Venezuela / Politik

Pakt mit dem Teufel

Die großen sozialen Errungenschaften aus der Chávez-Ära können nur im Rahmen eines neuen Paktes abgesichert werden, argumentiert Jan Ullrich in einer Analyse zur aktuellen Lage in Venezuela

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Ehemals jüngster Offizier im MBR 200, heute einer der mächtigsten Männer im Staate: Diosdado Cabello
Ehemals jüngster Offizier im MBR 200, heute einer der mächtigsten Männer im Staate: Diosdado Cabello

Im April dieses Jahres hatte der brasilianische Ex-Präsident Luiz Inácio "Lula" da Silva seinen politischen Freunden in Venezuela angesichts der eskalierenden Konflikte des Landes zur Gründung einer breiten politischen Koalition geraten.1 Uruguays Präsident José "Pepe" Mujica fügte dem hinzu, dass die aktuelle gesellschaftliche Polarisierung auf kurz oder lang wohl keine der beiden verfeindeten Lager "regieren" lasse.2 Zuletzt war auch Ecuadors Rafael Correa in den Chor der "pragmatischen Linken" Lateinamerikas eingesprungen und hatte neben Kritik an der venezolanischen Wirtschaftspolitik einerseits und den gewalttätigen Aktionen eines Teils der Opposition andererseits, die Wichtigkeit eines Dialogs beider Seiten in Venezuela bekräftigt.3

In Caracas scheinen die Ratschläge der engsten politischen Verbündeten bisher jedoch auf taube Ohren zu stoßen. So wird Präsident Nicolás Maduro nicht müde, seine Absage an jegliche Formen von Abkommen, Koalitionen oder gar Pakten mit der politischen Opposition zu wiederholen.4 Sein gleichzeitiges Angebot zu einem "Friedensdialog" scheint somit nicht nur ex ante ad absurdum geführt, sondern eine Absage an das, was allgemein unter Politik verstanden wird: die Herstellung legitimer Herrschaft.

Interpretationen vom "Pakt"

Eine der Ursachen dieser Verengung politischer Handlungsoptionen ist dabei ausgerechnet einer der Gründungsmythen der "bolivarischen Bewegung": die Erzählung vom Ausschluss breiter Teile der Bevölkerung vom Erdölreichtum durch den "Pakt von Punto Fijo" der alten Eliten. Tatsächlich bedeutete dieser Pakt nach dem endgültigen Ende der Militärdiktatur von Marcos Pérez Jiménez im Jahr 1958, den Versuch einer Selbstabsicherung der sozialdemokratischen URD und christdemokratischen COPEI vor einer erneuten Vereinnahmung aller staatlicher Institutionen durch den charismatischen Rómulo Betancourt und die obersten Machtzirkel der populistischen Massenpartei Partei Acción Democrática (AD), der bereits 1948 die wesentliche Ursache für die Rückkehr der Militärs an die Macht dargestellt hatte.

So unterstützte zu jener Zeit selbst die von der Unmöglichkeit einer Überwindung des Kapitalismus an der Peripherie überzeugte venezolanische kommunistische Partei (PCV) – ganz im Gegensatz zu Lenin – die Vereinbarungen von Punto Fijo über "bürgerliche" Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit.

Der Ausschluss "breiter Teile der Bevölkerung" von der Erdölrente erfolgte weder durch, noch trotz des Paktes von Punto Fijo. Vielmehr war es gerade die Verteilung der Erdölrente, mit der es Betancourt, Rául Leoni und später Carlos Andrés Pérez gelang, einen Pakt aus Importunternehmern und der in die Städte drängenden verarmten Landbevölkerung zu schmieden. Zum Markenzeichen der Herrschaftslegitimation in der venezolanischen Rentenökonomie entwickelte sich in der Folge nicht nur das Verschenken von Kühlschränken, Waschmaschinen, Fernsehern oder gar Eigentumswohnungen in Wahlkampfzeiten, sondern vor allem der durch Überbewertung der eigenen Währung subventionierte Massenkonsum von Importgütern.

Über die insbesondere in den städtischen Armenvierteln, aber auch in ländlichen Gemeinden aufgebauten "Casas del Pueblo" sicherte AD politische Herrschaft einerseits über eine klientilistisch eingebundene Massenbasis und andererseits durch die weitgehende Kontrolle staatlicher Gewalten und öffentlicher Institutionen. Dem Aufstand der Ausgeschlossenen, einer sich aus dem Bildungsbürgertum rekrutierenden Guerilla, entzog dieser "Erdölpakt" damals jegliche Möglichkeit der Ausbreitung seiner sozialen Basis.

Die volkswirtschaftliche Bilanz

Die Eckpfeiler dieser kurz- bis mittelfristig extrem erfolgreichen Strategie des politischen Machterhalts in Rohstoffökonomien erneuerte die Regierung Hugo Chávez ab 2004 mit dem massiven Anstieg der Weltmarktpreise für Erdöl. Mehr als 600 Milliarden US-Dollar sind seitdem durch die venezolanische Volkswirtschaft geflossen, basierend auf einem Rohstoff, den der venezolanische Entwicklungsminister der 1940er Jahre, Juan Pablo Pérez Alfonso, in weiser Voraussicht als "Exkrement des Teufels" bezeichnet hatte – dem Erdöl.

Zurück bleiben 140 Milliarden US-Dollar neues Vermögen auf venezolanischen Privatkonten im Ausland5, mehr als 80 Milliarden US-Dollar neuer Schulden der öffentlichen Hand6, ein ausgeblutetes staatliches Erdölunternehmen7 und eine Bevölkerung die nach einem kurzen und euphorischen Konsumrausch, nun mit Inflationsraten jenseits der 50 Prozent einem dramatischen Verlust an Kaufkraft8, Versorgungsengpässen, wirtschaftlicher Rezession und dem Abbau sozialer und liberaler Grundrechte konfrontiert ist.

Bisher wurden die Folgekosten des sich nicht nur in Venezuela periodisch wieder auftretenden krisenhaften Endes einer Erdölbonanza vor allem auf die Mittelschichten und die kleine Industriearbeiterschaft abgewälzt. Gleichzeitig entstehen aber auch an den antagonistischen Extremitäten des Erdölpakts immer größere Interessengegensätze. Zwar konnten in den letzten Monaten durch kurzfristige Kredite und Veräußerungen von Rohstoffkonzessionen an China und Russland, sowie der Ausgabe hochzinsiger Anleihen des hochverschuldeten Staatskonzerns PDVSA zumindest Teile ausstehender Devisenforderungen des privaten Importsektors von insgesamt 14 Milliarden US-Dollar erfüllt werden.

Der Versuch, seit der Wahl Maduros durch unterschiedliche Maßnahmen die staatlichen Devisenverkäufe zu Vorzugspreisen zu reduzieren, zusammen mit den dekretierten gesetzlich gedecktelten Gewinnmargen gilt jedoch bereits jetzt als einer der Hauptmotivationen für die Proteste, Sabotage- und Umsturzversuche. Während der chavistische, auf Importe orientierte Unternehmerflügel jedoch bisher eine konsequentere Umsetzung der von Wirtschaftsminister Rafael Ramírez und Zentralbankchef Nelson Merentes angestoßenen Währungsreform zu verhindern scheint, trifft die Entwicklung des Mindestlohns unterhalb des vom nationalen Statistikamt als Armutsgrenze definierten Warenkorbs "die breite Bevölkerung".9

Der jakobinische Revolutionsrichter

Es mag deshalb – vor der tiefgreifenden Krise des aktuellen Erdölpakts – zu verstehen sein, dass Nicolás Maduro seine eigene Machtbasis nun verstärkt in die Hände des Militärs legt. Insbesondere Parlamentspräsident Diosdado Cabello scheint im neu ausgerufenen "zivil-militärischen Bündnis" massive Machtressourcen mobilisieren zu können. So besetzen Familienangehörige und "Kameraden" seines Militärakademiejahrgangs eine Vielzahl politischer Schlüsselpositionen. Neben dem von Bruder José David seit Jahren geltend gemachten Einflusses auf die für den Petropakt zentralen Institutionen der Steuer- und Devisenkontrollbehörden10, zählen wohl auch Innenminister Miguel Rodríguez Torres und der Geheimdienstchef Gustavo González López zu seinem Unterstützerkreis.11

Auch in den von Militärs ausgeplünderten und heruntergewirtschafteten Staatsbetrieben12, wie den einst zu Leuchttürmen von Arbeitermit- und -selbstverwaltung erklärten Unternehmen der Schwerindustrie in Ciudad Guayana, dürfen die Vertrauten des Parlamentspräsidenten weiter ihr Unwesen zu Lasten der Arbeiterinnen und Arbeiter treiben.13

Diosdado Cabello interpretiert zudem seine Rolle als Parlamentspräsident zunehmend als eine Art jakobinischer Revolutionsrichter. Kritik und Wiederworte werden dabei nicht mehr nur mit Redeverboten sanktioniert.14

Mit der Initiierung von Strafverfahren gegen Parlamentarier und andere Politiker des Landes verstößt ausgerechnet der oberste Repräsentant der Legislative gegen die Grundsätze demokratischer Gewaltenteilung. Die juristisch umstrittene Inhaftierung des bis dahin politisch isolierten Rechtspopulisten Leopoldo López hatte Cabello bereits vor Monaten angekündigt.15

Auch für die beiden Oppositionspolitiker María Corina Machado und Henrique Capriles hält Cabello nach eigener Aussage bereits "eine Zelle" bereit – für "die Opposition" sei in Venezuela schließlich "kein Platz".16 Schon allein der Titel seiner vor wenigen Monaten initiierten Fernsehshow "Con el Mazo dando" (etwa: "Mit dem Knüppel zulangen") lässt wenig Zweifel an dem zugrunde liegenden Demokratie- und Politikverständnis.

Wo bleibt die Linke?

Unterstützung bekommt Cabello bei seiner Politik der harten Hand gegen "Feinde", "Verschwörer" und "Faschisten" auch von einem zunehmend antidemokratisch auftretenden Teil der "chavistischen" Basisgruppen. Dem Anderen, vermutlich größeren Teil der linken Bewegungen, die angesichts der autoritären Führung zumindest eine innerparteiliche Debatte über den Kurs des "bolivarianschen Prozesses" einfordern, begegnet Cabello mit Vorwürfen wegen angeblichem Sektierertum und Verrat. Innerparteilichen Wahlen und Richtungskämpfen für den anstehenden Parteikongress der längst zur Staatspartei verkommenen PSUV erteilte er eine kategorische Absage.17

Angesichts der katastrophalen wirtschaftlichen und politischen Lage scheint aber auch trotz der mannigfachen Beschwörung von "Treue" und "Disziplin" die interne Unterstützung für Präsident Nicolás Maduro zu bröckeln, wie sich unlängst zeigte, als die Reaktionen über die Ausbootung eines der wichtigsten Architekten des chavistischen Erdölpakts18, Jorge Giordani, äußerst kontrovers ausfielen. Für einen Dialog mit den Mittelschichten und Industrieunternehmern des Landes, ist Maduro auch deshalb längst kein ernstzunehmender Ansprechpartner mehr.

Vielmehr liegt es nun an der alten Garde der venezolanischen Linken, wie Rafael Ramírez, Ana Elisa Osorio, Ali Rodriguez Araque, Oscar Arias Cárdenas, José Vielma Mora und José Vincente Rangel, Schlimmeres19 zu verhindern, als nur den finanziellen Staatsbankrott.

Ein neuer demokratischer Pakt, der auch die sozialdemokratischen und liberalen Strömungen des Oppositionsbündnis MUD mit einschließt, dürfte zwar vor dem Hintergrund der politischen Polarisierung der letzten Jahre und der Verklärung von Punto Fijo in der offiziellen Geschichtsschreibung des Landes für beide Seiten einem "Pakt mit dem Teufel" gleichkommen.

Die großen sozialen Errungenschaften aus den ersten Jahren der "fünften Republik", wie die kostenlosen Gesundheitsposten und einen grundlegenden Konsens über ein öffentliches und kostenloses Bildungssystem könnte – im Gegensatz zur aktuellen Entwicklung – im Rahmen eines solchen Paktes zumindest abgesichert werden. Vor allem aber an den Kosten einer existenziell notwendigen Reform in der Währungs- und Finanzpolitik könnte ein neuer Pakt aus Industrieunternehmern und -arbeitern, sozialliberalen Mittelschichten und den basisdemokratischen Stadtteil-, Kleinbauern- und Indigenenbewegungen, die langfristigen Gewinner des "Erdölpakts" in der Ära Chávez – das Militär und die Handels- und Finanzbourgeoisie – weitaus mehr beteiligen, als die autoritären und rechtspopulistischen Alternativen eines Leopoldo López oder Diosdado Cabello.