Brasilien / Politik

Brasilien wählt heute zwischen "Barbarei und Demokratie"

Lula könnte 50 Prozent der Stimmen bekommen. Rekordzahl von LGBTIQ-Personen kandidieren bei Kongresswahlen. Putsch im Fall von Lulas Sieg nicht ausgeschlossen

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Parteien, die Lulas Kandidatur unterstützen, haben an die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) appelliert, das brasilianische Wahlergebnis schnell anzuerkennen
Parteien, die Lulas Kandidatur unterstützen, haben an die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) appelliert, das brasilianische Wahlergebnis schnell anzuerkennen

Brasília. Heute wählt Brasilien seinen Staatspräsidenten. Mehr als 156 Millionen wahlberechtigte Brasilianer sind aufgerufen auch Abgeordnete, Senatoren und Gouverneure zu bestimmen. In Brasilien besteht eine Wahlpflicht für Personen zwischen 18 und 70 Jahren. Senioren über 70 und Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren können freiwillig wählen. Abgestimmt wird elektronisch.

Die Stimmung ist aufgeheizt, denn die Präsidentschaftswahl ist richtungsweisend. Gegen den amtierenden rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro, der für die Partido Liberal (PL) kandidiert, tritt Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva für die linke Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores, PT) an. Der 76-jährige Lula, Ikone der brasilianischen Linken, ist zurück auf der politischen Bühne und kämpft um ein drittes Mandat. In den Umfragen weit abgeschlagen im Rennen um die Präsidentschaft sind der Vertreter der Demokratischen Arbeiterpartei (Partido Democrático Trabalhista, PDT), Ciro Gomes, ehemaliger Finanzminister aus dem Mitte-Links-Lager sowie Simone Tebet. Die Hochschullehrerin ist Mitglied des Movimento Democratico Brasileiro (MDB). Sie gilt als sozialliberale Politikerin und vertritt den "Dritten Weg".

Unter Jair Bolsonaro haben die Überfälle auf Indigenengebiete stark zugenommen. Der Amtsinhaber fördert die Abholzung des Regenwalds und illegalen Bergbau. Dagegen steht Lula als Trumpf bei Umweltthemen die frühere Umweltministerin Marina Silva zur Seite. Für arme Bevölkerungsschichten, Indigene, Umweltschützer und Minderheiten ist der frühere Gewerkschaftsführer Lula da Silva Hoffnungsträger. Eine besondere Charakteristik dieser brasilianischen Wahlen ist: 249 Kandidaten von 21 Parteien gehören der LGBTIQ-Gemeinschaft an. Das ist ein Novum in der Geschichte Brasiliens.

Lula da Silva hat mit einem Anti-Bolsonaro-Bündnis aus zehn Parteien eine breite Allianz schmieden können. Um im ersten Wahlgang zu gewinnen, braucht der linke Kandidat über 50 Prozent der Stimmen. Laut Umfragen des Instituts Datafolha vom Donnerstag würden 50 Prozent der Wahlberechtigte für ihn stimmen, Bolsonaro folgt mit 36 Prozent.

Beim jüngsten TV-Duell im Fernsehsender Globo haben sich die Hauptgegner gegenseitig als "Lügner" beschimpft. Bei der hitzigen Debatte am Donnerstagabend bezeichnete Bolsonaro Lula auch als "Ex-Häftling" und "Vaterlandsverräter". Zuvor hatte Jair Bolsonaro im Wahlkampf immer wieder behauptet, bei dieser Wahl stehe die Freiheit Brasiliens auf dem Spiel. Er verteidige Vaterland, Gott, die traditionelle Familie. Dabei verbreitete er auch Falschmeldungen, wie zum Beispiel, dass Lula Abtreibung und Drogen legalisieren, Kirchen schließen sowie Privateigentum abschaffen wolle.

Lula hatte bei der Fragerunde im Fernsehen einen starken Moment: Er plädierte klar für die Quotenregelung für Schwarze und Indigene, die während seiner Regierungszeit an staatlichen Universitäten eingeführt wurde: "Die Quote ist die Wiedergutmachung für die 350 Jahre, die Brasilien seine schwarze Bevölkerung versklavt hat. Sie eröffnet die Chance, den Rassismus zu überwinden. Es erfüllt mich mit Stolz, dass Reinigungsfrauen und Müllwerker Kinder haben, die eine Universität besuchen und die ihre Bürgerrechte wahrnehmen", erklärte Lula bei der TV-Debatte.

Am Vorabend hatte sich der brasilianische Ex-Präsident mit Vertretern von Banken und Unternehmern getroffen. Das linke Lager ist dabei, Vorkehrungen gegen einen autoritären Putsch zu treffen. Parteien, die Lulas Kandidatur unterstützen, haben an die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) appelliert, das brasilianische Wahlergebnis schnell anzuerkennen, weil die Möglichkeit bestünde, "dass einige Sektoren es nicht akzeptieren würden".

Es gilt als ungewiss, ob Amtsinhaber Jair Bolsonaro im Fall einer Niederlage das Ergebnis anerkennen wird. Seit Monaten sät er Zweifel an der "sauberen Funktion" des elektronischen Wahlsystems. Der frühere Militäroffizier kokettiert damit, auf die Loyalität der Polizei und der Streitkräfte setzen zu können. In seiner vierjährigen Regierungszeit wurden Posten in wichtigen Ämtern mit Militärangehörigen besetzt.

Die Präsidentschaftswahl entscheide zwischen "Barbarei und Demokratie", so empfinden es Vertreter der LGBTIQ-Bewegung im Land. Wenn keiner der Kandidaten im ersten Wahlgang über 50 Prozent der Stimmen erreicht, wird am 30. Oktober die Stichwahl stattfinden. Ein zweiter Wahlgang erscheint vielen wahrscheinlich, da es "Schweiger" in Brasilien gebe: Sie stimmen für Amtsinhaber Jair Bolsonaro, vermeiden aber, das vorher zu sagen.