Indigenen Völkern in Brasilien droht weiterer Landverlust und Vertreibungen

Abgeordnetenkammer stimmt für Marco Temporal-Gesetzesprojekt und negiert damit indigene Rechte. Votum richtet sich auch gegen Politik der Regierung

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"PL 490 Nein": Jaraguá-Indigene blockieren die Landstraße von Bandeirantes im Bundesstaat Parana
"PL 490 Nein": Jaraguá-Indigene blockieren die Landstraße von Bandeirantes im Bundesstaat Parana

Brasília. Eine Mehrheit von 283 Abgeordneten hat im brasilianischen Parlament für das Gesetzesvorhaben "PL 490 - Marco Temporal" gestimmt.

Es wurde am Abend des 30. Mai trotz umfangreicher Proteste und Gegenmobilisierungen verabschiedet. Dies geschah gegen die Versuche der regierenden Arbeiterpartei, diese Abstimmung aufzuschieben, gegen die Mobilisierung der Zivilgesellschaft mit circa 800 Unterschriftenlisten und gegen die Demonstrationen und Straßenblockaden der indigenen Bewegung in mindestens 22 Städten.

Der Beschluss ist ein klarer Sieg des Zusammenschlusses der Landwirtschaftslobby "Frente Parlamentar da Agropecuária", der sogenannten Ruralistas-Fraktion. Zu ihr gehören rund 300 der insgesamt 513 Mitglieder der Abgeordnetenkammer.

In dem Gesetz, das 2007 formuliert wurde, geht es um den zeitlichen Rahmen (Marco Temporal) der Gebietszuteilungen an Indigene. Es besagt, dass indigene Völker nur Anspruch auf die Demarkierung ihrer Gebiete haben, wenn sich diese am 5. Oktober 1988, dem Tag der Verkündung der Verfassung, bereits in ihrem Besitz befanden.

Diese These ignoriert unter anderem die kontinuierliche Vertreibung von Indigenen vor 1988 und gilt daher Vielen als verfassungswidrig. Tritt das Gesetz in Kraft, dürfte der Prozess des Landverlusts und der Vertreibung der Indigenen aufgrund der Interessen und Macht des Agrobusiness weiter vorangetrieben werden.

Das Gesetzesprojekt richtet sich auch gegen die Politik der Regierung von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, die die "größtmögliche Anzahl indigener Gebiete" abgrenzen möchte, wie Lula kürzlich erneut betonte. Der Kampf für indigene Landrechte sei ein "Kampf für Respekt, Rechte und den Schutz unserer Natur und unseres Landes", so der Präsident auf der Abschlussveranstaltung des indigenen Protestcamps "Terra Livre", wo er die Demarkierung von sechs neuen indigene Gebieten verfügte.

Im PL 490 sind die Bedingungen für indigenen Besitz streng definiert: Es muss sich um traditionell und dauerhaft bewohntes Land handeln, das für produktive Aktivitäten genutzt wurde und für die Erhaltung der Umweltressourcen erforderlich ist. Wenn eine indigene Gemeinschaft ein bestimmtes Gebiet nicht vor Oktober 1988 besetzt hat, soll das Land ‒ unabhängig vom Grund dafür ‒ nicht als traditionell bewohnt anerkannt werden.

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Indigene protestierten am Mittwoch im Regierungsviertel in Brasília gegen den Gesetzentwurf PL 490/2007
Indigene protestierten am Mittwoch im Regierungsviertel in Brasília gegen den Gesetzentwurf PL 490/2007

Es ermöglicht zudem den Anbau genetisch veränderter Pflanzen auf von indigenen Völkern genutztem Land, verbietet die Ausweitung bereits abgegrenzter Gebiete und kann Demarkierungen annullieren, die seinen Regeln widersprechen.

Auch ist es den Behörden gestattet, in schon abgegrenzten Gebieten Straßen, Kommunikationsnetze und Einrichtungen für Dienstleistungen für Gesundheit und Bildung zu installieren, ohne das in der Konvention 169 der ILO festgelegte Recht auf freie, vorherige und informierte Konsultation und Zustimmung der betroffenen indigenen Gemeinschaften zu respektieren. Brasilien hat die Konvention 2004 ratifiziert.

Der Gesetzestext legt 19 Bedingungen fest, die zur Erhaltung indigenen Territoriums nötig sind und die "Rechtssicherheit für Privateigentum im Land" anstreben, wie es seitens der "Ruralistas" zur Begründung heißt.

Der Abgerodnete Zé Trovao argumentierte, dass die Rechte der Landwirte garantiert würden, die das Land bewirtschaften. Die Kampagne internationaler Organisationen für die Abgrenzung von mehr indigenen Gebieten sei eine Strategie, um die "Entwicklung indigener Völker" zu verhindern und zugleich "illegal" den Boden und die Flora von Regionen wie dem Amazonasgebiet auszubeuten. Allein im Boden des Landes, das für die Yanomami-Nation bestimmt ist, lagerten Mineralien im Wert von mehr als drei Billionen Reais (rund 570 Milliarden Euro), erklärte Trovao.

Für den Indigenen-Dachverband Apib (Articulacao dos Povos Indigenas do Brasil) handelt es sich dagegen um das Projekt einer anti-indigenen Politik, das die Existenz der Indigenen negiert und ihre Rechte den Interessen des Agrobusiness unterordnet. Die Präsenz und der Beitrag der Indigenen zur Entstehung Brasiliens werde bestritten, unter anderem, dass sie vor 1988 in dem Gebiet ansässig gewesen sind. "Die These des zeitlichen Rahmens (Marco Temporal) leugnet unsere Überlebenspraktiken, leugnet unsere Wissenschaft, leugnet unser Singen, Malen und Kochen."

Célia Xacriaba, indigene Abgeordnete der sozialistischen PSOL aus Minas Gerais und Koordinatorin der Bancada do Cocar (Front der indigenen Interessenvertretung) in der Abgeordnetenkammer betonte in ihrer Rede im Parlament:

"Brasilien beginnt bei uns und wird nun von dem Nationalkongress beerdigt. Dies ist ein anti-zivilisatorisches Projekt. Vor dem Brasilien der Krone gab es schon das Brasilien des indigenen Kopfschmucks. Unser Zeitrahmen beginnt lange vor 1988 und vor dem Jahr 1500. Respektieren Sie unsere Geschichte! Aber es wird nicht diese dem Agrar-Banditentum ergebene Abgeordnetenkammer sein, die unsere jahrhundertealten Wurzeln ausreißt. Unser Recht ist ursprünglich und unser Kampf wird entschlossen weiter gehen, damit das Marco Temporal-Projekt im Senat gestoppt wird."

Die indigene Bewegung werde zudem vor dem Bundesgerichtshof die Verfassung verteidigen, betonte Xacriaba.

Das PL 490 wird nun zur weiteren Behandlung in den ebenfalls von der Opposition dominierten Senat weitergegeben.