder Teilnehmer aller Machenschaften war, die in diesen Jahren stattgefunden haben. Deshalb täte er gut daran, sich zu erinnern, was mit einem anderen brasilianischen Torquemada5 geschah: Fernando Collor de Melo6, der wie Bolsonaro in den 1990er Jahren mit der Leidenschaft eines Kreuzritters der moralischen Reconquista ankam und seine Tage als Präsident mit einem flüchtigen Gang durch den Palacio del Planalto beendete.

Wir werden bald wissen, welche Zukunft die neue Regierung erwartet, aber die Prognose ist nicht sehr günstig und Instabilität und Turbulenzen werden in Brasilien an der Tagesordnung sein. Man sollte vorbereitet sein, denn die politische Dynamik kann eine rasante Geschwindigkeit erreichen und das populare Lager muss rechtzeitig reagieren können. Deshalb ist das Ziel dieser Überlegungen nicht, eine akademische Unterscheidung über die verschiedenen Formen der despotischen Herrschaft im Kapitalismus vorzunehmen, sondern zu einer präzisen Charakterisierung des Feindes beizutragen, ohne die er niemals erfolgreich bekämpft werden kann. Und es ist sehr wichtig, ihn zu besiegen, bevor er zu viel Schaden anrichtet.

  • 1. Siehe Amerika21: Der 17. Oktober 1945 in Argentinien: Die Geburt des Peronismus
  • 2. Getúlio Dornelles Vargas war von 1930 bis 1945 und von 1950 bis 1954 Präsident Brasiliens
  • 3. Die Gesamtzahl der politischen Gefangenen unter der zivil-militärischen Diktatur in Uruguay betrug im Jahr 1976 nach Schätzungen von Amnesty International 5.000. Demnach hatte Uruguay mit fast einem Gefangenen pro 500 Einwohnern die höchste Rate von politischen Gefangenen weltweit
  • 4. Antonio Gramsci (1891 -1937), italienischer Schriftsteller, Journalist, Politiker und marxistischer Philosoph. Er gehört zu den Begründern der Kommunistischen Partei Italiens. Vom 6. April 1924 bis zu seiner Verhaftung durch Faschisten am 8. November 1926 war er Abgeordneter im Parlament. Am 21. April 1937 wurde er schwerkrank freigelassen und verstarb am 27. April
  • 5. Tomás de Torquemada, Dominikanermönch, Berater und Beichtvater der "Katholischen Könige" Isabella I. und Ferdinand II., war der erste landesweite Groß- und Generalinquisitor der 1478 vom Papst legitimierten Spanischen Inquisition
  • 6. Fernando Collor de Mello war von 1990 bis 1992 Präsident von Brasilien. Nach Korruptionsvorwürfen musste er zurückreten