Eine Agenda für das Internet der Bürger

Die Mehrheit der Interaktionen im Internet konzentriert sich auf große Plattformen unter der Kontrolle einiger Mega-Konzerne. Das Bürgerinternet ist zunehmend marginalisiert

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Beim Treffen in der Hauptstadt von Ecuador, Quito: "Nutzt du die Technologie oder benutzt sie dich"
Beim Treffen in der Hauptstadt von Ecuador, Quito: "Nutzt du die Technologie oder benutzt sie dich"

Das Internet ist praktisch allgegenwärtig und wir sind es, die ihm Leben und Inhalte geben. Hat es Sinn, einfach weiterhin nur Nutzer der Dienste zu sein, die die großen Firmen dieses Sektors uns anbieten, zu ihren Bedingungen? Oder müssen wir uns einmischen in diese Entwicklung und die Fähigkeit erlangen, über die Verwendung unserer Beiträge zu entscheiden? Es zeichnet sich ab, dass es zu den großen Herausforderungen dieses Jahrhunderts gehören wird, Antworten auf diese Fragen zu finden.

Es lohnt sich daran zu erinnern, dass, als das Web vor knapp einem Vierteljahrhundert geboren wurde und die Nutzung des Internets sich auszubreiten begann, viele Aktivisten und Bürger es als eine Möglichkeit aufnahmen, die Kommunikation zu demokratisieren, Informationen, Ideen und Kenntnisse zu teilen und horizontale Netze zu knüpfen. Das fiel zusammen mit dem Aufkommen des Kampfes sozialer Bewegungen gegen die neoliberale Globalisierung, besonders im Süden. Das Internet verwandelte sich in ein unverzichtbares Werkzeug, um die weltweiten Kämpfe der Basis und der Bürgerschaft zu verknüpfen, neue populare Kommunikationsmittel zu erschaffen, die akademische Forschung zu vernetzen, die Entwicklung neuer Kommunikationsformen zu ermöglichen und vieles mehr. Es entstand das Internet der Bürger und es vervielfachte sich mittels einer Unzahl von Initiativen in Vernetzung, Software, Programmen, Plattformen, Inhalten, Websites etc. Man könnte sagen, das Internet präsentierte sich als das liebenswürdige Gesicht der Globalisierung.

Seit dem Ende das 20. Jahrhunderts war eine schwindelerregende Zunahme privater Investitionen in dem Bereich festzustellen; es entstanden die digitalen Sozialen Netzwerke und der Zugriff darauf intensivierte sich massiv. Parallel dazu begann die Vorherrschaft der großen privaten Plattformen, auf denen sich heute die Mehrheit der Interaktionen im Internet konzentriert, unter der Kontrolle einer Handvoll Mega-Konzerne. Das Bürgerinternet, das auf der Gemeinschaft beruht, lebt weiter, aber zunehmend in die Ecke gedrängt durch diese Unternehmeroffensive.

Jetzt treten wir immer schneller in eine neue Phase ein: das Internet der Dinge, der digitalen Ökonomie, der künstlichen Intelligenz. Die Datenmassen sind der wichtigste Input und Quelle der Wertschöpfung dieser Ökonomie: sie werden an Werbeunternehmen verkauft, werden in Algorithmen verarbeitet, die in immer mehr Lebensbereiche eingreifen und sie sind es, die die künstliche Intelligenz versorgen. Hinter diesen Daten sind auch die Überwachungs-, Spionage- und Cyberkrieg-Programme her. Wer die Daten speichert und kontrolliert, konzentriert Macht und Reichtum auf sich. Die großen Internet-Unternehmen und die Sicherheitsdienste nutzen das Fehlen eines Regelwerks (national wie international), um ihre eigenen Regeln durchzusetzen. Die Bürgerschaft bleibt ohne Schutz, um ihre Rechte zu verteidigen und autonome Projekte zu entwickeln.

Angesichts dieser Situation entstand die Initiative zur Einrichtung des Foro Social de Internet (Internet-Sozialforum, FSI) als ein weltweiter autonomer Raum für soziale und bürgerschaftliche Organisationen der verschiedenen gesellschaftlichen Sektoren, um zu debattieren und Antworten darauf zu suchen. Man entschied sich, dies unter dem Schirm des Foro Social Mundial (Weltsozialforums, FSM) zu tun, wegen seiner Bekräftigung, dass eine andere Welt möglich ist, entgegen dem neoliberalen Konzept, es gebe keine Alternativen.

Als Beitrag zu dieser Initiative haben verschiedene lateinamerikanische Organisationen im Jahr 2017 einen Meinungsaustausch angestoßen 1, um die Formulierung von Vorschlägen und Initiativen aus einem regionalen Ansatz auf den Weg zu bringen. Eine Kombination von Informationsaustausch und -weitergabe auf der virtuellen und der Präsenzebene zu diesem Thema mündete in dem Treffen "Dialoge für ein Internet der Bürger: Unser Amerika nimmt Kurs auf das Internet-Sozialforum" in Quito vom 27. bis 29. September 2017

Die Zusammenkunft priorisierte drei Schwerpunkte der Debatte: 1. Kenntnisse 2. WTO, elektronischer Handel, Arbeit und Territorium und 3. Demokratie, Sicherheit und Staat. Ausgangspunkt war eine Analyse des globalen und regionalen Kontextes in diesen drei Themenbereichen und später konzentrierte man sich auf den Meinungsaustausch in themenbezogenen Arbeitsgruppen, um eine regionale Agenda aufzubauen. Darüber hinaus teilte man verschiedene wichtige Erfahrungen des Bürgerinternets.

Prioritäten: Rechte an Daten und Datenschutz

In den Arbeitsgruppen wurden Vorschläge für die Region und auch für das 2018 in Indien stattfindende Weltsozialforum des Internet vorbereitet 2, sowohl für den Bereich staatliche Politik wie auch der Bürgerinitiativen und -aktionen. Daraus ergaben sich einige Gemeinsamkeiten und übergreifende Themen, insbesondere: Menschenrechte und Datenschutz.

In diesem Sinn wurden für die nächsten Monate einige vorrangige Handlungsfelder benannt, die folgendes umfassen:

- Eine breite Kommunikationskampagne wird durchgeführt, um soziale Organisationen, die Öffentlichkeit und die Behörden über die aktuellen Tendenzen im Internet und digitale Technologien zu informieren, weil es sich um neue Themen handelt, deren Implikationen für die Mehrheit der Bevölkerung und in vielen Fällen auch für die Entscheidungsträger der Politik nicht klar sind. Unter den zu priorisierenden Themen wurden folgende besonders hervorgehoben: die Handhabung der Daten und ihre Auswirkung auf die Demokratie; die künstliche Intelligenz und Algorithmen und die Dringlichkeit, Regelungen festzulegen; Sicherheit und Privatheit der Daten und wie die Mittel zu Ihrem Schutz anzuwenden sind, sei es um öffentliche Informationen weiter zu geben, sei es um den sicheren Austausch privater Daten herzustellen (sichere Messengerdienste); die Bedeutung des Verhandlungsvorschlags der Welthandelsorganisation (WTO) zum elektronischen Handel; die Gefahr der Cyberwaffen; die elektronische Regierung und was ihre Rolle bei der Förderung der Teilhabe der Bürger ist.

Mit Vordringlichkeit soll in jedem Land eine öffentliche Debatte entwickelt und sich auf Kriterien zur Gesetzgebung zum Schutz und zur Handhabung von Daten und gegen digitale Gewalt geinigt werden. Um zu dieser Debatte beizutragen, wird angeregt, Erfahrungen und Vorschläge unter den verschiedenen Ländern zu teilen; folgende Kriterien sollen erwogen werden:

- Gewährleistung der Sicherheit und des Schutzes der Privatsphäre der Personen hat Priorität

- Schaffung von Datenschutzagenturen, die den Schutz der Bürger garantieren. Die Daten müssen dezentralisiert werden und dürfen nicht in der Hand des Staats konzentriert werden.

- Gewährleistung von Transparenz über die Handhabung und den Gebrauch persönlicher Daten im öffentlichen und privaten Sektor

- Die persönlichen Daten oder solche, die die Identifizierung einer Person erlauben, müssen für nicht handelbar erklärt werden. Vorrang des Schutzes persönlicher Daten vor Konsum und Dienstleistungen

- Begrenzung und Regulierung der Verwendung biometrischer Daten

- Verbot der Speicherung öffentlicher Daten auf ausländischen Servern.

In diesem Zusammenhang wird auch darauf hingewiesen, dass es in der öffentlichen Debatte notwendig ist, den Charakter der Daten neu zu bestimmen, die nicht als Handelsware sondern als soziales, für die Politikgestaltung wertvolles Gut betrachtet werden müssen. Das heißt auch festzulegen, welche Daten öffentlich oder offen sein und welche als privat angesehen werden müssen. Die Daten, die Staaten normalerweise erzeugen, müssen als öffentlich angesehen werden; die Daten, die in Verbindung mit Personen stehen, sind die, die Schutz brauchen.

Inputs und Erfahrungen teilen und systematisieren, die die Bürgeraktion fördern, wie zum Beispiel: einen Leitfaden für freie Software und Sicherheitsinstrumente für die verschiedenen Bedürfnisse; eine Zusammenstellung der besten Praktiken im Bürgerinternet; Materialien zu Gesetzen und staatlicher Politiken zu den verschiedenen Themata; Materialien zur Ausbildung.

Außerdem wurde für die Agenda der nächsten Monate vereinbart:

- Teilnahme an der Sensibilisierungs- und Mobilisierungskampagne zur Ablehnung der Verhandlungen zum elektronischen Handel in der WTO (und auch in den Freihandelsverträgen), da es sich hier um eine Offensive der großen transnationalen digitalen Konzerne und ihrer Regierungen handelt, um den ganzen Sektor zu ihren Gunsten zu deregulieren und zu garantieren, dass sie die Daten ohne jede Einschränkung ausbeuten können.

- Vorschläge zu digitalen Rechten für das "Verbindliche Abkommen für transnationale Unternehmen und Menschenrechte" anstoßen, dessen erste Verhandlungsrunde im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen im Oktober 2017 durchgeführt wurde.

- Unterstützung der weltweiten Kampagne gegen Killer-Roboter und Cyberwaffen

- Sammeln von Vorschlägen für die Prozesse der regionalen Integration im Hinblick auf technologische Souveränität und digitale Rechte.

- In Vorbereitung des weltweiten Internet-Sozialforums in den Debatten zu diesen Themen bei internationalen Treffen vorankommen, wie den Parallelveranstaltungen zum Ministerratstreffen der WTO (Buenos Aires, 9. bis 14. Dezember 2017) und beim Weltsozialforum (Salvador de Bahía, Brasilien, März 2018).

Außerdem steht an, Beiträge zu leisten für eine universelle Erklärung über Zugang, Gebrauch und Entwicklung des Internet, als regionalen Beitrag zur Vorbereitung des Internet-Sozialforums.

Staatliche Politiken

Die Arbeitsgruppen formulierten auch verschiedene Vorschläge bezüglich der staatlichen Politiken. Unter anderem wurde die Notwendigkeit hervorgehoben, das Internet als öffentliches Gut oder als essentiellen Dienst mit allgemeinem Zugang zu betrachten und nicht als Dienstleistung des Marktes; und dass die Internet-Provider als öffentliche Dienstleister zu betrachten sind.

Auf dem Gebiet der Sicherheit und Überwachung wird die Sicherheit der Menschen hervorgehoben (im Unterschied zu der alleinigen Beachtung der Sicherheit der Infrastruktur und ihrer Eigentümer). Das schließt ein, die Verletzung der Privatsphäre und die digitale Gewalt zu erfassen und die verletzten Rechtsgüter und die verschiedenen Akteure zu differenzieren: Staat, Firmen, Privatleute. Es wird auch Transparenz gefordert, was die Verwendung öffentlicher Mittel bei den Sicherheitsorganen und die Bewertung ihrer Effektivität angeht (z.B. Überwachungskameras).

Außerdem ist es notwendig, einen juristischen Rahmen zu schaffen, um die Anwendung künstlicher Intelligenz zu regeln und sicherzustellen, dass die Algorithmen transparent sind.

In Bezug auf die technologische Souveränität betonen wir den Aspekt der Souveränität des Volkes, deren Voraussetzung das öffentliche Interesse ist. Wir sind uns darin einig, die obligatorische Nutzung freier Software in den Systemen des öffentlichen Interesses zu befördern, im Besonderen im Erziehungssystem, mit Anreizen zur lokalen Entwicklung von Software; und darin, Gesetze auf den Weg zu bringen, die die Neutralität des Netzes garantieren, das heißt eine egalitäre Behandlung aller Informationsquellen, ohne bestimmte Firmen oder Kontrollverfahren zu begünstigen. Es wird außerdem vorgeschlagen, Einfluss auszuüben, um die Verwaltung des geistigen Eigentums dem Strafrecht zu entziehen und im Zivilrecht anzusiedeln.

In diesem Sinn ist es wichtig, die Süd-Süd-Kooperation zu fördern, zum Beispiel für die Vernetzung der Infrastruktur in der Region (der "optische Ring" für Südamerika, Satelliten); unter anderem für die Zusammenarbeit öffentlicher und bürgerschaftlicher Laboratorien zur Erschaffung künstlicher Intelligenz; zur Herstellung von Telekommunikationsausrüstung; zur Entwicklung regionaler Plattformen im Internet im Sinne eigener Interessen und um die Abhängigkeit von den großen transnationalen Plattformen zu verringern.

Die Lehrpläne müssen unter anderem themenübergreifend die Wissenschaft, die Technologie und die Gesellschaft einbeziehen; eine kritische Bildung und das Verständnis des Internets als technische Einrichtung und Kultur fördern; den bewussten Umgang mit dieser Technologie und ihrer Auswirkung auf die Gesellschaft fördern und die Wichtigkeit der Privatsphäre und der Verschlüsselung betonen.

Auf dem Gebiet der Arbeit und der popularen Ökonomie werden Politiken benötigt, die die Rechte der Arbeiter angesichts der Tendenz zu einer immer größeren Prekarisierung garantieren, die sich aus der Automatisierung und der Arbeitsweise der neuen digitalen Konzerne ergibt (z.B. Transportunternehmen, die ihre Fahrer nicht als Angestellte anerkennen); ebenso brauchen wir Maßnahmen zur Förderung des elektronischen Handels, der nationale Kleinunternehmen und landwirtschaftliche Produzenten begünstigt anstatt Abhängigkeit von transnationalen Unternehmen zu schaffen.

Hin zu einem Internet der Bürger

Das Internet der Bürger wird auch mittels einer Vielzahl von Aktionen geschaffen, die in verschiedenen Sektoren entwickelt wurden. Dieser Prozess zielt darauf ab, die Verbindung zwischen ihnen zu stärken. Einige der Ideen, die erwähnt wurden:

- dass die Bürgerschaft sich die digitale Welt aneigne, indem sie eigenständige Inhalte hervorbringt, die ihre Identität, Interessen, Probleme und Vielfalt widerspiegeln, (z.B. um die Inhalte bei Wikipedia vielseitiger zu gestalten); und dass sie ihre Macht ausübe, Netzwerke oder Firmen zu nutzen oder bei Missbrauch zu verwerfen.

- Pädagogisches Material soll entwickelt und verteilt, Brigaden für Schulung und Bewusstseinsbildung aufgebaut und Schulungsmaßnahmen rund um freie Technologie und Kultur durchgeführt werden

- Austausch, Information, Analyse über die Auswirkung des technologischen Wandels auf die Arbeitswelt (Prekarisierung der Arbeit), die Landwirtschaft, die Umwelt, die Städte etc. sollen angestoßen und vor nachteiligen Vorschlägen in Bereichen wie Geo-Engineering, Green Economy, Genforschung gewarnt werden, die tendenziell durch digitale Technologien verstärkt werden.

- Es geht um die Annäherung zwischen technologischen und technologiepolitischen Sektoren, Basisbewegungen, den Bürgerorganisationen und den Unternehmen des öffentlichen Sektors, um eine organisierte soziale Macht aufzubauen, die diese Agenda antreibt.

Für weitere Informationen über das Treffen und den regionalen Prozess "Internet der Bürger" besuchen Sie bitte: https://al.internetsocialforum.net/

Die anglo-ecuadorianische Journalistin Sally Burch ist geschäftsführende Direktorin von Alai

  • 1. Agencia Latinoamericana de Información (Alai), Foro Comunicación para la Integración de NuestrAmérica (FCINA), Asociación Latinoamericana de Educación Radiofónica (Aler), Agencia Internacional de Noticias Pressenza, Coordinadora de Medios Comunitarios Populares y Educativos del Ecuador Corape), Medialab-UIO
  • 2. Die vollständigen Ergebnisse der Arbeitsgruppen und des Plenums finden Sie hier