Brasilien / Soziales / Politik

Landesweite Proteste gegen Bolsonaro in Brasilien

"Brief an die Brasilianer" in São Paulo vorgestellt: Warnungen vor Untergrabung der Demokratie. Armut in Städten auf Rekordhoch. Inflation erschwert Situation

Brasília. In Brasilien sind tausende Menschen für den Erhalt der Demokratie und bessere Lebensbedingungen auf die Straße gegangen. Fast täglich fanden vergangene Woche Demonstrationen, Kundgebungen und politische Akte von ganz unterschiedlichen Akteur:innen statt.

Ein Höhepunkt war dabei die Verlesung des "Briefs an die Brasilianerinnen und Brasilianer" am Mittwoch an der juristischen Fakultät in São Paulo. "Alle Macht geht vom Volk aus, das sie gemäß den Bestimmungen dieser Verfassung durch seine gewählten Vertreter oder direkt ausübt", mahnt der Brief und richtet sich insbesondere gegen den amtierenden Präsidenten und Präsidentschaftskandidaten Jair Bolsonaro. Dieser hatte in der Vergangenheit immer wieder gegen die elektronischen Wahlurnen gehetzt (amerika21 berichtete) und erklärt, er würde die Wahlen nicht anerkennen, wenn er im Oktober nicht gewinnen würde.

Der Brief mahnt: "Grundlose Angriffe ohne Beweise stellen die Fairness des Wahlprozesses und die von der brasilianischen Gesellschaft so hart erkämpfte demokratische Rechtsstaatlichkeit in Frage. Die Bedrohung der anderen Staatsgewalten und von Teilen der Zivilgesellschaft sowie die Aufstachelung zur Gewalt und der Bruch der verfassungsmäßigen Ordnung sind nicht hinnehmbar." Und weiter: "Unsere Wahlen mit elektronischer Auszählung dienten weltweit als Vorbilder."

Auch für die soziale Lage im Land findet der Brief kritische Worte: "In Bezug auf die nachhaltige Entwicklung unserer wirtschaftlichen Potentiale haben wir noch einen langen Weg vor uns. Angesichts all dieser zahlreichen Herausforderungen zeigt sich der Staat allerdings als ineffizient. Respekts- und Rechtsgleichheitsforderungen in Bezug auf Rasse, Geschlecht und sexuelle Orientierung sind noch lange nicht so erfüllt, wie es ihnen zukommt.“

Der Brief wurde online in mehreren Sprachen veröffentlicht und kann von allen Bürger:innen unterzeichnet werden. Er ist angelehnt an das gleichnamige Schriftstück aus dem Jahr 1977, geschrieben von Goffredo da Silva Telles Jr., welcher die damalige Militärregierung kritisierte und so ein wichtiges Element im Kampf gegen die Diktatur war.

Mehr als eine Million Personen haben bereits unterschrieben, darunter auch Politiker:innen wie Ciro Gomes und Luiz Ignacio Lula da Silva. Bolsonaro selbst hat den Brief nicht unterzeichnet und kritisierte die Aktion. 

Begleitet wurde die Publikation des Briefes von unzähligen Demonstrationen in mehr als 50 Städten des Landes.

Beispielsweise forderten am Dienstag indigene Gruppen das Ende des illegalen Bergbaus, die Anerkennung und den Schutz ihrer Gebiete. Feministische Gruppen riefen am Samstag dazu auf, sich aktiv an den Wahlkampagnen zu beteiligen, Lula zu wählen und somit einen Weg aus den prekären Lebensbedingungen zu ebnen. 

Unter Bolsonaro hat die Gewalt gegen Frauen, insbesondere gegen Schwarze Frauen, enorm zugenommen. Seit 2016 gab es einen Anstieg von 50 Prozent an Femiziden. 66 Prozent der ermordeten Frauen waren Schwarz. Ebenfalls sind junge, Schwarze Frauen überdurchschnittlich stark von informeller Beschäftigung und Arbeitslosigkeit betroffen.

Die Initiative "Fora Bolsonaro" (Weg mit Bolsonaro) versammelte ebenfalls unzählige Menschen auf den Straßen. Mehr Bildung, ein sicherer Zugang zu Lebensmitteln und bessere Arbeits- und Lebensbedigungen stehen auf ihrer Agenda.

Auch in den Städten hat sich die Situation in den letzten Jahren enorm verschlechtert. 2021 waren 23,7 Prozent der Stadtbevölkerung von akuter Armut betroffen, zeigt eine Untersuchung. Das ist der mit Abstand höchste Wert seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2012.

Durch den starken Anstieg der Preise für Strom, Gas, Miete und Lebensmittel sowie die Tatsache, dass Löhne oftmals nicht pünktlich zum Monatsende ausgezahlt werden, verschärft sich die Situation für die Bevölkerung des Landes enorm.