Argentinien: Neue Zeugenaussagen bringen Licht in den Fall Santiago Maldonado

Aktivist 2017 nach Polizeieinsatz verschwunden und später tot aufgefunden. Ungereimtheiten und Indizien sprechen für Polizeigewalt

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"Schau nicht weg. Es war der Staat. Santiago Maldonado ist anwesend"
"Schau nicht weg. Es war der Staat. Santiago Maldonado ist anwesend"

Neuquen. Bisher unbekannte Zeugenaussagen haben im Fall Santiago Maldonado für Aufruhr gesorgt. Ein Zeuge erklärte vor dem Staatsanwalt, er hätte von beteiligten Polizisten gehört, dass sie Maldonado "in die nächste Polizeistation brachten um Information aus ihm zu holen, und ihn dann verloren haben". Die Station liegt auf dem Territorium des transnationalen Bekleidungskonzerns Benettons, welcher sich in einem Landkonflikt mit lokalen Mapuche befindet.

Maldonado engagierte sich für die Rechte der Indigenen. Am ersten August 2017 nahm er an einem Protest der indigenen Gemeinde Cushamen in der südargentinischen Provinz Chubut teil. Der Aktivist und eine Gruppe von Mapuche protestierten an der Bundesstrasse 40, wo sie kurzzeitig den Verkehr unterbrachen. Anlass war der Konflikt zwischen Benetton und der indigene Gemeinde. Die italienische Modefrima besitzt ein Gebiet von fast einer Millionen Hektar, das sie 1991 für einen Spottpreis erworben hat, und wobei die Mapuche übergangen wurden. Der Protest richtete sich außerdem gegen die Festnahme des Mapuche-Anführers Facundo Huala Jones.

Die Sicherheitskräfte lösten den Protest mit einem unverhältnismäßigen Aufgebot an Personal und einem Wasserwerfer gewaltsam auf und verfolgten die Protestierenden widerrechtlich bis in das Territorium der Gemeinde hinein. Santiago Maldonado wurde dabei zum letzten Mal lebend gesehen wie er, verfolgt von mehreren Einsatzkräften, in Richtung des Flusses Chubut lief. Nach dem Einsatz meldeten Freunde und Familie sein Verschwinden. Auf dem Terrain wurden später zahlreiche leere Patronenhülsen von Kurzwaffen und Schrotflinten der Polizei gefunden. Zeugen berichteten von Schüssen auf die Flüchtenden. Bei der Vorbereitung des Einsatzes war der Kabinettchef des Bundesministeriums für Sicherheit, Pablo Nocetti anwesend. Er wurde kurz nach der Operation auch vor Ort gesehen.

Die Einsatzkräfte leugneten, Maldonado gefasst zu haben oder ihm gefolgt zu sein. Es wurde eine Fahndung nach ihm eingeleitet und Behauptungen gingen durch die Presse, er befinde sich in Chile oder sei entweder im Süden Patagoniens oder an der Grenze zu Brasilien gesehen worden. Hochrangige Mitglieder der Regierungskoalition unter Mauricio Macri wie die Anführerin der linksliberalen Partei Zivile Koalition ARI, Elisa Carrió, beteiligten sich an den Spekulationen. Sicherheitsministerin Patricia Bullrich leugnete jede Verantwortung der Sicherheitskräfte und ein hoher Beamter des Ministeriums traf sich sogar mit den beteiligten Beamten, um sie vor einer Untersuchung einzuweisen. Währenddessen mehrten sich die Proteste und Demos, die eine Klärung des Falls forderten.

Bei den gerichtlichen Untersuchungen zum Fall tauchten dann Fotos und Videoaufnahmen auf, die bewiesen, dass die Polizisten auch am Fluss waren und einer von Ihnen mit Verletzungen im Gesicht zurückkehrte. Nach 78 Tagen seines Verschwindens, kurz vor den Parlamentswahlen, wurde Maldonados Leiche in einem erstaunlich guten Zustand im Fluss geborgen, 500 Meter Strom aufwärts von der Stelle, an der er zuletzt gesehen wurde. Der Flussabschnitt der Fundstelle ist nicht tief und wurde nach seinem Verschwinden bereits mehrmals durchsucht.

Die Obduktion stellte seinen Tod durch Erstickung fest, ohne genauere Angaben, wie es dazu gekommen war. Die rechten Medien behaupteten daraufhin, er sei durch eigenes Verschulden auf der Flucht ertrunken. Ein von der Familie herangezogener Forensiker kam jedoch zum Schluss, dass nach 78 Tagen im Fluss die Leiche unmöglich in einem so guten Zustand sein könne. Relativ bald mehrten sich Gerüchte, dass die Leiche in einer Kühlkammer aufbewahrt wurde, bis sie angesichts des steigenden Protests kurz vor der Wahl in den Fluss geschmissen wurde. Die einzige Kühlkammer in der Umgebung befindet sich auf dem Gelände eines Landguts der Firma Benetton. Auf ihrem Territorium ist auch die nächste Polizeieinheit in der Gegend stationiert.

Der Untersuchungsrichter erklärte den Tod Santiago Maldonados zu einem Unfall und schloss die Untersuchung. Nach Einspruch der Familie und Protesten wurde der Fall wieder eröffnet, ohne jedoch größere Fortschritte zu machen, da Unstimmigkeiten in den Erklärungen der beteiligten Beamten und Funktionäre nicht geprüft wurden und Durchsuchungen erst nach Vorabwarnungen erfolgten. Ein Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte ordnete an, die Untersuchung wieder aufzunehmen.

Sergio Maldonado, älterer Bruder von Santiago, war in den letzten vier Jahren zusammen mit seiner Familie und Freunden permanent in der Aufklärung des Falles aktiv. Unter der Regierung Macris wurden sie sogar ausspioniert. Er äußerte in einem Interview die Hoffnung, dass die Justiz angesichts der neuen Zeugenaussagen die Blockade des Falls aufheben und die Untersuchungen zu Ende zu führen muss. Aktuell ist der Fall allerdings einer von vielen, die beim Obersten Gerichtshof liegen und nicht bearbeitet werden.