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Ende der Ära Kirchner?

Versuch einer Bilanz

Der Tod Néstor Kirchners hat nicht nur in Argentinien, sondern auch in ganz Lateinamerika eine große Resonanz ausgelöst. Offene Kritik an seiner Politik wurde selbst von konservativer Seite selten bzw. sehr verhalten formuliert, es überwiegen bislang die – teilweise heroisierenden – Stimmen, die seine bedeutenden Verdienste um den Wiederaufstieg Argentiniens nach der großen Krise (2001/02) würdigen. Nur innerhalb der Linken scheinen weit entgegen gesetzte Meinungen zu seinem politischen Lebenswerk formuliert zu werden: Positionen, die ihn als besonders raffinierten Konservativen und Kapitalapologeten zu entlarven suchen, und solche, die ihn als wahren Revolutionär und zeitgemäßen Sozialisten ausweisen, wie die digitale, linke Zeitschrift rébelión.org.

Der plötzliche Abgang Kirchners von der politischen Bühne war ähnlich überraschend und massenwirksam wie sein unerwarteter Aufstieg zum Präsidenten eines Landes, das sich gerade anschickte, seine seit Jahrzehnten tiefste Wirtschaftskrise zu überwinden. Nachdem er im Mai 2003 – mit nur 22 Prozent der abgegebenen Stimmen gewählt – das Präsidentenamt antrat, entfaltete er sofort eine breite und intensive politische Aktivität auf einer links-populistischen Linie, die schon bald mit dem Etikett "K-Effekt" umschrieben wurde (Natanson 2004). Seine stark polarisierende Wirkung konnte auch nach Bekannt werden seines Todes registriert werden: Während in New York die Aktienkurse argentinischer Unternehmen um 13 Prozent in die Höhe schossen, in den feinen, nördlichen Stadtteilen von Buenos Aires die Sektkorken knallten und Autos in Jubelkorsos gesehen worden sind, begannen hunderttausende von Argentiniern aus den Unterund Mittelschichten, aber auch die meisten Vertreter der Intellektuellen und Kulturschaffenden des Landes mit öffentlichen Trauerbekundungen.

Der auf kroatische und schweizerische Wurzeln zurückschauende Kirchner stammte aus Rio Gallegos, in der patagonischen Provinz Santa Cruz begann das Studium der Rechtwissenschaften Ende der sechziger Jahre in La Plata (in der Provinz Buenos Aires), wo er die Studienkollegin und politische Gefährtin Cristina Fernández kennen lernte und später heiratete. Während der äußerst repressiven Militärdiktatur (1976-83) "tauchten" die der links-peronistischen Jugend nahe stehenden jungen Anwälte in Nestors Heimatprovinz "unter" und begannen nach der Rückkehr zur Demokratie, sich wieder auf lokaler und provinzialer Ebene politisch zu engagieren. In den neunziger Jahren bekleidete Kirchner das Amt des Gouverneurs von Santa Cruz, Cristina Fernández das der Senatorin dieses Bundesstaats. Nach der großen Krise von 2001/02 kam der Name Kirchners als Präsidentschaftskandidat ins Spiel, da die anderen "Größen" der peronistischen Partei (Partido Justicialista, PJ) entweder verschlissen waren oder hoffnungslos zerstritten gegeneinander agierten.

Heterodoxe Wirtschaftspolitik: effektiv und populär 

Dass "die Kirchners" (Néstor und Cristina Fernández de Kirchner waren seit Jahrzehnten als "politisches Tandem" tätig) nun derartige Wirkungen entfalten und solche konträre Emotionen auslösen konnten, hängt vor allem mit der seit 2003 eingeschlagenen Politik zusammen. Durch Bündelung unkonventioneller wirtschaftspolitischer Maßnahmen, wie z.B. der Niedrighaltung des Wechselkurses, des Einfrierens der Preise für "öffentliche Güter", einer vorsichtigen, leichte Überschüsse erzielenden Haushaltspolitik, der Weigerung, die zum Teil als illegitim qualifizierte Auslandschuld zu bedienen, konnten im Kontext einer starken Weltmarktnachfrage nach argentinischen Rohstoffen zwischen 2003 und 2008 Wachstumsraten von ca. 8 Prozent erzielt werden. So wuchs das BIP Argentiniens in den letzten 7 Jahren um ca. 70 Prozent, das Pro-Kopf-Einkommen erhöhte sich fast im gleichen Ausmaß. Zu Recht wird vorwiegend von linken Ökonomen und Umweltexperten auf die hohe Labilität, die gewachsene Weltmarktabhängigkeit und die geringe Nachhaltigkeit eines wesentlich auf Rohstoffexport basierenden Wachstumsmodells hingewiesen. 

Insbesondere die Verringerung der Diversität in der argentinischen Landwirtschaft und die Forcierung der bergbaulichen Produktion haben zu viele negative Konsequenzen. Der Aufstieg Argentiniens zum weltweit drittgrößten Exporteur von gentechnisch manipulierter Soja (von 25 Mio. auf 5o Mio. Tonnen zwischen 2000 und 2009) hat nicht nur zu einer Ausweitung und Degradierung der agrarisch genutzten Böden, einer weiteren Konzentration der Bodenflächen, sondern auch zu einer verstärkten und neuartigen Abhängigkeit von transnationalen Unternehmen geführt. Die Abhängigkeit besteht nun nicht mehr nur beim Absatz auf dem Weltmarkt, sondern ebenso beim Import von produktionsnotwenigen Betriebsmitteln, Saatgut, Spezialmaschinen (Malcher 2010: 58f.) Die Produktionsorganisation und Arbeitsweise auf dem Lande wurde sehr stark verändert, verbunden mit einer Vertreibung kleiner Landwirte von ihrem Land bzw. auch mit einer Freisetzung von ländlichen Beschäftigten, da die sog. "Direktsaat" in der Soja-Produktion nur sehr wenige Arbeitskräfte benötigt. 

Damit ging natürlich eine Verödung und Polarisierung ländlicher Sozialstrukturen einher, die das Konfliktpotential beträchtlich erhöhten. Diese Konfliktlinien wurden 2008/09 von den Auseinandersetzungen zwischen "dem campo" und der Regierung um die Erhöhung der Exportsteuern auf Agrarprodukte überdeckt bzw. in den Hintergrund gedrängt. Der Anstieg der Bodenpreise und der vieler Nahrungsmittel waren weitere Begleiterscheinungen dieser tief greifenden Umwandlungsprozesse. Die rasante Spezialisierung der auf den Weltmarkt ausgerichteten Sparten der argentinischen Landwirtschaft wird auch daran deutlich, dass sich die landwirtschaftlichen Exporte in den letzten 13 Jahren verdreifacht haben, was vor allem auf starke Steigerung der Soja-, Weizen- und Maisproduktion zurückzuführen ist. Gleichzeitig ging aber die Produktion wichtiger Nahrungsmittel (Kartoffel, Zwiebel, Milchprodukte, Gemüse etc.) in den letzten Jahren – wegen der im Vergleich zur Soja bescheidenen Rentabilität – stark zurück. Dies bescherte periodisch Knappheitssituationen, die zu Preissteigerungen und/ oder entsprechenden Importen führten. Schon wurde die für Argentinier undenkbare Horrorvision verbreitet, dass das Land eventuell in den nächsten Jahren auch Rindfleisch importieren müsse (Malcher 2010:57, 67).

So zutreffend die Kritik an der "Rückkehr" oder an der Verstärkung des Rohstoffexportmodells auch ist, kurzfristig stand Argentinien nach der großen Krise von 2001/02 – innerhalb der gegebenen Produktions- und Machtverhältnisse – keine grundsätzliche Alternative zur Verfügung. Eine andere Frage ist, wie mittel- und längerfristige Strukturentwicklungen der Ökonomie staatlicherseits beeinflusst werden könnten. Auch wenn man die – selten voll wahrgenommene – Industriepolitik der Regierung Kirchner in Rechnung stellt, kann vermutet werden, dass bezüglich einer zukunftsorientierten Wirtschaftpolitik zweifellos nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft wurden.

Aufbau von Industrie und Binnenmarkt

Wenig bekannt ist, dass der Wiederaufstieg der argentinischen Ökonomie keineswegs nur auf die günstige Weltmarktkonjunktur für Rohstoffe zurückgeht. Nicht zuletzt durch eine gezielte Industriepolitik und eine beständige Stützung der effektiven Nachfrage wuchs der industrielle Sektor sogar stärker als das BIP.

Nachdem unter der radikalen neoliberalen Öffnungspolitik zwischen 1990 und 2002 über 80 000 industrielle Betriebe schließen mussten, konnten zwischen 2003 und 2010 125 000 industrielle Unternehmen neu geschaffen werden. Die marode öffentliche und Verkehrsinfrastruktur konnte zu einem erheblichen Teil erneuert werden (Eisenbahnnetz, Straßen, Hafenanlagen etc.). Die allgemeine Investitionsquote (private und öffentliche Investitionen umfassend) stieg auf für Argentinien völlig ungewöhnliche 27 Prozent (Navarro 2010). Damit wurde die im Verlauf der Krise 2001/02 auf über 50 Prozent hochgeschnellte Armutsquote auf 12 Prozent (2010) gesenkt (Rapoport 2010), ebenso die Arbeitslosigkeit reduziert und das reale Arbeitseinkommen deutlich erhöht. Mit der Besteuerung der florierenden Agrarexporte konnten die breit angelegten sozialpolitischen Programme der Regierung finanziert werden. Viele der im neoliberalen Zeitgeist der Vorgänger-Regierungen abgeschafften arbeitsrechtlichen Sicherungen und gewerkschaftlichen Rechte wurden wieder eingeführt. 

Die in den 1990iger Jahren größtenteils privatisierte Rentenversicherung wurde vor zwei Jahren wieder verstaatlicht, der Kreis der neuen anspruchberechtigten Rentner um 2,4 Mio. ausgeweitet und die Rentensätze mehrfach deutlich erhöht. Die Mehrheit der ArgentinierInnen konnte also mit dieser Regierung wieder Hoffnung schöpfen und eine Zukunftsperspektive entwickeln, wenngleich die durch die neoliberale Politik bewirkten sozialen Flurschäden keineswegs vollständig beseitigt werden konnten. Das politische Prestige Kirchners wurde nicht nur dadurch befördert, dass mit der Betonung der nationalen Souveränität und der Frontstellung gegenüber den Gläubigernationen und dem für die Krise mit verantwortlich gemachten IWF die Wiedergewinnung eines gewissen nationalen Selbstbewusstseins verbunden war, sondern auch dadurch, dass die von Kirchner angewandten heterodoxen Wirtschaftskonzepte – entgegen den Unkenrufen aller "Experten" und politisch korrekt denkenden Menschen – doch sehr gute Ergebnisse mit sich brachten.


Auslandsschuld: Soziale Schuld

Nach langen Verhandlungen der Regierung Kirchner mit den privaten Gläubigern der argentinischen Staatsschuld (ca. 100 Mrd. US Dollar von insgesamt ca. 190 Mrd. US Dollar im Jahr 2003/04) entschied die Regierung im Jahr 2005 definitiv, diesen Gläubigern einen Forderungsverzicht von etwa 80 Prozent zuzumuten, u.a. mit der Begründung, dass die Modalitäten der Ausgabe der Staatspapiere mit großen Nachteilen für Argentinien verbunden war, die Bondbesitzer jahrelang überdurchschnittlich hohe Zinsgewinne eingestrichen hatten und im übrigen die "soziale Schuld" gegenüber der eigenen Bevölkerung – angesichts der exorbitanten Armutsquote – Vorrang haben müsse. Trotz großen Murrens seitens der privaten Gläubiger wurden letztlich mit deren Zustimmung 76 Prozent der Schuldentitel in neue Papiere umgetauscht, und Argentinien reduzierte damit seinen Schuldenstand um ca. 62 Mrd. US Dollar auf etwa 125 Mrd. $, also um ein Drittel (Vgl. hierzu: Boris /Tittor 2006: 53ff.). Da die reduzierten Zinszahlungen an die Höhe des BIP-Wachstum gebunden waren, fuhren diese Gläubiger, die zunächst widerwillig diesem Forderungsverzicht zugestimmt hatten, in den nachfolgenden Jahren recht gut. 

Die Nein-Sager unter den privaten Gläubigern prozessieren noch heute gegen den argentinischen Staat, sollen nun aber aufgrund eines vor kurzem geschaffenen Fonds aus den Devisenreserven ebenfalls in ihren Ansprüchen befriedet werden, damit Argentinien wieder einen Zugang zu den internationalen Geld – und Kapitalmärkten erhält. Diese neue Politik der Regierung Fernández de Kirchner wurde von links und recht gleichermaßen heftig kritisiert und führte um die Jahreswende 2009/10 zur Entlassung des widerstrebenden Zentralbankpräsidenten und, wie es manche sahen, zu einer "Krise" der Institution Zentralbank. Die Überbrückungskredite an den Internationalen Währungsfonds (IWF) hatte Argentinien schon Ende 2005 mit venezolanischer Hilfe vorzeitig zurückzahlen können. Damit wurde nicht nur etwa eine Mrd. US Dollar Zinsen gespart, sondern es wurden vor allem auch Freiheitsgrade in der Wirtschaftspolitik gegenüber den ultimativen Forderungen des IWF gewonnen. Da der IWF eine Mitschuld an der großen Krise von 2001 trug, war diese Politik Kirchners in Argentinien äußerst populär.


Militärdiktatur, Medien und Menschenrechte 

Ein weiteres Politikfeld, auf welchem er prägenden Einfluss ausübte, verdient hervorgehoben zu werden: Die lange aufgeschobene und bis dahin weitgehend verdrängte Aufarbeitung der Militärdiktatur (1976 – 83), die Behandlung der Menschenrechte, die Frage der Unabhängigkeit der Justiz. Hier hat sich Kirchner zweifelsohne ebenso bleibende Verdienste dadurch erworben, dass er darauf drängte, das oberste Gericht neu und anders zu besetzen, die Amnestiegesetze aufheben zu lassen, die Prozesse gegen die Hauptverantwortlichen für die unter der Militärdiktatur begangenen Verbrechen wieder aufzunehmen und die Opfer zu entschädigen. Dies hat zur geistigen und politischen Auseinandersetzung mit der Militärdiktatur erheblich beigetragen und auf diesem Weg auch zur realen Demokratisierung des Landes. (Vgl. hierzu Heidhues 2008 und Becker/Burkert 2008). 

In ähnlicher Weise wirkte die unter seiner Nachfolgerin (Cristina Fernández de Kirchner trat die Präsidentschaft im Dezember 2007 an) verabschiedete neue Mediengesetzgebung (Oktober 2009). Diese löste die noch aus der Militärdiktaturzeit stammende Gesetzgebung ab und intendiert die oligopolartige Macht der privaten Medienkonzerne einzuschränken. Stattdessen soll das Gewicht der staatlichen und "zivilgesellschaftlichen" Beiträge zur Informations- und öffentlichen Kommunikationsgestaltung deutlich erhöht werden. Waren bislang Printmedien, Fernseh- und Rundfunk zu weit über 90 Prozent von den horizontal und vertikal hochkonzentrierten Mediengiganten beherrscht (natürlich mit entsprechendem Einfluss auf die Meinungsbildung), so sollen in Zukunft die drei genannten Instanzen zu je einem Drittel am gesamten medialen Geschehen beteiligt werden. 

Schon wird diesem Gesetz eine Vorreiterrolle in Lateinamerika zugewiesen. Die Diskussionen und Vorschläge hierzu hatten sich schon seit 2004/05 intensiviert, wurden von der Regierung beschleunigt aufgegriffen, nachdem sich die politischen Auseinandersetzungen zwischen Regierung und den führenden Medienkonzernen ("Clarín"-Gruppe, La Nación) im Kontext der heftigen Debatten um die Erhöhung der Agrarexportsteuer zugespitzt hatten (Schank/ Schulten 2010). In der Außenpolitik lag ihm die Förderung und Vertiefung der lateinamerikanischen Einheit sehr am Herzen. Gleich zu Beginn seiner Amtsperiode gingen von ihm wichtige Impulse zur Festigung und Institutionalisierung des südlichen Wirtschaftsbündnisses (MERCOSUR) und zur Ablehnung des US-Projekts einer gesamtlateinamerikanischen Freihandelszone (ALCA) aus. 

Dabei schien in vielen Aspekten die Zusammenarbeit mit Venezuela (als Neu-Mitglied des MERCOSUR) enger als mit manchen unmittelbaren Nachbarländern zu sein. Zuletzt war Kirchner –trotz seiner gesundheitlichen Schwächen – noch als Vorsitzender des politischen Einheitsprojekts Südamerikas (UNASUR) nach Ecuador (aus Solidarität mit dem durch einen Putschversuch angeschlagenen Präsidenten Rafael Correa) und Kolumbien gereist.

Grenzen des Linksperonismus

Im Vergleich mit diesen eindeutigen und historischen Verdiensten für Argentinien und Lateinamerika müssen einige gegenüber Kirchner immer wieder vorgetragene Kritikpunkte zurücktreten oder relativiert werden. Nicht wenige Journalisten können ihm nicht verzeihen, dass er in seiner gesamten Regierungszeit niemals eine Pressekonferenz abhielt, die Medienvertreter mit großer Reserve behandelte, den üblichen parlamentarisch-demokratischen Prozeduren (z.B. Kabinettssitzungen, parlamentarischen Beratungen etc.) sehr distanziert gegenüberstand; gleichzeitig scheute er sich nicht, in Elendsvierteln mit den dortigen Einwohnern zusammen zu treffen, auf gewerkschaftlichen Versammlungen oder bei anderen sozialen Bewegungen aufzutreten.

Die überraschenden und unkonventionellen Einlassungen sowie Interventionen Kirchners an bestimmten Orten oder bei einzelnen Ereignissen spiegeln sich beispielsweise auch wieder im Umgang mit den nationalen Wirtschaftsstatistiken. Hier intervenierte Kirchner – als 2005 die Inflationsraten anstiegen – im Nationalen Statistikamt (INDEC) und setzte eine andere Berechnung der Lebenshaltungskosten durch Zugrundlegung eines anderen "normalen" Warenkorbs durch, um am Ende zu einer deutlich niedrigeren Inflationsrate zu gelangen. Auch andere Statistiken, z.B. über Arbeitslosigkeit oder Armut, geben heute (vielleicht mehr als zuvor schon) möglicherweise nicht immer exakt die quantitativen Realitäten wieder, was aber an den unbestreitbaren Grundtendenzen, wie sie angedeutet wurden, nicht sehr viel ändern dürfte.

Innerhalb der peronistischen Bewegung und Partei repräsentierte er eine Strömung, die sich bald "Front für den Sieg" nannte und die mit rechts-peronistischen Tendenzen und regionalen peronistischen Führungspersönlichkeiten konkurrieren, aber auch koexistieren musste. In solchen Machtspielen kam es auch vor, dass bestimmte soziale Bewegungen oder Gewerkschaften durch unterschiedliche Behandlung einzelner Strömungen geschwächt oder paralysiert wurden, wie dies im Falle der "piqueteros" (Bewegung der Arbeitslosen) geschah. So z.B. hat der linke Gewerkschaftsverband CTA, der sich kritisch von den rechten und bürokratisierten peronistischen Gewerkschaften absetzt, auch in der Ära Kirchner nicht die Anerkennung als juristische Person gefunden. 

Der anti-kapitalistische Diskurs des Linksperonisten Kirchner enthielt daher stets immanente Grenzen. Dennoch hatten sich die Wirkungsmöglichkeiten der politischen Linken in der Ära des "kirchnerismo" zweifellos gegenüber vielen Vorgänger-Regierungen deutlich verbessert; dass diese nicht immer optimal und nicht-sektiererisch genutzt wurden, kann nicht ihm allein zur Last gelegt werden. Der Umstand, dass sich das Vermögen der "Kirchners" (vor allem Immobilien) während der letzten (Amts-)Jahre deutlich vermehrte, war eine weitere Schwachstelle, auf die hinzuweisen kein Oppositionspolitiker verzichtete.

"Kirchnerismo" ohne Kirchner?

Ob mit dem Tod Kirchners ein weiterer Schritt im Niedergang des linkspopulistischen Regimes in Argentinien (und vielleicht in Lateinamerika generell sich andeutet) – wie es z.B. in konservativen Organen wie dem "Economist" gemutmaßt oder gehofft wird, ist keineswegs ausgemacht. Dies hängt von sehr vielen Faktoren ab. Wenn sich die verfeindeten Strömungen des Peronismus angesichts der Gefährdung ihrer Regierungsfähigkeit wieder annähern oder zumindest eine gewisse interne Machtbalance finden sollten und die rechte Opposition – wie in den letzten Monaten – ohne überzeugende (auch personelle) Alternative bleibt , könnten für die aktuelle Präsidentin die Chancen auf eine zweite Amtsperiode ab Dezember 2011 gar nicht schlecht stehen. Die Fortsetzung des "Kirchnerismo ohne Kirchner" ist durchaus denkbar, zumal die Argentinier im Schaffen und Ausleben politischer Mythen, welche an "goldene Zeiten" der Vergangenheit erinnern, einige Erfahrung besitzen. Die anscheinend ewige Überlebenskraft eines "Peronismo ohne Péron" beweist dies.


Dr. phil. Dieter Boris war bis 2008 Professor für Soziologie an der Universität Marburg und ist Vertrauensdozent der Rosa-Luxemburg-Stiftung.


Literatur:

BECKER,ANNE/OLGA BURKERT (2008) Hijos argenmex. Neue Formen und Diskurse der Erinnerung in Argentinien und Mexiko, in: HUFFSCHMID, ANNE U.A. (Hg.): Jahrbuch Lateinamerika 32. Analysen und Berichte, Münster, S. 104 –124

BORIS,DIETER/ANNE TITTOR (2006): Der Fall Argentinien. Krise, soziale Bewegungen und Alternativen, Hamburg

HEIDHUES, ANETTE NANA (2008): Erinnerungsorte der Repression in Argentinien, in: HUFFSCHMID, ANNE u.a. (Hg.): Jahrbuch Lateinamerika 32. Analysen und Berichte, Münster, S. 88 –103

MALCHER, INGO (2010): Agrarwirtschaft und Entwicklung im Mercosur. Der Fall Argentinien, in: GABBERT, KARIN U.A. (Hg.): Jahrbuch Lateinamerika 33. Analysen und Berichte, Münster, S. 54 –71

NATANSON, JOSé (2004): El presidente inesperado. El gobierno de Kirchner según los Intelectuales argentinos, Buenos Aires

NAVARRO, ROBERTO (2010): eKonomía, in: Pagina/12 v. 31. Oktober 2010 (Dossier)

RAPOPORT, MARIO (2010): Desafíos y resultados, in: Pagina/12 v. 31. Oktober 2010 (Dossier)

SCHANK, KRISTY/JOHANNES SCHULTEN (2010): Meinungsmache. 26 Jahre nach Ende der Diktatur gilt in Argentinien ein neues Mediengesetz. Grosse Medienkonzerne laufen dagegen Sturm, in: Lateinamerika Nachrichten, Nr. 435/436, Sept./Okt. 2010, S. 24.–27