UN-Berichte bestätigen 52 Tote durch Polizei und zivile Täter bei Protesten in Kolumbien

Bogotá-Fall als "Massaker" eingestuft. Duque sieht die Feststellungen des UN-Menschenrechtsbüros als Angriff auf die Institution

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Die Polizei habe „eine der verheerendsten Episoden in Sachen Menschenrechtsverletzungen in der Geschichte der Hauptstadt“ verursacht
Die Polizei habe „eine der verheerendsten Episoden in Sachen Menschenrechtsverletzungen in der Geschichte der Hauptstadt“ verursacht

Bogotá. Laut zwei Untersuchungen der Vereinten Nationen über die Gewalt bei den Protesten vom Frühjahr 2021 und vom September 2020 ist die Polizei für die Tötung von 28 beziehungsweise elf Menschen verantwortlich. Den Bericht über die Polizeigewalt im Frühjahr hat das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte (OHCHR) erstellt. Der zweite Bericht bezieht sich auf die Exzesse der Ordnungskräfte zwischen dem 9. und 11. September 2020 in Bogotá und bezeichnet die Tötungen als "Massaker". Die Nachforschung in der Hauptstadt hat ein Team von sieben Expert:innen mit der Unterstützung der UNO durchgeführt.

Aber nicht nur die uniformierte Polizei hat Demonstrierende und Passant:innen getötet. In zahlreichen Videos und Fotos der "sozialen Explosion" vom Frühjahr sind bewaffnete zivile Männer zu sehen, die trotz der Präsenz der Polizei ungehindert auf Protestierende schießen. Tatsächlich meldet der Bericht des OHCHR zehn Todesopfer durch "in Zivil gekleideten Individuen". Auch in Bogotá haben Zivilisten bei den Protesten im September 2020 drei Personen erschossen, heißt es in der anderen Untersuchung.

Das OHCHR erkennt den größten Teil der Mobilisierungen vom Frühjahr als "friedlich und vorschlagsorientiert" an. Sie seien das Ergebnis von "schwerwiegenden Ungleichheiten", die sich nach der Pandemie verschärften. Im Januar 2021 lebten 48 Prozent der kolumbianischen Bevölkerung in "Ernährungsunsicherheit". Die Mehrheit der Protestierenden seien chancenlose Jugendliche, die Bildung und Arbeit forderten.

Das Hochkommissariat zählt 12.478 Protestaktionen zwischen dem 28. April und dem 30. Juni in 860 Gemeinden von 32 Departamentos. Laut der Regierung selbst waren 11.060 dieser Aktionen – also 89 Prozent – friedlich, zitiert die UN-Organisation.

Die Reaktion der Ordnungskräfte darauf war jedoch die "unnötige und unverhältnismäßige Gewaltanwendung". Die Polizei hat nicht nur Protestierende sondern auch Passant:innen getötet. Die Mehrheit der Toten sind mit Schusswaffen umgebracht worden. Des weiteren haben Polizeiangehörige Demonstrierende mit "weniger tödlichen" Waffen wie Tränengasprojektilen, Gummigeschossen und Wasserwerfern getötet.

Laut der Organisation "Temblores" (Erdbeben) gab es außerdem 1.661 Opfer körperlicher Gewalt durch die Polizei, so das OHCHR. Polizist:innen haben auch Journalist:innen und Sanitätspersonal attackiert und verletzt. Mindestens 60 Frauen wurde sexuelle Gewalt durch die Polizei angetan. Polizeieinheiten haben in Cali mit Gewehren patrouilliert und diese auf die Protestierenden gerichtet. Zahlreiche Beispiele der Untätigkeit der Polizei gegenüber Zivilisten, die die Proteste angriffen, werden ebenso in dem Bericht erwähnt.

Oft hat die Polizei öffentliche oder private Einrichtungen illegal benutzt, um Festgenommene gefangen zu halten. Sie hat zwischen April und September 1.970 Personen wegen der Proteste festgenommen. Hunderte Jugendliche sind während der Proteste vermisst worden. Die Mehrheit ist nach und nach aufgetaucht. Aktuell gibt es immer noch 27 Vermisste.

Das OHCHR empfiehlt, eine "tiefgehende Veränderung" der berüchtigten Sondereinheit der Polizei "Escuadrón Móvil Antidisturbios", Esmad, durchzuführen. Die UN-Organisation regt ebenso an, die Polizei aus dem Verteidigungsministerium aus- und in ein Zivilministerium einzugliedern.

Präsident Iván Duque wies den Bericht des UN-Hochkommissariats während einer Beförderungszeremonie der Polizei zurück. Bestimmte "Verhalten vorschnell zu beurteilen, bevor nicht alle Grundsätze eines ordnungsgemäßen Verfahrens ausgeschöpft wurden, ist an sich ein Angriff auf die Institution", sagte Duque. Der Oberkommandeur der Polizei, General Jorge Luis Vargas, erklärte: "Die Polizei hat niemand massakriert, wir haben den Befehl, das zu machen, nicht gegeben".

Nicht nur wegen der extremen Gewalt vom Frühjahr stand die Polizei diese Woche im Fokus der Kritik. Die Institution habe im September 2020 "eine der verheerendsten Episoden in Sachen Menschenrechtsverletzungen in der Geschichte der Hauptstadt" verursacht. Dies sagte der Ex-Ombudsmann Carlos Negret, Leiter des siebenköpfigen Teams, das den Bericht über das polizeiliche Massaker in Bogotá erstellt hat.

Das 182-seitige Dokument stellt eine "Kriminalisierung der Armut" durch die Polizei fest, die "autoritäre und illegale Aktionen gegen die Einwohner" von armen Vierteln mit sich bringt. Vor allem die Jugendlichen dieser Viertel seien Zielscheibe der Polizei gewesen, als die Tötung von Javier Ordóñez durch Polizeigewalt ähnlich wie bei George Floyd heftige Proteste auslöste. Die Staatsgewalt reagierte darauf mit zügelloser Gewalt und schoss auf die Demonstrierenden. Laut der Untersuchung ist das Massaker zustande gekommen, weil es "keine politische oder operative Anweisung gab, die Feuerwaffen nicht gegen die Protestierenden einzusetzen". Mindestens 75 der 306 Verletzten wurden angeschossen.

Die grüne Bürgermeisterin von Bogotá, Claudia López, die die Untersuchung beauftragt hatte, bat nun die Opfer des Massakers unter Tränen um Verzeihung. "Ich übernehme die politische und institutionelle Verantwortung", sagte sie. López wird von Aktivist:innen kritisiert, weil sie der Esmad und der Polizei für gewöhnlich Rückendeckung gibt. Die Selbstverteidigungsstrukturen der Proteste, "Primeras Líneas" (Die Ersten Linien), hat sie mehrmals als Vandalen bezeichnet.

"Claudia musste von der UNO unterrichtet werden, dass es ein Massaker gegeben hat, um zu erkennen, dass es tatsächlich ein Massaker war", twitterte der exilierte Aktivist Alejandro Villanueva. Davor hätte sie in Demonstrierenden nur "gefährliche Vandalen" gesehen, die von Petro und der Bewegung "Menschliches Kolumbien" (Colombia Humana) manipuliert und bezahlt wurden, damit sie gegen die Polizei protestierten, so Villanueva.

In der Tat hatte López dem linken Vorkandidaten für die Präsidentschaftswahlen, Gustavo Petro, und seinem Mitstreiter, dem Senator Gustavo Bolívar, vorgeworfen, die Ausrüstung der "Ersten Linien" mitzufinanzieren und somit zur Radikalisierung der Protestierenden beizutragen, um "aus ihnen Kanonenfutter zu machen". Dies sei eine "destruktive Art, eine Präsidentschaftskampagne durchzuführen", sagte López im August.