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Haiti und das Ergebnis der humanitären Intervention

Die Bevölkerung Haitis fordert nicht nur bessere Lebensbedingungen, sondern auch die Unabhängigkeit von ausländischen Mächten und humanitärer Hilfe

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Wandgemälde zum Unabhängigkeitskampf Haitis
Wandgemälde zum Unabhängigkeitskampf Haitis

Jean Betrand Aristide, der erste demokratisch gewählte Präsident Haitis, wurde 2004 gestürzt. Der Erfolg des zweiten Putsches gegen seine Regierung wurde mit der Zustimmung einer internationalen Gemeinschaft erzielt, die von den Interessen Frankreichs (unterstützt von den Vereinigten Staaten) bestimmt war, das die Forderung nach historischer Wiedergutmachung, die der haitianische Führer ankündigen würde, nicht akzeptieren wollte. Aristide wurde gezwungen, sein Land nach einem Staatsstreich zu verlassen, der Haiti in eine beispiellose wirtschaftliche, politische und humanitäre Krise stürzte.

Nach der militärischen Intervention, die Boniface Alexandre vorläufig an die Macht brachte, wurde noch im Jahr 2004 vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die "Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen für Haiti (Minustah)" mit den Zielen gebildet, "das Land zu stabilisieren, zu befrieden und Gruppen von Guerilleros und Kriminellen zu entwaffnen, freie und informierte Wahlen zu fördern sowie die institutionelle und wirtschaftliche Entwicklung Haitis zu unterstützen“1.

Seitdem haben sich die hohe politische Instabilität, die enorme institutionelle Schwäche ‒ weitgehend verursacht durch die ausländische Intervention mittels humanitärer Hilfe ‒ und die strukturelle Armutskrise (die 80 Prozent der Bevölkerung betrifft) ohne Anzeichen einer Verbesserung fortgesetzt. Die Ankunft der humanitären "Hilfe" hatte eine Reihe von Auswirkungen, welche die Durchführung der Intervention im Land in Frage stellten.

Mehrere Oxfam-Berichte, darunter Der langsame Weg zum Wiederaufbau2 und Minustah, Haitis alter Feind 3, schildern die Auswirkungen der Tragödie des Landes, dessen große soziale Kluft Millionen von Bürgern in extremer Armut hält und wo eine kleine lokale (und auch internationale) Elite die einzige Nutznießerin der Geldmittel bleibt, die bereitgestellt wurden, um den Haitianern zu helfen.

Zwei Jahre nach dem verheerenden Erdbeben von 2010 (dem Zeitraum, in dem ein erheblicher Teil der in den letzten Jahren in Haiti geleisteten humanitären Hilfe eingesetzt wurde)4 war die Situation entmutigend: "519.000 Haitianer lebten in Zelten in 758 Lagern im Großraum Port-au-Prince, die Hälfte der Trümmer wurde nicht weggeräumt", und schlimmer noch, es kam zu einem Choleraausbruch, der tausende von Bürgern das Leben kostete. Es ist allgemein bekannt, dass der Ausbruch durch die Verunreinigung von Wasserquellen verursacht wurde, die von der Basis eines Minustah-Teams ausging.

Die von Minustah eingeschleppte und von der UNO bewusst vertuschte Choleraepidemie führte zum Tod von 10.000 Menschen. Im Jahr 2015 kam es zu einem Wiederaufflammen mit 18 Prozent mehr Todesopfern 5 als beim ersten Mal.

Neben anderen von Oxfam über den Verbleib der investierten Mittel gesammelten Daten sind die folgenden besonders hervorzuheben:

- "Der größte Einzelempfänger von US-Erdbebengeldern war die US-Regierung". Das Gleiche gilt auch für die Spenden aus anderen Ländern.

    - Die Nachrichtenagentur Associated Press fand heraus, dass von den 373 Millionen US-Dollar der anfänglichen US-Finanzmittel 33 Cent von jedem dieser Dollars für Haiti direkt in die USA zurückflossen; dies wurde im Januar 2010 dokumentiert.

    - Die Präsidenten George W. Bush und Bill Clinton kündigten am 16. Januar 2010 eine Spendeninitiative für Haiti an. Bis Oktober 2011 hatte der Fonds 54 Millionen Dollar erhalten und "zwei Millionen Dollar für den Bau eines 29 Millionen Dollar teuren Luxushotels in Haiti gespendet"6.

      Das Ende der Mission und der Beginn der aktuellen Krise

      Im April 2017 bestimmte der UN-Sicherheitsrat das Ende von Minustah für Oktober 2017. Von da an würde die militärische Komponente der Mission zurückgezogen und sowohl das Polizeipersonal als auch die zivilen Aufgaben reduziert.

      Einstimmig wurde eine kleinere Nachfolgemission, die Mission der Vereinten Nationen zur Unterstützung der Justiz in Haiti (MINUJUSTH) mit einem Mandat zur "Stärkung von Rechtsstaatlichkeit, Polizeientwicklung und Menschenrechten sowie von guter Amtsführung und Förderfunktionen etabliert, um der Regierung von Haiti zu helfen, die Stabilisierungserfolge zu konsolidieren und deren Nachhaltigkeit zu gewährleisten". Diese Mission sollte zunächst für einen Zeitraum von sechs Monaten vom 16. Oktober 2017 bis zum 15. April 2018 eingerichtet werden, wurde aber bis 2019 verlängert.

      Genau im Rahmen der Definition der Kontinuität der Mission ‒ nach der Bewertung durch eine eigens zu diesem Zweck entsandte Kommission ‒ haben die Anpassungsmaßnahmen der Regierung von Jovenel Moïse aufgrund der bei Lieferanten aufgenommenen Schulden, steigender Preise, Treibstoffknappheit und der Exzesse der im Land eingesetzten Sicherheitskräfte den Zorn einer Bevölkerung ausgelöst, die ihr Recht "als Mensch zu leben" einfordert.

      Die aktuelle Krise, verankert in den strukturellen Bedingungen der Abhängigkeit von externer und humanitärer Hilfe, begann am 7. Februar im Rahmen des Gedenkens an einen neuen Jahrestag des Sturzes der Diktatur von Jean-Claude Duvalier im Jahr 1986. Dieses Datum an sich bezeichnet den politischen und verbindenden Charakter der jüngsten Ereignisse.

      Seitdem formierten sich im ganzen Land verschiedene Proteste gegen eine politische Klasse, von der die Leute denken, dass sie sie ständig und auf dreiste Weise beraubt hat. Der jüngste Skandal steht im Zusammenhang mit dem Diebstahl von 3,8 Milliarden US-Dollar aus Fonds der Entwicklungsprogramme von Petrocaribe während der Amtszeit von Michel Martelly7.

      Die vorteilhafte politische Instabilität

      Die strukturelle Verarmung Haitis korreliert mit einer als humanitäre Hilfe getarnten Einmischungspolitik, die die Abhängigkeit des karibischen Landes von "äußeren Hilfen" vorantreibt. Die aktuellen Bedingungen des ersten Landes, das die Unabhängigkeit von Spanien erlangt hat, sind vielleicht das beste Beispiel für "Katastrophenkapitalismus" oder "humanitäre Besatzung". Es sind Strategien, die auf Kriegszuständen oder humanitären Krisen beruhen – ob künstlich geschaffen oder nicht – und eine ausländische Intervention sowie die Öffnung von Märkten und/oder eine neoliberale Politik ermöglichen. Die humanitäre Hilfe ist zu einem erheblichen Teil verantwortlich für die strukturelle Verarmung der Bevölkerung, die institutionelle Schwäche und für die kapitalistische Ausplünderung in Haiti.

      Mögliche Szenarien in dem Inselstaat zu erkennen erweist sich als sehr komplexe Aufgabe, da die Entwicklung in vollem Gange ist.

      Das Szenario der "angespannten Ruhe", die von einigen Medien nach der allmählichen "Normalisierung" einiger öffentlicher Dienstleistungen geschildert wurde8, nimmt den Kern des Problems aus der Diskussion: die Verelendung im Alltagsleben, die von ausländischen Interessen und auch von der lokalen Elite hervorgerufen wird.

      Das andere Szenario steht in Verbindung mit den nachhaltigen sozialen Mobilisierungen in verschiedenen Teilen des Landes. Diese Situation könnte die Unterdrückung durch die Moïse-Regierung und sehr wahrscheinlich die Eskalation der ohnehin schon extremen Gewalt weiter verschärfen: nach Angaben sozialer Organisationen beträgt die Zahl der Morde bei den Protesten um die 60 – während die Regierung nur von neun spricht – und es gibt 247 Verletzte und 600 Inhaftierte9. Die Repression könnte die sozialen Bewegungen ersticken. Aber in Anbetracht der organisatorischen und revolutionären Tradition Haitis könnte der Volksaufstand aufrechterhalten werden und zu Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften, zum Rücktritt von Moïse oder auf den Weg zu einer verfassungsgebenden Versammlung führen, welche die von den lokalen Eliten in der Verfassung von 1987 geschwächten demokratischen Mechanismen wieder aufnimmt10.

      So oder so ist die politische Spannung da. Die Vorschläge von Moïse zum Dialog und die Senkung der Lebensmittelpreise sind Zugeständnisse an eine Bevölkerung, die nicht nur bessere Lebensbedingungen fordert, sondern auch die Unabhängigkeit von ausländischen Mächten und humanitärer Hilfe verlangt.

      Heute ist die haitianische populare Klasse wieder ein Beispiel für den Widerstand in einer Region, die nach humanitärer Hilfe in Venezuela ruft – einem Land, das im Kampf gegen die von den Vereinten Nationen importierte Cholera eine Schlüsselrolle gespielt hat. So ist die Anprangerung des Putsches in diesem Land durch die internationale Anerkennung von Juan Guaidó als Präsident eine der verbindenden Achsen der popularen Revolte in Haiti. Die mobilisierte haitianische Bevölkerung führt heute den Aufstand in Lateinamerika gegen die humanitären Intervention an.