Brasilien: Lula da Silva will bei Wiederwahl Mercosur-EU-Abkommen neu verhandeln

Lula stellt Wirksamkeit des aktuellen Abkommens in Frage. Die "Reindustrialisierung" Brasiliens werde für seine Regierung Priorität haben

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Die EU-Mercosur-Verhandlungen sollen "eine zivilisiertere Beziehung" zwischen den beteiligten Ländern schaffen, so Lula
Die EU-Mercosur-Verhandlungen sollen "eine zivilisiertere Beziehung" zwischen den beteiligten Ländern schaffen, so Lula

São Paulo. Präsidentschaftskandidat Luiz Inácio "Lula" da Silva hat am Montag die Reindustrialisierung Brasiliens und Argentiniens als Priorität für eine Neuverhandlung des Freihandelsabkommens zwischen der Europäischen Union und dem Mercosur (Mercado Común del Sur) bezeichnet.

Das Abkommen zwischen den beiden Integrationsbündnissen wurde im Juni 2019 – zwei Jahrzehnte nach Beginn der Verhandlungen – unterzeichnet, ist aber noch nicht in Kraft, da es von allen EU-Mitgliedstaaten ratifiziert werden muss. Mehrere Länder, darunter Frankreich, Luxemburg und Österreich, lehnten das Abkommen wegen unzureichender Umweltstandards oder Nachteile für europäische Landwirte ab.

Dem Mercosur gehören derzeit Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay an.

Bei einem Treffen mit Korrespondenten ausländischer Medien in São Paulo stellte der Ex-Präsident (2003-2010) die Wirksamkeit des aktuellen EU-Mercosur-Abkommens in Frage.

"Ich möchte ein Abkommen zwischen dem Mercosur und der EU schließen. Wir waren sehr nah dran, und wir müssen berücksichtigen, was für Südamerika wichtig ist", sagte der Vorsitzende der Arbeiterpartei (PT). Lula weiter: "Es kann nicht nur der eine gewinnen und der andere nicht. Wir wollen unser Recht, uns zu reindustrialisieren, nicht aufgeben. Die Verhandlungen müssen etwas sein, bei dem alle gewinnen".

Laut Lula waren die Beziehungen zur EU immer die bestmöglichen und man werde versuchen, neue Vereinbarungen zu treffen. Für den ehemaligen Gewerkschaftsführer bestehe jedoch "kein Grund zur Eile", das Abkommen neu zu verhandeln, solange die Grundlagen, die für eine wirtschaftliche Entwicklung der Länder Südamerikas wichtig sind, nicht angepasst würden.

Kritiker befürchten durch das EU-Mercosur-Abkommen eine Verfestigung des Nord-Süd-Handelsschemas bei dem die EU Industriegüter liefert und der Mercosur vor allem Agrarprodukte und Rohstoffe auf Kosten der Umwelt exportiert (amerika21 berichtete). Sollte der Handelsvertrag zustande kommen, könnte dieser der lokalen Industrien schaden, insbesondere in Brasilien und Argentinien, den am stärksten industrialisierten Ländern des Blocks.

"Brasilien hat es nicht nötig, etwas zuzustimmen, was nicht den Bedürfnissen Brasiliens entspricht. Was wir mit Europa besprechen wollen, ist, dass wir unser Interesse an der Reindustrialisierung nicht aufgeben", sagte Lula, der bei dem Treffen in São Paulo den Rückgang der Industrieproduktion in Lateinamerikas größter Volkswirtschaft Revue passieren ließ.

"Der Anteil des Industriesektors am Bruttoinlandsprodukt ist in den letzten 40 Jahren von 30 Prozent auf heute nur noch elf Prozent gesunken“, erinnerte Lula und sagte, dass er diesen Trend umkehren wolle, falls er die Präsidentschaftswahlen am 2. Oktober gewinnt.

Vor dem Hintergrund der geopolitischen Veränderungen durch den Russland-Ukraine-Krieg bezeichnete der ehemalige Präsident Südamerika als wichtigen alternativen Handels- und politischen Partner für die EU. Lula zeigte sich zuversichtlich, dass dieses neue Szenario für eine mögliche Neuverhandlung des Handelsabkommens positiv ausfallen werde. Seiner Meinung nach könne Südamerika für die europäischen Länder "ein Hauch von Ruhe und Möglichkeiten" sein.

"Ich glaube, Südamerika erlebt gerade einen ganz besonderen Moment. Die Erfolge [linker Präsidenten] in Argentinien, Chile, Bolivien und Peru zeigen, dass das lateinamerikanische Volk keine Faschisten mehr an der Spitze unseres Kontinents will". Lula gilt in den Umfragen für die anstehenden Wahlen als Favorit.

Er kündigte außerdem an, dass im Falle einer Wiederwahl, eine seiner diplomatischen Prioritäten die Integration Südamerikas und die Aufnahme von Verhandlungen mit zahlreichen Wirtschaftsblöcken sein würde.

Bei dem Treffen ging er auch auf den Schutz des Amazonas-Regenwaldes ein. Lula kündigte an, die Kontroll- und Inspektionsorgane im Amazonasgebiet wieder zu stärken.

Laut einer Studie des Amazonas-Umweltforschungsinstituts (Ipam) hat die Entwaldung im brasilianischen Amazonasgebiet in der Zeit zwischen August 2018 bis Juli 2021 im Vergleich zum vorangegangenen Dreijahreszeitraum um knapp 57 Prozent zugenommen (amerika21 berichtete).

Mit einem Comeback Lulas, der eine Rückkehr zu einer ambitionierten Umwelt- und Klimapolitik signalisiert, dürften die Regierungen in Europa neue Anknüpfungspunkte für Nachverhandlungen des Abkommens sehen. Denn bis vor kurzem schien es vor allem aufgrund der Blockade einiger EU-Länder politisch nicht durchsetzbar und wurde vorerst auf Eis gelegt.

Insbesondere in Frankreich ist der Widerstand gegen das Abkommen wegen der steigenden Abholzung im Amazonas und dem Umgang von Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro damit groß. In Paris wolle man verhindern, dass ein solches Abkommen zu mehr Entwaldung führe. Tatsächlich zeigen verschiedene Studien, dass mit Inkrafttreten des Handelsvertrags, die Entwaldung in den vier Mercosur-Staaten aufgrund der gestiegenen Nachfrage nach Fleisch- und Agrarprodukten deutlich ansteigen könnte (amerika21 berichtete).

Die deutsche Bundesregierung befürwortet eine Ratifizierung des Abkommens und sei in Absprache mit der EU-Kommission kooperationsbereit, "wenn zuvor von Seiten der Mercosur-Partnerländer umsetzbare und überprüfbare, rechtlich verbindliche Verpflichtungen zum Umwelt-, Sozial- und Menschenrechtsschutz eingegangen werden", heißt es im Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP.

Wie das Nachrichtenportal Euroactiv berichtet, wandte sich die EU vor kurzem an die Regierung Bolsonaro, um eine neue Runde von Gesprächen über das Abkommen in Gang zu bringen. Bis Ende des Jahres soll eine Zusatzvereinbarung über den Umweltschutz, welche die EU-Kommission aufgrund der Umweltbedenken einiger EU-Länder vorgeschlagen hatte, ausgehandelt werden. Die Kontaktaufnahme erfolge angesichts der raschen Veränderungen in den globalen Lieferketten im Zuge der Pandemie und des Ukrainekriegs, die den Einfluss Brasiliens als landwirtschaftliches Schwergewicht erhöht haben, so ein brasilianischer Beamter. Erste Gespräche mit dem Wirtschafts- und dem Außenministerium hätten bereits stattgefunden.

Angesichts des Drucks in der EU, die übermäßige Abhängigkeit von fossilen Rohstoffen zu reduzieren, dürfte sich die Verhandlungsposition der Mercosur-Staaten verbessern.