Argentinien unter Macri: "Die Regierung missachtet die Vergangenheit"

Der argentinische Autor Sergio Raimondi analysiert im Gespräch mit dem Publizisten Peter B. Schumann die einschneidenden Veränderungen im Land

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Der Präsident von Argentinien, Mauricio Macri (Bildmitte) bei einem Treffen mit Unternehmern des Landes am 5. Dezember 2017 in Buenos Aires
Der Präsident von Argentinien, Mauricio Macri (Bildmitte) bei einem Treffen mit Unternehmern des Landes am 5. Dezember 2017 in Buenos Aires

Monatelang haben die Dozenten von Schulen und Hochschulen für eine angemessene Entschädigung für die galoppierende Inflation und die drastischen Preiserhöhungen und eine gründliche Bildungsreform demonstriert. Zu Hunderttausenden protestierte die Bevölkerung, als die Regierung begann, die Opferzahlen der Massenmorde während der Diktatur infrage zu stellen und das Prestige der Militärs wieder herzustellen. Die Kulturschaffenden streikten, als Mauricio Macri die Förderprogramme zusammenstrich und die alternative Kultur marginalisierte.

Die einschneidenden Veränderungen in einem der bedeutendsten Länder Lateinamerikas analysiert der argentinische Autor Sergio Raimondi im Deutschlandfunk-Gespräch mit dem Publizisten Peter B. Schumann.

Sergio Raimondi, wie würden Sie die Regierung von Präsident Macri kurz charakterisieren?

Das ist eine Regierung, die Geschichte missachtet, die sie sogar desavouiert. Eine kleine Anekdote kann das vielleicht illustrieren. Die Regierung Macri hat verordnet, auf den Geldscheinen die berühmten Persönlichkeiten unserer Geschichte durch typische Tiere der argentinischen Fauna zu ersetzen. Das ist nur ein Detail …

… aber ein sehr bemerkenswertes, denn auf dem 50-Peso-Schein ist beispielsweise nicht mehr Domingo Faustino Sarmiento zu sehen, einer der großen Reformer unter den Präsidenten, sondern der Kondor aus den Anden. Und Eva Perón auf dem 100‑Peso-Schein fiel einem der seltenen argentinischen Hirsche zum Opfer.

Das sind zwar nur Details, doch es sagt vieles aus … wie auch ein anderes Beispiel: Beamte dieser Regierung haben am 24. Mai, dem Gedenktag des Beginns der Militärdiktatur, Transparente mit der Aufschrift entrollt: "Schluss mit der Unterbrechung der demokratischen Ordnung". Das heißt: Diktatur ist für die Regierungsvertreter ein Begriff, den sie nicht mehr verwenden wollen. Ich sehe darin die allmähliche Etablierung einer neuen kulturellen Dominanz.

Diskussionen über Opferzahlen

Vor einiger Zeit ging eine Meldung durch die Presse, Präsident Macri habe in den USA für zwei Milliarden Dollar Waffen bestellt, und zwar Kriegsgerät. Dient ein solcher Kauf der Aufwertung der Militärs? Denn seine Vorgänger, die beiden Kirchner-Regierungen, hatten das Militärbudget reduziert und ihnen zahlreiche Privilegien entzogen.

Das kann ich nicht wirklich beurteilen. Deshalb möchte ich die Beziehung zu den Militärs von einem anderen Aspekt aus darstellen. Einen Tag nach dem Regierungsantritt Macris geschah folgendes: La Nación, die wichtigste konservative Tageszeitung, die die Geschichte unserer Nation seit bald 200 Jahren begleitet, veröffentlichte einen Leitartikel. Er legte der Regierung fast unverhohlen nahe, eine Reihe von Gerichtsurteilen, die in der Kirchner-Zeit gegen Militärs gefällt wurden, zu revidieren. Da fragt man sich doch, welche Verbindungen hat die gegenwärtige Regierung zu den ehemaligen Putschisten? Welche Schulden sind da zu begleichen?

Ein heikles Thema.

Und noch ein Detail. Am 9. Juli 2016, dem Nationalfeiertag, fand erstmals wieder eine Militärparade statt. Nun kann man sicher nicht ewig dem gesamten Militär die in der Diktatur begangenen Verbrechen vorwerfen. Es hat viele Verurteilungen und Reformen gegeben, dennoch muss diese Schuld immer wieder thematisiert werden, und vor allem darf dieser Teil der Geschichte der argentinischen Gesellschaft nicht einfach verdrängt werden. Das Wiederaufleben solcher Aufmärsche hat auch eine kulturelle Dimension, die wir beachten müssen.

Nun haben Regierungsvertreter noch eine andere Diskussion vom Zaun gebrochen und die Zahl von 30.000 Opfern angezweifelt, die die Diktatur hat verschwinden lassen. Sie sprechen nur noch von 8.000 Ermordeten. Dabei wurden 9.000 Fälle bereits 1984 von der Conadep, einer offiziellen Untersuchungskommission, dokumentiert. Ist diese Negierung der Fakten, diese Verharmlosung der Verbrechen in dem von Ihnen skizzierten Kontext zu sehen?

Auf jeden Fall. Und es waren nicht nur Einzelne, selbst der Präsident hat die bisher gültigen Zahlen bestritten. Die 30.000 sind eine Hochrechnung der Angehörigenorganisationen, denn der Staat hat sich seit 1984 nie mehr um eine Aufklärung bemüht, und nur er und die Militärs verfügen über die Quellen, die alle noch vorhanden sind. Aber keine der verantwortlichen Regierungen hat bisher feststellen wollen, wie viele Opfer es wirklich gegeben hat. Wenn also die Regierung Macri anfängt, die Opferzahl infrage zu stellen, dann will sie damit auch die große Verantwortung des Staates für die aberwitzigen Verbrechen der Diktatur infrage stellen.

Es wurden jedoch mehrere Gedenkstätten von den Kirchners eröffnet. Die ESMA, das schlimmste Folterzentrum, wurde in einen Ort der Erinnerung umgewandelt, und es wurde außerdem ein großer Park der Erinnerung geschaffen. Diesen hat Bundeskanzlerin Merkel bei ihrer Argentinien-Visite besucht und sich dabei die Aufarbeitung der argentinischen Vergangenheit erklären lassen. Dabei hatte sie eine denkwürdige Begegnung.

Eine der ältesten Mütter von der Plaza de Mayo mit deutschen Vorfahren kam zu Merkel, um mit ihr zu sprechen, was gar nicht vorgesehen war. Sie hatte ein Schild um den Hals gehängt, auf dem stand: "Es waren 30.000." Und sie sagte zu ihr: "Mein Großvater starb in Auschwitz, und ich konnte ihn nicht begraben. Meine Tochter starb in Argentinien während der Militärdiktatur, und auch sie konnte ich nicht begraben. Zwei Gräber fehlen mir." Diese Botschaft war für Merkel, glaube ich, sehr wichtig: Einer Frau von 90 Jahren gelang es, zu ihr zu kommen und ihr diese Lücke in ihrem Leben, die fehlenden Gräber, vor Augen zu führen. Sie hat damit der Zahl der 30.000 Opfer einen besonderen Sinn gegeben. Und sie fügte noch hinzu: "Wissen Sie, wer als erster die Echtheit dieser Zahl bestritten hat? Lopérfido, den die Regierung nach Berlin als Kulturattaché schicken wird."

Dazu eine kurze Erläuterung: Der 52-jährige Darío Lopérfido war Kulturminister der Stadt Buenos Aires und musste im Juli 2016 zurücktreten. Er hatte die Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur relativiert und unter anderem behauptet, die Zahl von 30.000 Opfern sei eine Lüge der Angehörigen, um Finanzhilfen zu bekommen, mit denen ihre Organisationen alimentiert worden seien. Den Sturm der Entrüstung, der danach losbrach, kommentierte er mit dem Satz: "Wenn die Diktatur einen großen Fehler gemacht hat, dann den, dass sie keine legalen Prozesse anstrengte, um sie auf diese Weise verschwinden und töten zu lassen." Inzwischen ist Lopérfido Sonderbotschafter für Kultur an der argentinischen Botschaft in Berlin. 

Diese Ernennung ist nicht nur eine Frage des guten Geschmacks, sondern sie soll wohl auch die Menschenrechts-Politik zusätzlich desavouieren, die von den Kirchner‑Regierungen sehr ernst genommen worden war.

Seit diese neue Regierung ihr Amt angetreten hat, vertritt sie eine ambivalente und oft eine revisionistische Haltung gegenüber den Ereignissen während der letzten Militärdiktatur - wie wir schon an der Negierung der Opferzahl und an der neuen Sprachregelung gesehen haben. Hinzu kommt eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, der die Strafen von inhaftierten Militärs für Verletzungen der Menschenrechte reduzieren wollte.

"Bahia Blanca ist eine der reaktionärsten Städte Argentiniens"

Und das war nur möglich, weil Macri zuvor zwei Vakanzen im Obersten Gerichtshof per Dekret mit Richtern seines Vertrauens besetzt hatte, was überhaupt nicht verfassungskonform war.

Der Widerstand in der Zivilgesellschaft war so heftig, dass die Entscheidung außer Kraft gesetzt wurde und sogar Beamte, die daran mitgewirkt hatten, einen anderen Posten erhielten. Es gab Massendemonstrationen in Buenos Aires und in anderen Großstädten und selbst in dem sehr konservativen Bahia Blanca, wo ich herkomme. Das bedeutet, dass sich mittlerweile ein Bewusstsein in der Gesellschaft für Menschenrechte gebildet hat. Das haben wir immerhin erreicht.

Wie ist dieser Bewusstwerdungsprozess beispielsweise in Bahia Blanca abgelaufen, dieser Stadt 600 Kilometer südlich von Buenos Aires, die Sie als sehr konservativ bezeichnet haben?

Bahia Blanca wurde von der Militärdiktatur schwer heimgesucht. Es gab sehr viele Verschwundene, einen brutalen Staatsterror, der sich besonders gegen Jugendliche, Aktivisten und Gewerkschafter richtete. Als ich Ende der 1980er-Jahre an der Universität zu studieren begann, hat niemand über dieses Thema gesprochen. Erst in der Kirchner-Zeit, in den letzten 10-15 Jahren, wurde darüber öffentlich diskutiert. Und es gab sogar zwei Gerichtsverfahren in Bahia Blanca. Ich erinnere mich noch an den ersten Prozess 2012, bei dem Militärs hohe Strafen erhielten und das Gericht ankündigte, auch die Verantwortlichen im Zivilbereich aburteilen zu wollen. Dieses zweite Verfahren zog sich lange hin und verlief schließlich im Sande, denn es hätte sich auch gegen "La Nueva Provincia" richten müssen. In dieser wichtigsten Tageszeitung der Stadt wurden lange Zeit die Verbrechen als Folgen von Konfrontationen verharmlost.

Aber wie gesagt: Durch die verstärkte Aufarbeitung der Vergangenheit während der Kirchner-Zeit hat sich die Haltung in Teilen der Bevölkerung verändert. Ich möchte Sie deshalb noch einmal fragen: Warum unternimmt die Regierung Macri heute solche Anstrengungen, die Wahrheit über das blutigste Kapitel der jüngeren Geschichte Argentiniens zurechtzubiegen?

Entweder hat sie etwas zu verbergen oder sie will sogar den Ursprung ihrer Macht verschleiern. Es ist ganz offensichtlich, dass Vertreter dieser Regierung starke ökonomische Verbindungen zur Militärdiktatur besaßen.

Und wir dürfen auch nicht vergessen, dass Macri aus einer der reichsten Unternehmerfamilien Argentiniens stammt und das Großkapital eine Stütze der Militärs war.

Damals wurde die Gewalt der Guerrilla-Organisationen mit dem Staatsterror gleichgesetzt. Es war die berüchtigte Theorie von den beiden Dämonen. Das Militär trat an, um eine neue politische und eine neue wirtschaftliche Ordnung zu etablieren. Das führte zu einem dramatischen Verfall des sozialen Gleichgewichts und zu einer extremen Verschuldung, die seit 1983 bis heute die Entwicklung unserer Demokratie belastet. Das müssen wir uns immer wieder vor Augen halten, wenn wir über die Verbindung dieser Regierung zur letzten Diktatur sprechen.

Nach dem, was Sie ausgeführt haben, scheint Mauricio Macri alles zu unternehmen, um die gesellschaftspolitischen Errungenschaften der Regierungszeit der beiden Kirchners zu tilgen. Gibt es auch einen 'Cambiemos cultural', einen kulturellen Umbruch?

Ja, Programme wurden eingestellt, Mittel gekürzt …

… und das große Kulturzentrum Kirchner, das Cristina Fernández de Kirchner für ihren Mann hatte einrichten lassen, wurde ideologisch geschleift und ist heute nur noch ein Ort massentauglicher Spektakel.

Aber am meisten plagen die Kulturschaffenden die sozialen Folgen des Neoliberalismus. Die Argentinier können heute von ihren Einkünften nur noch den Lebensunterhalt bestreiten und sich deshalb kaum noch Bücher kaufen und nicht mehr so oft ins Theater oder ins Kino gehen.

Sergio Raimondi, Sie sind Kulturpolitiker und Schriftsteller in Bahia Blanca, einer zwar sehr wichtigen Hafenstadt, aber fern vom Zentrum Buenos Aires. Welche Gestaltungsmöglichkeit gibt es für jemanden wie Sie?

Bahia Blanca ist eine der reaktionärsten Städte in Argentinien. Ein Jahrhundert lang gab es nur eine einzige Tageszeitung, "La Nueva Provincia". Sie war eng mit der Agraroligarchie und dem Militär verbunden, das gerade in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts antidemokratische Tendenzen verfolgte und oft geputscht hat. In diesem Kontext bin ich aufgewachsen. Mit der Rückkehr zur Demokratie 1983 hat sich die Situation etwas entspannt. Zum ersten Mal tauchten politische Botschaften auf Straßenwänden auf. Und wir, eine Gruppe junger Dichter, sahen das als Chance für uns, denn wir fanden keine anderen Publikationsmöglichkeiten. Deshalb schrieben wir zwischen 1986 und 1994 nicht nur politische Parolen, sondern auch unsere Gedichte auf Wände in den Straßen von Bahia Blanca.

"Die Kirchners hatten großes Interesse an der Geschichte"

Hatten denn solche Aktionen dort überhaupt Aussicht auf Erfolg?

Ja, das war eine sehr starke Erfahrung: dieser Versuch, die Verbreitung von Poesie zu verändern, Verse, Gedichte in den öffentlichen Raum hineinzutragen, Poesie als eine Möglichkeit, in die Alltagsgesellschaft hineinzuwirken, und das in einer Stadt mit dieser Vergangenheit.

Was für Auswirkungen hatten solche Gedichtaktionen?

Damals nahm die Dichtung als eines der wenigen Genres Stellung zu den Vorgängen in der argentinischen Gesellschaft. Deshalb war sie sehr gefragt, und es entstanden zahlreiche neue, kleine, unabhängige Verlage. Heute gibt es noch immer mehr als 50 von ihnen. Das Interessante daran ist, dass sie mit der Zwangsläufigkeit brachen, literarisches Leben fände nur in Buenos Aires statt. Meine Zivilpoesie kam in Bahia Blanca heraus. Heute gibt es solche Verlage in Entre Ríos, Santa Fé, Córdoba, Mar del Plata.

Wieso nennen Sie Ihre Dichtung Zivilpoesie? Das ist ein ganz ungewöhnlicher Begriff.

Der Band erschien zuerst 2001. Ich habe ihn Ende der 1990er-Jahre geschrieben, auf dem Höhepunkt des Neoliberalismus, als die gesellschaftlichen Folgen sichtbar wurden. Darin behandle ich nicht nur politische, sondern auch wirtschaftliche Themen. In Lateinamerika gibt es natürlich eine lange Tradition politischer Poesie, die sogenannte sozial engagierte Dichtung. Sie war in den 1960er-, 70er-Jahren sehr stark. In dieser Tradition stehe auch ich, aber ich sehe andererseits die Notwendigkeit, sie zu aktualisieren. Ich schreibe aus der Erfahrung der Diktatur eine Poesie über die aktuelle Demokratie.

Es ist also eine politische Poesie, aber mit einem neuen Aspekt, denn die Wirtschaft gehört nicht zum üblichen Themenkanon der Dichtung.

Das ist richtig. Aber ich behandle die Wirtschaft auch in ihren historischen und kulturellen Zusammenhängen. Wer das Buch liest, erhält nicht nur Informationen über das, was sich in Argentinien Ende der 1990er-Jahre ereignet hat. Er findet ebenso historische Aspekte über das Land als Produzent von Rohstoffen, was bei seiner Entstehung von großer Bedeutung war und heute wieder ein ganz aktuelles Thema ist. Das Buch verbindet das Ökonomische mit dem Historischen und natürlich ebenso mit dem Gesellschaftlichen.

Ihre Poesie macht einen sehr prosaischen Eindruck.

Ich habe mich gefragt: Wie setze ich Themen in Poesie um, die eigentlich zur journalistischen Prosa, zur Essayistik und zur Geschichtsschreibung gehören? Hinzu kam die Frage: Was für eine Poesie schreibe ich in diesem besonderen Augenblick des Neoliberalismus und der Zerstörung des sozialen Netzes? Deshalb habe ich mich für diesen poetischen Bruch entschieden, denn er entspricht dem gesellschaftlichen Bruch, der damals in Argentinien geschah.

Zurück zum Neoliberalismus von heute. Hat die Sparpolitik der Regierung Macri die Entwicklung auf dem Buchmarkt verändert? 

Traditionsgemäß sind wir es in der Kultur gewohnt, eher ohne den Staat als mit ihm zu arbeiten. Die Regierungszeit der Kirchners war eine seltsame Ausnahme in den letzten Jahren. Die Kirchners waren sehr an der kulturellen Produktion des Landes interessiert. Sie haben sie durch Förderung unterstützt. Das gegenwärtige Fehlen der Kulturförderung ist also nichts Neues.

Doch worin unterscheiden sich beide?

Die Kirchners hatten großes Interesse an der Geschichte und schlugen ständig neue Aspekte der historischen Auseinandersetzung vor, ob einem das gefiel oder nicht. Sie wollten dadurch einen neuen Gemeinsinn entwickeln, eine verbindliche Werteskala. Denn wir dürfen nicht vergessen, als Néstor Kirchner 2003 an die Regierung kam, stand Argentinien vor einem Debakel. Ihm ging es um die Entwicklung eines neuen Narrativs - um dieses Modewort zu gebrauchen. Mich als Kulturpolitiker hat es immer interessiert, wie er die Kultur als ein politisches und gesellschaftliches Instrument einsetzte. Insofern gibt es eine große Veränderung.

Noch stärkere Veränderungen sehe ich in der Bildungspolitik, vor allem bei den Lehrerinnen und Lehrern. Als ich im Frühjahr in Buenos Aires war, haben sie wochenlang zu Hunderttausenden für ihre Rechte gestreikt.

Denn sie haben monatelang Tarifverhandlungen ohne Ergebnis geführt. Das Problem bestand darin, dass es für die Inflation von 40 Prozent im Jahr 2016 keinen angemessenen Ausgleich gegeben hat. Die Abschlüsse, die damals getroffen wurden, blieben weit unter der Inflationsrate. So etwas hat natürlich auch Auswirkungen auf alle Bereiche der Kulturindustrie. Denn wir müssen die Kultur innerhalb der gesamten Entwicklung der Bevölkerung sehen. Kultur hat immer auch etwas mit gesundem Menschenverstand zu tun. Doch den beansprucht heute die Regierung allein für sich.

"Die Gesellschaft besitzt einen hohen Grad der Mobilisierung"

Wobei ich allerdings glaube, dass er bei der Lohnentwicklung weitgehend ausgesetzt hat, denn in diesem Jahr hat die Regierung die Tarifverhandlungen für das Lehrpersonal an Schulen und Hochschulen monatelang boykottiert. Wo liegt das Problem?

Die Abschlüsse, die in den ersten Monaten des letzten Jahres getätigt wurden, gingen von einer viel zu geringen Inflation von nur 33 Prozent aus. Tatsächlich erreichten wir 40 Prozent. Da fehlten also schon mal 7 Prozent. Bei einigen Gewerkschaften erreichte der Verlust sogar 13 Prozent.

Ein kleines Rechenexempel. Die Inflation in diesem Jahr beträgt bereits rund 24 Prozent. Die Regierung bot nur 18 Prozent. Sie hätte jedoch mindestens 31 Prozent bieten müssen, das heißt den Inflationsausgleich für 2017 und die Prozent für den Verlustausgleich von 2016.

In diesem Jahr sind die Tarifverhandlungen für die Lehrkräfte von zentraler Bedeutung. Der Umstand, dass es lange keine angemessenen Verhandlungen gegeben hat, soll wohl der Disziplinierung dienen, denn sie würden eine Signalwirkung für alle übrigen Gewerkschaften haben. Doch so einfach machen wir das der Regierung nicht. Die argentinische Gesellschaft besitzt einen hohen Grad der Mobilisierung. Das hat sich im Verlauf unserer Geschichte immer wieder gezeigt. Wir müssen jedoch aufpassen. In der Provinz Buenos Aires hat es unter dieser Regierung bereits persönliche Angriffe auf die Verhandlungsführer gegeben. Sie gelten aber nicht nur einzelnen Vertretern, sondern sie zielen auf die gesamte Gewerkschaftsbewegung. Man versucht dadurch, ihre Legitimität infrage zu stellen.

Gab es denn bereits andere Versuche der Disziplinierung?

Im letzten Jahr machten wir in Loma de la Lata in der Gas- und Öl-Provinz Neuquén eine entsprechende Erfahrung. Die Regierung hat für die dortige Ölproduktion erste Regulierungsmaßnahmen durchgesetzt: einen Vertrag zur sogenannten Flexibilisierung des Arbeitsschutzgesetzes. 

Die Maßnahmen, die Präsident Macri ergriffen hat, sind ja eigentlich ziemlich unpopulär: Relativierung der Verbrechen der Diktatur, Desavouierung der Mütter und der Großmütter von der Plaza de Mayo, Aufwertung des Militärs, Flexibilisierung der Arbeitsschutz-Gesetze. Hinzu kommen gigantische Preiserhöhungen bei Strom, Gas und im Nahverkehr, Inflation, Kaufkraftverlust. Warum ging Präsident Macri mit seiner konservativen Regierungskoalition Cambiemos aus den Wahlen von Parlament und Senat dennoch gestärkt hervor?

Weil der Peronismus gespalten ist und zwar bereits seit 2013, was zu seiner Niederlage und zum Regierungswechsel von 2015 beigetragen hat. Und deshalb dürfte der jetzige Wahlsieg bereits ein Hinweis auf den Ausgang der Präsidentenwahl 2019 sein, was sehr schlimm wäre.

Er ist in jedem Fall eine Bestätigung des Politikwechsels durch die Regierung Macri. Warum ist es der Ex-Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner nicht gelungen, sich deutlicher durchzusetzen? Wurde ihr Ansehen durch die diversen Korruptionsverfahren zu stark beschädigt?

"Macri ist genauso wie Kirchner ein Produkt des Jahres 2001"

Es gab eine unaufhörliche Kampagne der Delegitimierung gegen die Person Cristina. Doch sie ist als Einzige in der Opposition fähig, Massen zu mobilisieren. Sie hat noch immer großen Einfluss und vertritt eine klare Diagnose der aktuellen Lage. Es ist aber auch möglich, dass wir vom linken Flügel des Peronismus uns noch immer nicht wirklich klar darüber geworden sind, was die Gründe für die Niederlage von 2015 waren. Deshalb existiert bisher keine wirkliche Alternative zum regierenden Macrismo.

Gibt es denn in Argentinien keine Opposition außerhalb des Peronismus? Er umfasst zwar alle Strömungen von rechts bis links. Doch es hat immer auch linke Parteien unabhängig vom Peronismus gegeben. Wieso sind die derart schwach?

Weil es den Peronismus gibt. Er hat sich die linken Überzeugungen, auch die der Gewerkschaften, zu eigen gemacht. Der klassische Peronismus ist eine derart weitgespannte Bewegung, dass er viele Tendenzen in sich vereinigen kann. Ich erinnere nur an den Neoliberalismus der 1990er-Jahre.

Also an Carlos Menem, der das Land zugrunde richtete, und an Nestor Kirchner, der es vor dem völligen Absturz rettete.

Und zwar mit Hilfe von Übereinkünften mit Duhalde, einem der wichtigsten Minister der neoliberalen Menem-Regierung. Deshalb halte ich es für äußerst idealistisch zu glauben, ohne den Peronismus einzubeziehen, könne man eine dauerhafte Perspektive für die Zukunft Argentiniens entwickeln. Lösungen für Argentinien gibt es nur mit dem Peronismus, nicht ohne ihn.

Eine Anmerkung: Der Peronismus war nicht nur segensreich für das Land. Die fatalen Kämpfe innerhalb der Bewegung stürzten Anfang der 1970er-Jahre Argentinien in das Chaos, das es den Militärs ermöglichte, ihre blutige Diktatur zu errichten. Danach boykottierten die Peronisten alle Reformversuche von Präsident Alfonsín, so dass wieder ein Peronist, der neoliberale Carlos Menem, an die Macht kam. Er hatte zunächst wirtschaftlichen Erfolg, ging dann aber zum Ausverkauf der argentinischen Industrie über, was - wie gesagt - beinahe zum Staatsbankrott führte.

Das ist außerhalb des Landes ein schwer zu verstehendes Phänomen. Der Einfluss des Peronismus zwischen 1945 und 1955 …

… der - sagen wir mal - segensreichen Phase …

... hat im folgenden Jahrzehnt noch zugenommen, obwohl er von seinen Gegnern quasi geächtet worden war. Das dürfen wir nicht vergessen. Deshalb wurde es für die Linke immer schwerer, eine bedeutende Rolle auf der politischen Bühne zu spielen. In den letzten Jahren hat sie es zwar geschafft, ein paar Mal erfolgreich im demokratischen Prozess mitzumischen, aber innerhalb des politischen Machtgefüges blieb sie bedeutungslos. Und nun ist mit dem Macrismo eine neue Bewegung auf den Plan getreten.

Macri und seine Bewegung Cambiemos bilden doch eine echte Alternative außerhalb des Peronismus - wie immer man dazu stehen mag.

Macri ist genauso wie Kirchner ein Produkt des Jahres 2001. Damals ist alles explodiert.

Das muss ich kurz erläutern. Das Land stand vor dem Kollaps. Es herrschte Hyperinflation. Die Banken schlossen, die Bankkonten wurden eingefroren, es gab nur noch Geld auf Zuteilung. Präsident de la Rúa, ein Mann der konservativen Mitte, floh im Hubschrauber aus der Casa Rosada. Die Bevölkerung hatte die Nase voll von der gesamten politischen Klasse und rief: "¡Que se vayan todos! Haut alle ab!"

Danach kam Kirchner an die Macht. Aber wieso hat Macri das genützt?

Vom starken Misstrauen gegenüber der etablierten Politik, das sich in dem Ruf "Haut alle ab!" ausdrückte, hat auch er als Neuling profitiert. Und jetzt macht Macri Politik durch Anti-Politik. Das ist der Macrismo: Politik, die die Politik der vorherigen Regierung desavouiert. Sie zeigt sich außerdem in der Beziehung zu den Gewerkschaften und dem ständigen Versuch, diese zu delegitimieren. Das heißt für mich: Politik zu machen, indem man die Politik negiert.

Sergio Raimondi ist Poet, Kulturpolitiker und Dozent für zeitgenössische Literatur an der Universität der Hafenstadt Bahia Blanca, wo er 1968 geboren wurde. Mit den Bewohnern der Stadt hat er zahllose Interviews für ein Archiv der Erinnerung am dortigen Museo del Puerto geführt. Dieses Hafen‑Museum dient der Dokumentation der Alltagswirklichkeit, von der auch seine Poesía Civil, seine Gedichte handeln. In ihnen forscht er unter anderem nach den Ursachen gesellschaftlicher Verwerfungen