Der Hurrikan "Matthew" und der kubanische Zivilschutz

Wie die sozialistische Karibiknation sich auf Hurrikane vorbereitet und warum der Wirbelsturm dort kein einziges Menschenleben gekostet hat

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Die Stadt Baracoa in der kubanischen Provinz Guantánamo nach dem Durchzug des Hurrikan "Matthew"
Die Stadt Baracoa in der kubanischen Provinz Guantánamo nach dem Durchzug des Hurrikan "Matthew"

In den vergangenen 26 Jahren sind schon so manche Tropenstürme über mich hinweggezogen. Jedes Mal kann ich mein Erstaunen über die vor sich gehenden Veränderungen kaum verbergen. Wie aus dem Nichts heraus bekommen diese langsamen Tropen plötzlich Geschwindigkeit, mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks.

Die Menschen gleichen dann kleinen Ameisen, die wie verrückt durch die Gegend zu laufen scheinen, aber jeder erledigt seine Aufgabe. Es ist als würde ihre DNA ihnen sagen, was zu tun ist. Ein Hurrikan mit Kurs auf die Insel organisiert die Kubaner, wie es niemand sonst vermag.

Das Land "militarisiert" sich und die uniformierten Leiter des Zivilschutzes übernehmen die Kontrolle über alles in ihrem Gebiet und verwenden es zur Erfüllung ihrer Mission. Firmen-Lastwagen, Busse des öffentlichen Verkehrs, Maschinen und Werkzeuge werden ihnen zur Verfügung gestellt.

Die meisten dieser "Comandantes" haben keine militärische Laufbahn studiert, sondern sind Leute mit einem ganz gewöhnlichen Leben – bis der Hurrikan die kubanische Küstenlinie erreicht. Dann entstauben sie ihre olivgrüne Uniform und führen ihre Nachbarn an vorderster Front.

"Alle, die in dem Gebäude wohnen, müssen raus! Hör mir gut zu, Du musst sie überzeugen, rede mit den Revolutionärsten, damit sie Dir helfen." So leitete Saili Cisneros die Evakuierung. In Friedenszeiten ist sie nur eine weitere Nachbarin, in Zeiten des Hurrikans wird sie die Vize-Präsidentin der Verteidigungszone von Prado.

Die Schulen, die Kulturhäuser, die Unternehmen, das Capitolio und jegliches andere Bauwerk, das starken Winden widerstehen kann wird zum Schutzraum, wo wie durch Magie plötzlich Matratzen, Trinkwasser, Lebensmittel und medizinische Unterstützung auftauchen.

Hunderttausende von Menschen werden evakuiert und man kann sich vorstellen, welche große Mobilmachung hierfür erforderlich ist. Trotzdem ist alles organisiert, mehr mit Einfallsreichtum und Solidarität denn mit Ressourcen. Viele der Betroffenen müssen nur wenige Schritte gehen, um sich zu schützen.

In jeder Gemeinde öffnen Kubaner mit stabilen Häusern die Türen für ihre Nachbarn. Sie improvisieren Betten im Wohnzimmer, verwahren ihre Elektrogeräte unter dem Esstisch, kochen ein Gemeinschaftsessen und spielen sogar Domino im Kerzenlicht.

Ich habe noch niemals Kubaner gesehen, die sich vor oder während eines Hurrikans gefürchtet haben. Der tragischste Moment kommt immer anschließend. Kein Wunder, haben doch die schwersten Tropenstürme des 21. Jahrhunderts 40 Tote, 26 Milliarden US-Dollar an wirtschaftlichen Schäden sowie 1,5 Millionen beschädigte Häuser hinterlassen.

Eine in Holguín tätige junge Krankenschwester fand ihr Haus komplett zerstört und ihre Großeltern in einer Hütte vor, als sie zurückkehrte. Sie habe "die Nachtschichten im Krankenhaus erledigt, weil ich keinen Ort zum schlafen hatte, ich habe nicht einmal frische Unterwäsche zum wechseln ... Ich denke nur an meine Patienten."

Ich habe schreckliche Bilder in meiner Erinnerung, das eines guten Freundes, der inmitten seines zerstörten Hauses am Strand von Girón weint oder das einer Frau, die in Gibara Holzplatten zusammen sammelt, um einen Raum zu bauen in dem sie ihre zwei kleinen Töchter schützen kann.

Diese ersten Momente sind schrecklich, wenn die Freude darüber, dass man noch am Leben ist, der Realisierung von all dem was man verloren hat weicht und man bei Null anfangen muss. "Ich habe mich nicht umgebracht wegen meiner beiden kleinen Mädchen", sagte mir die Frau, die in Gibara einen Raum improvisierte, voller Hoffnungslosigkeit.

Dieses Mal wird der Schock nicht so groß sein, ein großer Teil der Hilfe wurde bereits in die östlichen Provinzen gebracht, bevor der Hurrikan auf Land traf, darunter auch Strommasten. Währenddessen warteten die LKW der Stromgesellschaften auf halber Strecke.

Alles wurde minutiös vorbereitet, aber das ändert nichts daran, dass zehntausende betroffene Kubaner die Solidarität ihrer Mitbürger und der Welt benötigen, um wieder auf die Beine zu kommen und eben nicht von Null anfangen zu müssen.

Die Kubaner hätten das Recht, Solidarität einzufordern. Sie haben sie bereits der halben Welt gegeben. An Pakistan nach dem Erdbeben, im Kampf gegen Ebola in Afrika und sie gaben hunderttausenden Menschen das Augenlicht zurück. Jetzt ist es an der Zeit, ihnen etwas zurückzugeben, ohne darauf zu warten, dass sie danach fragen werden. Sie werden es nicht tun. Sie sind nicht die Sorte von Leuten, die umhergehen und Rechnungen verschicken.

Fernando Ravsberg, Journalist aus Uruguay, lebt seit vielen Jahren als Korrespondent in Kuba

Übersetzung: Marcel Kunzmann

Warum hinterließ der Hurrikan Matthew in Kuba keinen einzigen Toten?

Dank des von seinem Korrespondenten in Havanna, Fernando Ravsberg, geschriebenen Berichtes, der am 11. Oktober auf dem spanischen, tagesaktuellen Portal Público.es erschien, können wir nun die Frage beantworten, die wir uns schon vor einiger Zeit im Zusammenhang mit dem Erfolg und der operativen Fähigkeit der kubanischen Regierung beim Schutz der Inselbevölkerung vor der Wucht der Hurrikane gestellt haben. Zuletzt hat der Hurrikan namens Matthew über 1.000 Todesopfer gefordert (etwa 1.000 in Haiti und gut zwanzig in den USA). Dabei war auf kubanischem Territorium laut Informationen von Ravsberg kein einziges Opfer zu beklagen. Es ist angesichts des beredten Schweigens der übrigen Medien nur gerecht, Público.es zu diesem Bericht zu beglückwünschen.

Der Zivilschutz (in Kuba "Defensa Civil", Zivilverteidigung) ist ein riesiges Strukturgefüge, das von der nationalen Gesamtleitung bis in jeden Gemeindebezirk reicht, obwohl man es nur während der Konfrontation mit Katastrophen wahrnimmt, bei denen es sich dort für gewöhnlich um Wirbelstürme handelt. Allein in diesem Jahrhundert wurde Kuba con 15 Hurrikanen betroffen, die 40 Tote, materielle Schäden in Höhe von 20 Milliarden Euro verursacht und 1,5 Millionen Wohnungen beschädigt haben. Kaum dass der Verlaufsweg eines Wirbelsturms Kuba bedroht, wird der Zivilschutz in Gang gesetzt, die landesweiten, provinz-, gemeinde- und bereichsmäßigen Leitungsverantwortlichen klopfen den Staub von ihren olivgrünen Uniformen und stellen sich an die Spitze ihrer Nachbarn. Chef des Zivilschutzes ist der General Ramón Pardo, wobei jedoch 90 Prozent der Mitglieder Zivilisten sind, die im übrigen Jahr ihren Berufen und ihrem Handwerk nachgehen. Dennoch kommt ihnen, sobald ein Hurrikan auf Kuba zukommt, eine enorme Macht zu.

Die erste Stufe bildet die Informationsphase: Vom erstem Moment an räumen alle Medien der detaillierten Information der Bevölkerung über den Richtungsverlauf und die Eigenschaften des Hurrikans breiten Raum ein. Von dem Augenblick an, in dem man mit Sicherheit darüber Bescheid weiß, dass er das nationale Territorium betreffen wird, geht man zur Warnstufe über, in der die konkreten Vorbereitungen in den Gebieten beginnen, die betroffen sein werden. Wenn der Aufprall unmittelbar bevorsteht, tritt man in die Alarmphase ein.

Während der Wirbelsturmwarnstufe wird mit der Evakuierung all jeder Menschen begonnen, die in den betroffenen Regionen in weniger sicheren Wohnungen leben. Während des vorangegangenen Wirbelsturmes waren das mehr als 600.000 Menschen. Früher waren es auch schon einmal eine Million. Dies mag als eine fabelhafte Anstrengung erscheinen, was sie zweifellos auch ist, auch wenn ein Teil der Evakuierten nur ein paar Schritte gehen müssen, um von Nachbarn aufgenommen zu werden, die über ein sichereres Haus verfügen. Die Solidarität ist der Schlüssel beim Schutz der Bürger, wobei jedoch nichts dem Zufall überlassen wird, denn jede Familie weiß im Voraus, wohin sie sich zu wenden hat. Diese Wohnungen verwandeln sich in improvisierte Lagerstätten, mit Matratzen auf dem Boden und mit Küchentischen, die mit von den aufgenommenen Familien mitgebrachten elektrischen Haushaltsgeräten voll gestellt sind. Für die Kinder ist dies fast ein Fest und zuweilen auch für die Erwachsenen, die sich mit Dominospielen bei Kerzenlicht die Zeit vertreiben.

Diejenigen, die keinen Platz in Privathäusern finden, werden in jedweder Institution untergebracht, die starken Wind auszuhalten vermag, sei es in Kinos, Schulen, Kulturhäusern, ja sogar im Kapitol von Havanna. Bei ihrem Eintreffen finden die Familien Matratzen, Wasser, Lebensmittel, medizinische Versorgung und alles Notwendige vor, um einige Tage überleben zu können. Nie organisieren sich die Kubaner so gut wie zu dem Zeitpunkt, wenn ein Wirbelsturm Kurs auf die Insel nimmt. Den Chefs des Zivilschutzes einer jeden Zone steht alles zur Verfügung, was es in ihrem Gebiet gibt, sie können die Busse und Lastwagen sowie die Baumaschinen und Werkzeuge eines jedweden Betriebes benutzen. Dies ermöglicht ihnen die kollektive Durchführung von Evakuierungen und die Vermeidung von Fahrten in einzelnen Privatfahrzeugen und daraus folgende Verkehrsstaus, wie in New Orleans während des Hurrikans "Katrina" geschehen.

Schon vor dem Eintreffen von "Matthew" in Kuba war in den vermutlich betroffenen Bereichen mit der Bereitstellung von Lebensmitteln, Dachdeckungen und Elektromasten die Wiederaufbauphase vorbereitet worden. Die Brigaden der Elektrizitätsgesellschaft und Bautrupps wurden in die Zentralprovinzen verlegt, um möglichst nahe zu sein und schneller am möglichen Einsatzort einzutreffen.

Andererseits besitzt die Bürgerschaft bereits eine Art Wirbelsturmkultur, alle Kubaner verfolgen aufmerksam die informativen Verlautbarungen und bringen sich freiwillig von selbst in Sicherheit. Es gibt nur sehr wenige, die es ablehnen, sich an sichere Orte zu begeben. In solchen Fällen setzen die Mitglieder des Zivilschutzes ihre Autorität ein, denn niemandem wird es gestattet, in gefährlichen Wohnungen oder Bereichen zu verbleiben. Vielleicht werden dadurch die individuellen Rechte einiger Weniger verletzt, paradoxerweise derselben Leute, deren Leben gerettet werden soll. Das Erfolgsgeheimnis des kubanischen Zivilschutzes liegt darin begründet, nicht an die Kosten der Stilllegung von Betrieben, der Verlegung von tausenden von Menschen, der Verpflegung der Obdachlosen und der wirtschaftlichen Lähmung des Landes zu denken, wenn dies unverzichtbar ist. Der Erfolg liegt darin, die Bewahrung des menschlichen Lebens über alles andere zu stellen.

Lazarillo ist ein Blogger aus Spanien

Übersetzung: Klaus E. Lehmann

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