Soziale Explosion in Kolumbien "ein Vorbote dessen, was kommen wird"

Beobachter fürchten weitreichende regionale Folgen des kolumbianischen Aufstands. "Leuchtturmprojekt des Westens" droht abzustürzen

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"Den Banken Milliarden, den Hungernden die Esmad". Die Sondereinheit zur Aufstandsbekämpfung Esmad ist bekannt für extreme Gewalteinsätze gegen Protestierende
"Den Banken Milliarden, den Hungernden die Esmad". Die Sondereinheit zur Aufstandsbekämpfung Esmad ist bekannt für extreme Gewalteinsätze gegen Protestierende

Bogotá et al. Zwei Wochen nach dem Ausbruch von Massenprotesten in Kolumbien sehen internationale Analysten Auswirkungen auf ganz Lateinamerika und auf die Position des Westens in der Region. Verbündete von Präsident Iván Duque, der "bei allen wichtigen strategischen Entscheidungen danebenlag", gehen auf Distanz.

Der politische Analyst Andres Mejia Acosta vom Kings College London erklärte mit Blick auf die Lage in weiteren Ländern der Region: "Kolumbien ist ein Vorbote dessen, was kommen wird." Die "Welt" vom Springer-Verlag titelte gar: "Der Westen verliert Lateinamerika."

Die auf Wirtschafts- und Finanzthemen spezialisierte internationale Nachrichtensendergruppe Bloomberg zitiert Acosta und ruft in Erinnerung, dass im Jahr 2019 Ecuadors damaliger Präsident Lenín Moreno wegen der Streichung von Treibstoffsubventionen fast vorzeitig von der Macht verjagt wurde. Im selben Jahr lösten Fahrpreiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr in Chile eine soziale Revolte aus, die sich bis zur Forderung nach einem Verfassungsreferendum ausweitete. Kolumbien erlebte 2019 eine Protestwelle, die die gesellschaftliche Unzufriedenheit mit der mangelnden Umsetzung des Friedensabkommens mit der ehemaligen Farc-Guerilla ausdrückte.

Mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie schwächten sich die anhaltenden Proteste in der ganzen Region zunächst ab. Jetzt sind sie zurück und erschüttern Kolumbien.

CNN titelte eine Analyse mit "Blutige Proteste in Kolumbien könnten eine Warnung für die Region sein". Die wirtschaftlichen Kosten der Pandemie inmitten der extremen Ungleichheit in Kolumbien hätten die Verzweiflung angefacht, viele internationale Beobachter sähen Anzeichen für weitreichende regionale Auswirkungen.

Mit den Lockdowns zur Bekämpfung der Corona-Pandemie habe die Regierung den riesigen informellen Arbeitsmarkt des Landes erstickt. Mehr als 3,6 Millionen Kolumbianer fielen laut jüngsten Zahlen der Statistikbehörde des Landes in die Armut zurück, während sich die Zahl der Familien, die es sich nicht leisten können dreimal am Tag zu essen, verdreifachte.

Länder wie Kolumbien, deren Wirtschaft vom Export abhängig und durch eine enorme Auslandsverschuldung belastet ist, könnten nicht wie die Europäische Union oder die USA durch massive Investitionen in einen Wiederaufbau ihrer Volkswirtschaften nach der Pandemie aus der Krise gelangen.

Bloomberg: "Das Land, das als Modell für marktwirtschaftliches Wachstum gilt, hat in schwierigen Zeiten stets ausländisches Geld angezogen und sein Investment-Rating gehalten. Doch seit die Dollar-Anleihen des Landes in den Ramschbereich abrutschen, hat sich die Aura verdunkelt."

Kolumbiens Regierungen haben nie eine Politik in Angriff genommen, die ungleichen internationalen Handelsstrukturen aufzuheben und eine starke Binnennachfrage zu schaffen. So blieb nur, mehr Einnahmen aus den breiten, verarmten Schichten "herauszukitzeln, die gleichzeitig über miserable Dienstleistungen aufgebracht sind", wie Bloomberg analysiert.

Tobias Käufer betont in der Tageszeitung "Welt", die eine gemeinsame Webseite mit dem gleichnamigen Fernsehsender betreibt, dass "Kolumbien als einziges lateinamerikanisches Land offizieller Partner der Nato" ist. Ein Wechsel könne sich andeuten, der mit den Wahlen im nächsten Jahr den "linkspopulistischen Ex-Guerillero Gustavo Petro" ins Amt bringen könnte, "den ideologisch deutlich mehr mit Venezuela, Kuba und China verbindet als mit dem Westen".

Kolumbien hätte "so etwas wie ein Leuchtturmprojekt des Westens" sein sollen, aber die "westlichen Partner beließen es bei belehrenden Worten und mageren Überweisungen", so Käufers Kritik.

Seine vorrangige Sicht ist geopolitisch. China und Russland würden die Entwicklung aufmerksam beobachten. Sollten in Kolumbien bald "pro-venezolanische Linke regieren", könnten die US-Militärstützpunkte in dem südamerikanischen Land "dann wohl Geschichte" sein.

Indes räumt Käufer ein, dass "die Polizei und deren Handlanger" hauptverantwortlich für die Gewalt seien. Und er erinnert daran, "dass Duque zum zweiten Mal nach den ersten Massenprotesten 2019 die Gewalt gegen Demonstranten mindestens toleriert" und "den Riss in weiten Teilen der Bevölkerung vertieft" habe.