Venezuela / Politik

Zwischen Spekulationen und Verkündigungen vom Ende des Chavismus

Aram Aharonian beschreibt die Konfliktlinien in Venezuela vor der Parlamentswahl am 6. Dezember

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"Jeder Herzschlag zählt" - ist das Motto einer Kampagne von Basisbewegungen. Auf dem Plakat wird dargestellt, was bei den Parlamentswahlen verteidigt werden soll
"Jeder Herzschlag zählt" - ist das Motto einer Kampagne von Basisbewegungen. Auf dem Plakat wird dargestellt, was bei den Parlamentswahlen verteidigt werden soll

In Kürze werden die neuen Mitglieder der Nationalversammlung von Venezuela gewählt. Das Ergebnis ist mehr als unsicher und das Land bereitet sich auf die Konfrontation bei der Wahl vor, zwischen der von der Opposition ausgerufenen Unheils-Metapher und dem von der Regierung proklamierten perfekten Sieg, mit ihrer Losung der Konsolidierung des bolivarischen Prozesses. Eines revolutionären Prozesses, sagen sie.

Wenn man eine ernsthafte Analyse unternehmen wollte, müsste man von den Daten ausgehen, die fast zwei Jahrzehnte Wahlen liefern; angefangen bei den Wahlen vor 17 Jahren, als Hugo Chávez die Präsidentschaft erlangte. Man müsste ausgehen von den Erhebungen und Meinungsumfragen, von der Analyse der Mobilisierungsfähigkeit der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) und des Oppositionsbündnisses Tisch der Demokratischen Einheit (MUD) …

Auch sollte man die heikle wirtschaftliche Situation des Landes nicht vernachlässigen, zusammen mit der Güterknappheit und den langen Schlangen. Für die ausländischen Analysten bedeutet dies eine "vorhersehbare" Abstrafung der Regierung von Nicolás Maduro, mit einer zu erwartenden Mehrheit für die Opposition. Aber hier geht es um Venezuela, ein Land, in dem alle, sowohl die Verfechter des bolivarischen Prozesses als auch die Anti-Chavisten, die Führerschaft von Hugo Chávez vermissen. Diese Problematik besteht und man muss die Verantwortung anerkennen, die der Regierung zukommt, die es vorzieht, auf dem "Wirtschaftskrieg" zu beharren, der ohne Zweifel nicht allein der Schuldige sein kann.

Und als ob im Inneren alles ruhig wäre, will der größte Feind durch die Förderung zweier Grenzstreitigkeiten noch zur Destabilisierung beitragen: zum einen mit Guyana wegen des Esequibo-Gebietes, zum anderen mit Kolumbien, wegen des Schmuggels und seines Exportes interner Schwierigkeiten im Bereich der Wirtschaft aber noch mehr bei der Sicherheit: Auftragskiller, Paramilitärs.

Tibisay Lucena, die Präsidentin des Nationalen Wahlrates, wies darauf hin dass es eine Verschwörung gegen die Institution gebe, eine Klage, die sich in jedem Wahljahr wiederholt und die nicht immer von internen Kräften ausgeht. Jetzt war es der Außenminister der USA, John Kerry, aber wie Eleazar Díaz Rangel, Direktor der Tageszeitung Últimas Noticias anmerkte, wird es darüber hinaus Andere, weitaus aggressivere geben.

Es ist wirklich kein Vergnügen, für Essen und Medikamente bis zu acht Stunden Schlange zu stehen. Die Schlangen sind geordnet und die Knappheit ist nicht nur bedingt durch das sogenannte Bachaqueo1 oder den Schmuggel auf die andere Seite der 2.200 Kilometer umfassenden, gemeinsamen Grenze. Es fehlen Produkte mit staatlich regulierten Preisen, ebenso wie alle zum offiziellen Kurs importierten Waren. Die Kontrollen haben keine Wirkung gezeigt und die Spanne im Wechselkurs ist riesig. An der Grenze zu Kolumbien wurden 66 venezolanische Militärs verhaftet, die in diese verbrecherischen Aktionen involviert waren, die weiterhin stattfinden. Gleichzeitig zeigen drei aufeinander folgende Angriffe auf Einrichtungen des Staates in weniger als einer Woche, dass es sich um Pläne der radikalen Opposition handelt, die bis zum Wahltag andauern werden. Und darüber hinaus.

Die Metapher der Katastrophe

Es ist dieses Venezuela im Vorwahlkampf, in dem die Opposition ihren Diskurs und ihre Strategie auf die Metapher der Katastrophe ausrichtet. Dank ihres überzeugenden Effektes dringt sie quer durch alle Fernsehprogramme, Titelschlagzeilen, Portale und Radiosender.

"Die Metaphern als allegorisches Element drücken etwas aus, das nicht notwendigerweise explizit gesagt, aber das dank der Assoziation von Begriffen und Erlebnissen gespürt und verstanden wird", erklärt die Soziologin Maryclén Stelling. Daher werden Worte wie Erdrutsch, Erdbeben, Tsunami, Unwetter oder Erosion neu interpretiert und ihnen eine neue Bedeutung zugewiesen.

Angesichts dessen sind nach Meinung der Think-Tanks die Rekonstruktion, die Erholung, die Reaktivierung, die Beseitigung der Trümmer und die Rettung unerlässlich. Die Opposition sucht rund um die Katastrophe die Solidarität (die Wählerstimme). Der letzte Schritt vor einem weiteren Schritt nach vorn ... an den Abgrund.

Ein Sieg der Regierung oder des Volkes?

Währenddessen beharrt die Regierung auf "dem perfekten Sieg", auf "der Einheit des Volkes zur Verteidigung des Vaterlandes (...) und zum Freiräumen des Weges". Das ist die Botschaft von Maduro: "Es gibt keine vorherbestimmten Siege, man muss sie aufbauen und sie hinterher genießen". "Wir brauchen einen großen politischen Sieg (…) um den Weg frei zu machen" und den Frieden des Landes zu sichern.

Viele Anführer des Chavismus - im Allgemeinen durch den "Madurismo" aus der Regierung entfernt – betonen, dass die Kritik und Selbstkritik im Inneren des bolivarischen Prozesses weniger geworden, fast verschwunden ist.

"Diese Wahlen werden nicht durch einfache Trägheit gewonnen, nur weil der Chavismus präsent ist. Der Sieg braucht ein sehr kräftiges, sehr dynamisches Handeln von Seiten der Regierung und der die Regierung begleitenden politischen Kräfte", so Alí Rodríguez, ehemaliger Außenminister, Energieminister und Generalsekretär von Unasur2, heute Botschafter in Kuba. Aber es macht den Eindruck, als wäre es vor allem die Stille, die diese Trägheit begleitet.

Daher sprechen sie von einem "Sieg des Volkes", von der Volksmacht, die den Comunas3 entspringt, wo es weiterhin ein Bewusstsein dafür gibt, die unstrittigen Erfolge des Chavismus zu bewahren, und nicht die der Regierung oder der Wahlmaschinerie des flügellahmen Großen Patriotischen Pols4.

Die Opposition versichert, dass sie die Parlamentswahlen gewinnen werde (eine Art anzuzeigen, dass es im gegenteiligen Fall Wahlbetrug gab, wie sie es schon seit 2004 gemacht haben). Folglich sollte sie vor allem die Vorschläge bekannt machen, die sie als Teil des Staates vorbringen wird. Die sie unterstützenden Medien sind beispielsweise gegen Preisanpassungen wie dem von Benzin, äußern sich oft zu Gunsten von Guyana und zeigen sich als Gegner der Friedensverträge in Kolumbien. Wird dies die Linie der MUD in der Nationalversammlung sein?

Ende des Chavismus?

Chávez schuf gemeinsam mit seinen wichtigsten Beratern das Projekt eines Landes, aus dem sich mit der Zeit das Projekt einer Gesellschaft jenseits des Kapitalismus entwickelte und dieses erreichte durch seine Führungsstärke und seine strategische Fähigkeit die Hegemonie. Mit seinem Tod kam es zu einem Bruch dieser internen Einheit, auch innerhalb von Maduros Kabinett. Gleichzeit stieg von Seiten der europäischen Sozialdemokraten, insbesondere der französischen, sowie von Seiten der großen transnationalen Finanzgruppen und sogar vom Vatikan selbst der Druck, die chavistische Revolution zu beenden.

Und so kommt es zu den widersprüchlichen Informationen in punkto Wirtschaftspolitik: Der Präsident kündigt an, die Benzinpreise anzupassen, eine Revolution bei den Steuern umzusetzen, Preiskontrollen zu entwickeln ... und es bleibt bei reinen Ankündigungen.

Heute liegt die Wirtschaft in Händen des Brigadegenerals Marco Torres, Minister für Wirtschaft, Finanzen und Öffentliche Banken und Präsident der staatlichen Zentralbank von Venezuela. Dieser kündigte an, Arbeitstreffen mit den weltweit wichtigsten Unternehmen der Finanzbranche wie JP Morgan einzurichten, um sie zu Investitionen in das Land einzuladen. Auch dies mündete nicht in eine Politik der Öffnung. Aber Maduro - der immer neue Ankündigungen ankündigt - besteht auf der Radikalisierung der Revolution. Dies lässt vermuten, dass in Richtung eines Modells mit höherer Beteiligung der Arbeiter und einer Stärkung der Beteiligung der Bevölkerung vorangegangen wird.

Der Analyst Manuel Azuaje legt dar, dass sich an der Regierung beteiligte Gruppen bei neuralgischen Themen entzweit haben, wie beispielsweise der Ausrichtung der Wirtschaftspolitik.5 "Es ist dieses physische Verschwinden von Chávez, das die Auflösung der Hegemonie im Regierungs-Projekt bewirkt hat. Seine Abwesenheit führt dazu, dass diese Gruppen in eine direkte Konfrontation eintreten, ohne dass eine von ihnen eine Vorherrschaft erlangt. Auf diese Weise setzt sich die Leere fest."

Dieses Fehlen eines Konsens – oder von Überzeugungen – wurde durch die heimische Rechte in Allianz mit dem Imperialismus dazu genutzt, ihre Strategien zu intensivieren und das Land kollabieren zu lassen. In mehreren Fällen hat Maduro Entscheidungen getroffen, mit denen er Maßnahmen rückgängig machte, die im jeweiligen Moment ihrer Einsetzung starke Kritiken und Unstimmigkeiten seitens der chavistischen Basis ausgelöst hatten. Dazu gehörte die Blockierung des Projektes zum "Samengesetz" (Ley Semillas), das gentechnisch verändertem Saatgut die Türen öffnete, er verhinderte das Verschwinden der Comuna El Maizal6 und setzte neue Kohlebergbauprojekte außer Kraft7.

Sicher ist aber, dass Einige in der Regierung auf ein Programm der wirtschaftlichen Öffnung setzen, während Andere auf die Forderungen des Volkes hören und Entscheidungen im Sinne von Chávez treffen. Laut Azuaje sei weder die Rückkehr zur Vergangenheit eine Option, noch sei der Rückzug eine Strategie. "Es ist die Stunde, die grundsätzlichen Verbündeten zu erkennen und sie zu unterstützen, damit sie alle diejenigen besiegen können, die das Erreichte über Bord werfen möchten", so Azuaje.

Zukunftsmusik

Möglich sind zwei Szenarien: Entweder erreicht die PSUV die Mehrheit der gewählten Abgeordneten oder die Opposition erhält die Mehrheit. Die mit dem Verhältniswahlrecht zu wählenden 51 Parlamentarier würden gleich aufgeteilt werden. Die Entscheidung läge in Wahlkreisen - hier ist es auf Basis der allgemeinen Ausrichtungen deutlich schwieriger eine Prognose zu treffen.

Eine Wahl mit einem Ergebnis "unentschieden" würde eine hohe Spannung schaffen, die zusätzlich noch durch Klagen über einen Wahlbetrug angeheizt würde. Es gäbe Versuche, Gewalt und Handlungen jenseits des gesetzlichen Rahmens zu schüren, die mit einer Niederlage der "Aufwiegler" glimpflich verlaufen könnten, aber kollaterale, schädliche Auswirkungen für das Land hätten.

Falls die Opposition die Mehrheit der Abgeordneten erreichte, dürfte sie den Präsidenten der Nationalversammlung benennen, was der objektiven Situation einer Kohabitation Raum geben würde. Das wiederum würde nach Ansicht des oppositionellen Politologen Leopoldo Puchi, sowohl Vereinbarungen als auch Reibungen mit sich bringen, die sich dann jedoch mit Blick auf die Gouverneurswahlen Ende 2016, langsam auflösen.

Wenn die Situation sich verhaken und im nächsten Jahr zu einer sehr starken Machtkonfrontation führen würde, wäre sicherlich das Abwahlreferendum 2016 oder Anfang 2017 ein Ventil. Dieses Szenario würde sich noch beschleunigen, falls die Opposition im Dezember eine Zweidrittelmehrheit in der aus einer Kammer bestehenden Nationalversammlung erlangen würde. Das scheint heute allerdings vor allem eine Wunschvorstellung zu sein.

Was man nicht vernachlässigen sollte, ist eine Zunahme der Spannung, unabhängig davon, ob die Regierung oder die Opposition gewinnt. Daher muss man diese schon heute bearbeiten, denn die wirtschaftlichen Probleme erfordern im Dezember oder Januar ein Maßnahmenprogramm, unabhängig vom Wahlausgang und anderen Ereignissen. Und auf der politischen Ebene ist der Dialog ein unersetzliches Instrument.

  • 1. Bachaqueo bezeichnet den Handel mit staatlich subventionierten Gütern des täglichen Bedarfs auf dem Schwarzmarkt.
  • 2. Union Südamerikanischer Nationen
  • 3. Als "Comuna" wird der Zusammenschluss mehrerer selbstorganisierter Gemeinden bezeichnet, die sich auf Grundlage lokaler Selbstverwaltung in Form von autonomen Stadtteilräten zu einer regionalen Einheit verbinden. Sie können laut der venezolanischen Verfassung eigene Rechts- und Wirtschaftsformen entwickeln. Diese Basisstrukturen werden parallel zu den bestehenden Institutionen aufgebaut und sollen durch die Selbstregierung der Bevölkerung den bestehenden bürgerlichen Staat überwinden.
  • 4. Der Gran Polo Patriótico (GPP) ist eine Koalition linker politischer Parteien und sozialer Bewegungen, die die bolivarische Revolution unterstützt. Sie bildete sich im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2012, um die Kräfte zu bündeln, die sich für eine Wiederwahl von Hugo Chávez einsetzten. Der GPP soll als Bindeglied zwischen den Parteien der linken Regierungskoalition und zahlreichen Organisationen der sozialen Bewegungen dienen.
  • 5. Siehe Manuel Azuaje Reverón: El fin del ciclo progresista y el fin del chavismo, Aporrea, 09.10.2015, http://www.aporrea.org/ideologia/a215208.html.
  • 6. Siehe: Beitrag auf amerika21 Konflikt um Landenteignung in Venezuela.
  • 7. Siehe: Beitrag auf amerika21 Soziale Bewegungen in Venezuela setzen sich gegen Kohlebergbau durch