Informelle Arbeit und Arbeitslosigkeit in Lateinamerika nehmen zu

Corona-Pandemie verschlechtert die Situation zunehmend. Keine Möglichkeit für Heim- oder Kurzarbeit im informellen Sektor führt oft zu Verlust der Arbeit

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Geschäfte zu, Arbeit weg: Die Corona-Pandemie hat, wie hier in Buenos Aires, viele Arbeitsplätze verschwinden lassen
Geschäfte zu, Arbeit weg: Die Corona-Pandemie hat, wie hier in Buenos Aires, viele Arbeitsplätze verschwinden lassen

Buenos Aires. Tagelöhnerei, Akkordarbeit, informelle Arbeit und allenfalls eine Festanstellung mit niedrigen Löhnen und ohne Rechte ist laut einem Bericht der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) der Trend für die Zukunft der Arbeitswelt in Lateinamerika und der Karibik. Bei rund 70 Prozent der in den letzten Monaten geschaffenen Arbeitsplätze handele es sich um informelle Arbeit, so der Bericht. Unterdessen halte die Arbeitslosigkeit und geringere Erwerbsbeteiligung an.

Der Bericht mit dem Titel "Beschäftigung und Informalität in Lateinamerika und der Karibik: Eine unzureichende und ungleichmäßige Erholung" der ILO beschreibt die Besonderheiten des lateinamerikanischen und karibischen Arbeitsmarkts im Zuge der einsetzenden "Rückkehr zur Normalität" nach Ausbruch der Pandemie. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung gehe eine Mehrzahl schlecht bezahlter Arbeitsplätze ohne Sozialversicherung und Arbeitnehmer:innenschutz einher. Obwohl es sich um einen globalen Prozess handele, seien die mittel- und südamerikanischen Länder weltweit am stärksten von diesem Phänomen betroffen.

Wie aus dem Bericht hervorgeht, hat sich im Laufe der Pandemie die Geschäftstätigkeit in einigen Bereichen wie der angemeldeten Arbeit und der Selbstständigkeit etwas erholt. Jedoch seien im ersten Quartal 2021 rund 76 Prozent der Selbstständigen und etwas mehr als ein Drittel der Arbeitnehmenden im informellen Bereich tätig gewesen. Im Zusammenhang damit wird vor einer Neuorganisation des Arbeitsmarkts gewarnt. Arbeitsplätze, die zuvor mit Leistungen und sozialer Absicherung entsprechend den jeweiligen arbeitsrechtlichen Vorschriften der einzelnen Länder ausgestattet waren, könnten informalisiert werden.

Im Vergleich zu vorherigen Krisen sei dieser Prozess der Informalisierung beispiellos, da die formellen Arbeitsplätze bisher nach jedem Konjunktureinbruch wiederhergestellt worden seien. Informelle Tätigkeiten hätten auch zu Krisenzeiten nicht zugenommen und dienten nicht als Zuflucht für diejenigen, die ihre formelle Beschäftigung verloren hatten. Obwohl diese Entwicklung noch nicht eindeutig nachgewiesen werden konnte, stelle die Informalisierung von ehemals formellen Berufen eine nicht zu unterschätzende latente Bedrohung dar.

Gleichzeitig seien durch die pandemiebedingte Gesundheitskrise und ihre Auswirkung auf die Wirtschaftstätigkeit der Menschen auch informelle Arbeitsplätze verloren gegangen, da Arbeitnehmer:innen nicht auf gesellschaftliche Unterstützungsnetze zurückgreifen konnten und keine Möglichkeit zur Kurz- oder Heimarbeit hatten. Das führte in einigen Ländern sogar kurzzeitig zu einem Rückgang der informellen Beschäftigung. Aktuell dürfte in Anbetracht der stärkeren Erholung des informellen Sektors die Zahl der dort Beschäftigten in vielen Ländern wieder ähnlich hoch oder sogar höher sein als vor der Pandemie, als dort etwa 51 Prozent der Erwerbstätigen beschäftigt waren.

Im Bericht heißt es weiter, dass die Region zudem auch einen unzureichenden Anstieg bei der Schaffung neuer Arbeitsplätze erlebt. Im zweiten Quartal 2020, im größten Moment der Krise, wurde ein Rückgang von 43 Millionen Arbeitsplätzen festgestellt. Die anschließende Erholung bis zum ersten Quartal 2021 von rund 29 Millionen habe den vorigen Verlust nicht vollständig ausgleichen können, etwa 30 Prozent der verlorenen Arbeitsplätze seien immer noch nicht wiederhergestellt worden.

Gleichzeitig verschlechterten sich zu Beginn des Jahres andere Arbeitsmarktindikatoren. Der Jahresvergleich zwischen dem ersten Quartal 2020 und dem Vergleichsquartal 2021 zeigt einen durchschnittlichen Rückgang der Beschäftigung in der Region um 3,5 Prozentpunkte und ein Rückgang der Erwerbsquote um 2,6 Prozentpunkte. Zudem stieg die Arbeitslosenquote um zwei Prozentpunkte. Daraus ergibt sich für das erste Quartal dieses Jahres eine Erwerbsquote von 59 Prozent und eine Beschäftigungsquote von 52,6 Prozent. In beiden Fällen ist dies der niedrigste Stand seit über einem Jahrzehnt. Die Arbeitslosenquote beträgt derzeit elf Prozent, womit 32 Millionen Menschen erfolglos auf der Suche nach einem Arbeitsplatz sind.

Laut dem ILO-Bericht zeichnet sich die derzeitige Krise vornehmlich durch den starken Rückgang der Erwerbsquote aus. Millionen Menschen hätten sich dafür entschieden, aus dem Arbeitsmarkt auszuscheiden, da sie ihre Erfolgsaussichten auf einem Job als zu gering einschätzten. Sobald sich diese Menschen dazu entschlössen, wieder eine Arbeit zu suchen, würden sie und all die anderen, die nach der Krise ein zusätzliches Einkommen benötigen, sich dem sinkenden Niveau der informellen Beschäftigung ausgesetzt sehen, warnt der Bericht. Weiter heißt es, dass Frauen, Jugendliche und wenig gebildete Menschen unverhältnismäßig stark von dem Beschäftigungs- und Einkommensrückgang betroffen seien und am meisten unter den ungleichen Auswirkungen der Pandemie und der wachsenden Armut litten.

Roxana Maurizio, Autorin der Studie und ILO-Expertin für Arbeitsökonomie erklärte, dass "bei Frauen ein Rückgang der Erwerbsbeteiligung zu verzeichnen ist, und das, obwohl jahrzehntelang eine zunehmende Eingliederung in die Erwerbsbevölkerung zu verzeichnen war". Eine derartig niedrige wirtschaftliche Beteiligung von Frauen sei seit mehr als 15 Jahren nicht mehr registriert worden.

Der Bericht kommt zu dem Fazit: "Unterschiedliche Geschwindigkeiten bei der Erholung der Beschäftigung in den verschiedenen Arbeitnehmergruppen und zunehmende Ungleichheit und Armut können nicht nur das Wirtschaftswachstum stark einschränken, sondern auch das Ausmaß der sozialen Unruhen in der Region erhöhen".