Zehn Jahre "Nein" zur Freihandelszone Alca

Gestützt auf die Mobilisierung von Basisbewegungen in ganz Lateinamerika brachten Néstor Kirchner, Luiz Inácio Lula da Silva und Hugo Chávez Alca zu Fall

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"Zum Teufel mit Alca!"
"Zum Teufel mit Alca!"

Am 5. November 2005 mussten die USA im argentinischen Mar del Plata eine politische Niederlage von historischem Ausmaß einstecken: das von ihnen im Rahmen des 4. Amerikagipfels angestrebte Projekt einer Gesamtamerikanischen Freihandelszone (Alca) scheiterte an diesem Tag an der entschiedenen Opposition fünf südamerikanischer Staaten. Knapp zehn Jahre danach liegt die Erinnerung daran nicht nur aufgrund des Datums nahe, sondern sie ist auch notwendig. Denn die Grundsatzdebatte um Integrationsmodelle ist nach wie vor aktuell und noch weit davon entfernt, beigelegt zu werden, wie die Ratifizierung der Transpazifischen Partnerschaft (TTP) am vergangenen 5. Oktober zeigte.

"Wir sind nicht hier um Streit zu provozieren"

Vom 4. bis zum 5. November 2005 war die argentinische Hafenstadt Mar del Plata Schauplatz des 4. Amerikagipfels. Mit Ausnahme Kubas waren alle amerikanischen Staats- und Regierungschefs dort zusammengekommen, um unter dem Leitthema "Arbeit schaffen, um die Armut zu bekämpfen und die demokratische Regierbarkeit zu stärken" zu diskutieren.

Obwohl der Punkt gar nicht Teil der offiziellen Agenda war, war die Errichtung der Gesamtamerikansichen Freihandelszone (Alca) am Ende die einzige der 155 vorgestellten Initiativen, die von den Bevollmächtigten selbst debattiert wurde.

Ende 1994, zu Zeiten des Washington Consensus1 und des vermeintlichen "Endes der Geschichte" von der US-amerikanischen Regierung formal ins Leben gerufen, verfolgte Alca das Ziel der Einrichtung einer Freihandelszone von Alaska bis Feuerland, den Abbau von Zollschranken, die Liberalisierung von Dienstleistungen, Investitionsschutzabkommen unter den Mitgliedsstaaten und die Beschränkung der staatlichen Kapazität zur Lenkung öffentlicher Ankäufe.

Alca war also viel mehr als ein bloßes Freihandelsabkommen. Damit einhergegangen wäre auch eine Einbindung in das neoliberale System des Weltmarkts, die Konsolidierung der US-amerikanischen Hegemonie auf dem Kontinent sowie die endgültige Unterordnung unserer Völker unter die Interessen der nordamerikanischen Großmacht und ihrer transnationalen Unternehmen.

Das war die Auffassung der Präsidenten von Argentinien, Néstor Kirchner, Brasilien, Lula da Silva, und von Venezuela, Hugo Chávez, sowie der Staatschefs von Paraguay und Uruguay, Nicanor Duarte Frutos und Tabaré Vázquez. In Anbetracht der ideologischen Prämissen, aber auch der praktischen Konsequenzen des Projekts, die für unsere Länder die Konzentration der Ökonomien auf den Primärsektor und die regionale Desintegration bedeutet hätten, stellten sich die Präsidenten koordiniert und geschlossen gegen Alca und brachten sie so zum Scheitern.

In der Abschlusserklärung des Gipfels wurde festgehalten, was die Länder des Gemeinsamen Markts des Südens (Mercosur) und Venezuela (damals noch nicht Teil des Mercosur) zum Ausdruck brachten: dass die Bedingungen für die Gewährleistung eines ausgeglichenen und gerechten Freihandels, der auf Bedürfnisse und Befindlichkeiten aller seiner Partner eingeht, nicht gegeben sind und der Entwicklungsgrad sowie die ökonomischen Größenverhältnisse zu unterschiedlich sind.

Jener Sieg schuf ein Beispiel der Verbindung zwischen politischer Repräsentanz und Partizipation der Bevölkerung: die Positionierung der Präsidenten wurde von heftigen Mobilisierungen im Rahmen des 3. Gipfels der Völker begleitet, der parallel zum offiziellen Gipfel stattfand. Bei der Abschlussveranstaltung, an der auch Evo Morales (damaliger Präsidentschaftskandidat Boliviens) teilnahm, erklärte Hugo Chávez vor einem prall gefüllten Stadion: "Wir sind mit einer Schaufel gekommen, denn Mar del Plata ist das Grab von Alca" und sagte daraufhin einen seiner ins kollektive Gedächtnis eingravierten Sätze: “Alca, Alca, ¡al carajo!” - "Zum Teufel mit Alca!"

"Wir haben zwei verschiedene Standpunkte"

Dieser Amerikagipfel festigte durch seine Bedeutung und Charakteristika die politische Wende, die sich in der Region bereits seit Beginn des Jahrhunderts mit dem Aufstieg nationaler und popularer Regierungen entwickelte, die begannen, die "lange neoliberale Nacht" hinter sich zu lassen.

Aufgrund der unauflöslichen Verbindungen von Innen- und Außenpolitik war das Scheitern von Alca ein bedeutender Schritt, nicht nur in der Herausbildung neuer, souveräner Integrationsmechanismen, wie der Union Südamerikanischer Nationen (Unasur), der Gemeinschaft lateinamerikanischer und karibischer Staaten (Celac) und der Stärkung des Mercosur (der sich um neue Länder erweitert, seine Agenda vergrößert und seine institutionelle Struktur verbessert hat) voranzutreiben. Es war zugleich auch ein Schritt zur Rückgewinnung der Rolle der Nationalstaaten, der Ausweitung demokratischer Praktiken und der Durchführung integrativer Politiken, wie sie die verschiedenen Regierungen in ihren jeweiligen Ländern initiiert haben.

Der damalige Präsident der Vereinigten Staaten, George W. Bush, bemerkte kurz vor seiner Abreise, er könne sich nicht erklären, was in Mar del Plata geschehen sei. Unmittelbar nach dem Gipfel initiierte die US-Regierung eine Offensive, die darauf abzielte, die auf dem Gipfel gescheiterten Ziele auf anderen Wegen umzusetzen.

Vor dem Hintergrund des wachsenden Einflusses der Schwellenländer auf der Weltbühne und der Entstehung eigenständiger Integrationsmechanismen sowie der Süd-Süd-Kooperation bemühten sich die USA darum, mittels der Unterzeichnung neuer Freihandelsabkommen (TLC) und der Förderung regionaler Integrationsabkommen die Initiative und einen Teil ihrer zentralen Rolle in der regionalen Wirtschaft zurückzugewinnen.

Heute sind Nordamerika, Zentralamerika und die südamerikanische Pazifikküste (mit Ausnahme Ecuadors) in Freihandelszonen integriert und dies wird ergänzt durch die 2011 gebildete Pazifik-Allianz, die sich aus Chile, Kolumbien, Mexiko und Peru zusammensetzt und auf eine Liberalisierung des Handels und die Ausweitung der Garantien für große Unternehmen abzielt.

In Lateinamerika waren es Chile, Peru und Mexiko, die gemeinsam mit den USA und acht anderen Ländern am vergangenen 5. Oktober die Transpazifische Partnerschaft (TPP) ratifizierten. In Geheimverhandlungen wurde damit ein neuer normativer Rahmen für eine Freihandelszone im Pazifik geschaffen, die ganz klar die großen transnationalen Konzerne begünstigt und staatliche Regulierungen lockert.

Vor diesem Hintergrund feiern wir am 5. November den zehnjährigen Jahrestag eines historischen Sieges der lateinamerikanischen und karibischen Völker. Das Gedenken daran soll jedoch auch dazu dienen, die aktuellen Herausforderungen zu verstehen und den Ruf nach eine popularen, demokratischen und inklusiven Integration mit einer produktiven Agenda zu bekräftigen, die in der Lage ist, den Herausforderungen des Marktes, den transnationalen Konzernen und neoliberalen Ideologien zu trotzen. Die Debatte über Integrationsmodelle, die nichts anderes ist als eine Debatte über Entwicklungsmodelle, ist aktueller denn je.


Fernando Collizzolli ist ein argentinischer Politologe und Mitglied der Forschungsgruppe "Die Diskussionen um die Hegemonie in Lateinamerika im 21. Jahrhundert: der neue Charakter der Konflikte"

  • 1. Der Begriff Washington Consensus< bezeichnet ein Bündel wirtschaftspolitischer Maßnahmen, die Regierungen zur Förderung von wirtschaftlicher Stabilität und Wachstum durchführen sollten. Das Konzept wurde lange Zeit von IWF und Weltbank propagiert und gefördert