Bolivien / Politik

Bolivien: Trotz Protesten geht Verfahren gegen frühere De-facto-Präsidentin voran

Anklagen gegen Putsch-Verantwortliche erweitert. Áñez klagt über widrige Haftbedingungen. Proteste in Beni und Santa Cruz

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"Es gab keinen Putsch, es gab Wahlbetrug": Demonstration von Áñez-Sympathisanten im Departamento Beni
"Es gab keinen Putsch, es gab Wahlbetrug": Demonstration von Áñez-Sympathisanten im Departamento Beni

La Paz/Santa Cruz. Die inhaftierte Ex-Präsidentin Jeanine Áñez hat sich mit einem Brief aus dem Gefängnis in La Paz an die Öffentlichkeit gewandt. Darin bezeichnet sie die aktuelle Regierung der Bewegung zum Sozialismus (MAS) als "Diktatur" und wirft ihr Machtmissbrauch und politische Verfolgung vor. Trotz Protesten und Streikdrohungen im Tiefland gegen die Inhaftierung hält die Staatsanwaltschaft am Verfahren gegen ehemalige Mitglieder der De-facto-Interimsregierung (2019-2020) fest.

Der siebenseitige, handschriftliche Brief wurde auf ihrem Twitter-Account veröffentlicht. Darin ist u.a. zu lesen, dass ihren Familienangehörigen der Zutritt zu ihrem Haus verwehrt wurde, um Kleidung und Medikamente zu holen. Außerdem verlangt sie eine unabhängige medizinische Untersuchung. "Sie haben mir meine Freiheit geraubt, nun verletzen sie meine Gesundheit", schreibt Áñez.

Am vergangenen Freitag hatte ein zuständiger Richter die mögliche Verlegung der Inhaftierten in eine Privatklinik angeordnet, sofern ihr Gesundheitszustand dies erfordere. Stattdessen wurde sie in eine andere Haftanstalt verlegt, die eine adäquate Behandlung ermöglicht. Zuständige Mediziner versichern, dass ihr Zustand stabil sei und sie medikamentös gegen Bluthochdruck behandelt werde. Eine ordnungsgemäße medizinische Betreuung sei gesichert, betonte der Nationaldirektor für Strafvollzug, Juan Carlos Limpias.

Vor mehr als einer Woche wurden Áñez und die ehemaligen Minister für Justiz und Energie der De-facto-Regierung in Untersuchungshaft genommen. Im "Staatsstreich"-Verfahren werden ihnen Verbrechen der Verschwörung, Aufwiegelung und Terrorismus zur Last gelegt. Die Justiz begründete die sechsmonatige Inhaftierung mit der Fluchtgefahr und der möglichen Behinderung der Ermittlungen. Gegen die beiden ehemaligen Minister für Inneres und Verteidigung, Arturo Murillo und Luis Fernando López, wurden ebenfalls Haftbefehle erlassen. Sie hatten sich direkt nach dem Wahlsieg der MAS im Oktober 2020 in die USA abgesetzt. Auch mehrere Befehlshaber der Streitkräfte und der Polizei sind in Haft.

Neben den aktuellen Vorwürfen sollen alle Beschuldigten u.a. auch wegen Massakern an protestierenden Zivilisten zur Verantwortung gezogen werden, bei denen insgesamt 36 Menschen ums Leben kamen.

Des Weiteren könnte in dem Verfahren der kürzlich gewählte Gouverneur von Santa Cruz, Luis Fernando Camacho, der Beteilung am Putsch beschuldigt werden.

Während die Europäische Union und die USA ihre "Besorgnis" zu den Verfahren äußerten, begrüßen der mexikanische Präsident, Andrés Manuel López Obrador, und die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch die Aufnahme des Gerichtsverfahrens.

Indes gab die Staatsanwaltschaft weiteren Anklagepunkten gegen Áñez statt, die vom Justizministerium eingereicht wurden. Dabei handelt es sich um Vergehen während ihrer Amtszeit, darunter Verfassungsbruch, ökonomischer Schaden, Amtsverletzung und Verstoß gegen die Pressefreiheit.

Justizminister Iván Lima offenbarte in einem Radio-Gespräch, dass sich seine Regierung für die juristische Verfolgung entschieden habe, anstatt die Verantwortung der ehemaligen Regierung im Parlament zu verhandeln. Er begründete die Entscheidung damit, dass die MAS nicht über die notwendige Zweidrittelmehrheit verfüge und der Vorschlag von der Opposition abgeschmettert werden würde. Aufgrund der Schwere der Vergehen der ehemaligen De-facto-Regierung sei dies keine Option gewesen.

Áñez beteuert weiterhin ihre Unschuld: "Ich war niemals eine Terroristin. Ich übernahm die Präsidentschaft nach verfassungsgemäßer Nachfolge, um Bolivien zu befrieden. Es war kein Putsch, aber es gab Wahlbetrug." Rückhalt erhält sie von den Bürgerkomitees aus ihrem Heimatdepartamento Beni und Santa Cruz. Nach einer öffentlichen Versammlung in Trinidad am vergangenen Montag lud der Präsident des Bürgerkomitees von Santa Cruz, Rómulo Calvo, die amtierende Regierung zu einem "Friedensgipfel" ein. Er hoffe auf eine positive Antwort, "um Zusammenstöße des bolivianischen Volkes zu vermeiden und diese Strafverfolgung zu verhindern, ebenso wie den andauernden Machtmissbrauch der alten Cliquen, die weiterhin den bolivianischen Staat steuern".

Für Schlagzeilen sorgte in Bolivien am Wochenende ein in mehreren Medien veröffentlichtes Foto vom 12. November 2019. Darauf ist Áñez, damals Vizepräsidentin des Senats, mit dem Generalsekretär der Bischofskonferenz, Aurelio Pesoa, dem Bischof von El Alto, Giovani Arana, und EU-Botschafter León de la Torre zu sehen. Aufgenommen wurde es knapp eine Stunde bevor Áñez vor das fast leere Plenum der Abgeordnetenkammer trat, um sich ohne Quorum und ohne Wahl zur Staatspräsidentin zu erklären (amerika21 berichtete).

Das Bild wurde publik gemacht, nachdem der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Ricardo Centellas, scharfe Kritik an den Festnahmen von Áñez und weiteren Putsch-Beschuldigten geübt hatte. Es habe sich nicht um einen Staatsstreich gehandelt. Áñez habe das Präsidentenamt im Rahmen der "Tage der Befriedung", die von der Kirchenhierarchie für den 11. und 12. November 2019 ausgerufen worden waren, und "im Konsens mit Vertretern aller politischen Parteien im Parlament" übernommen, sagte Centellas. Er bestätigte, dass Vertreter der Bischofskonferenz, der EU und der spanischen Botschaft, "angesichts des Machtvakuums nach dem Rücktritt von Evo Morales" als "Vermittler" auftraten.