Bolivien / Politik

De-facto-Präsidentin in Bolivien zieht Kandidatur zurück

Áñez begründet Schritt mit der Absicht, Front gegen linke MAS zu bilden. Konkurrenten und Experten sehen Grund in ihrer zu erwartenden Chancenlosigkeit

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"Es ist kein Opfer, es ist eine Ehre", erklärte Áñez zum Rückzug ihrer Kandidatur
"Es ist kein Opfer, es ist eine Ehre", erklärte Áñez zum Rückzug ihrer Kandidatur

La Paz. Die Präsidentin der De-facto-Regierung in Bolivien, Jeanine Áñez, hat einen Monat vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen ihre Kandidatur für die Alianza Juntos (Allianz Gemeinsam) zurückgezogen. Mit diesem Schritt wolle sie verhindern, dass die Bewegung zum Sozialismus (Movimiento al Socialismo,MAS) und der ehemalige Präsident Evo Morales an die Macht zurückkehrten, erklärte sie. Den Aufruf zur Einheit gegen die MAS lehnen führende Oppositionskandidaten ab und halten an ihren Kandidaturen fest.

Zu Beginn des Jahres hatte Áñez sich entschieden, gemeinsam mit dem Unternehmer Samuel Doria Medina für das höchste Staatsamt zu kandidieren. Damals begründete sie ihre Entscheidung mit der "breit verteilten Stimmenabgabe" und der "Unfähigkeit der Kandidaten, die Gesamtheit der Bolivianer zu vereinen". Genau aus demselben Grund gab sie nun am Donnerstag in einem Video bekannt, sich nicht zur Wahl zu stellen, denn "angesichts des Risikos der Aufspaltung der demokratischen Stimmen zwischen verschiedenen Kandidaten" sei ein Wahlsieg der MAS möglich. "Ich tue es für die Einheit derjenigen, die die Demokratie lieben. Ich tue es für den Sieg derjenigen, die die Diktatur ablehnen", betonte sie. "Wenn wir uns nicht vereinen, kehrt Morales zurück", so ihr Appell an die Oppositionskandidaten zur MAS. Ihr Vizepräsidentschaftskandidat Doria Medina schloss sich der Entscheidung an.

Zahlreiche Stimmen interpretieren den Rückzug von Áñez aufgrund der sinkenden Umfragewerte und dem Scheitern ihrer Politik. "Der große Fehler der Alianza Juntos begann in dem Moment, als sie die Pandemie zur Verlängerung der Interimszeit als Präsidentin ausnutzte. Damit ruinierte sie die Wirtschaft des Landes und enttäuschte das bolivianische Volk, was sich in den Umfragen zeigt", so Félix Patzi, Gouverneur des Departamentos von La Paz.

Laut der letzten repräsentativen Wahlumfrage mit Daten aus der ersten Septemberwoche bekunden nur 10,6 Prozent der Wählerschaft ihre Stimmabgabe zugunsten von Áñez. Sie läge damit auf Platz vier hinter dem MAS-Kandidaten Luis Arce mit 40,3 Prozent, Carlos Mesa von der Bürgergemeinschaft (Comunidad Ciudadana) mit 26,2 Prozent und Luis Fernando Camacho von Wir glauben (Creemos) mit 14,4 Prozent.

Den Umfragewerten zufolge rückt ein Wahlsieg der MAS in der ersten Runde in greifbare Nähe. Jedoch gaben fast 30 Prozent der Befragten an, noch unentschlossen zu sein, ungültig wählen oder sich enthalten zu wollen. Demnach besteht nach wie vor ein Faktor großer Ungewissheit über den Ausgang der Wahlen.

Die beiden wichtigsten Kontrahenten zur MAS im Rennen um das Präsidentschaftsamt haben sich bisher nicht dem Aufruf von Áñez angeschlossen, sondern halten an ihren Kandidaturen fest.

Lediglich der weit abgeschlagene Chi Hyun Chung von der Front für den Sieg (Frente Para la Victoria) begrüßte die Entscheidung der Interimspräsidentin und forderte auch Camacho auf, sich der Front gegen die MAS anzuschließen und ebenfalls seine Kandidatur zurückzuziehen. Camacho hingegen erteilte Áñez eine Absage und kritisierte sie scharf: "Es handelt sich nicht um eine Lösung, es ist eine Niederlage. Ihre Kandidatur ist zusammengestürzt, weil sie aufgegeben hat, niederkniet und mit der MAS paktiert."

Mesa hingegen reagierte auf den Rückzug von Áñez verhaltener: "Ich schätze die Entscheidung der Präsidentin als einen Beitrag zur Demokratie. Wir sind immer dialogbereit." Auf einer Pressekonferenz am vergangenen Freitag in Santa Cruz stellte er klar, dass es mit Áñez weder "direkte oder indirekte Verhandlungen, noch Kontakte jedweder Art gab". Gemeinsam mit seinem Vize Gustavo Pedraza schloss er aus, Allianzen mit anderen politischen Kräften zu suchen. Wer sich jedoch ihrem Projekt anschließen wolle, könne dies gerne tun. "Die Comunidad Ciudadana ist die einzige mögliche Option, die MAS zu besiegen", bekräftigte Pedraza.

Die MAS äußerte sich kaum zum Schritt von Áñez und gab sich wenig überrascht. Orlando Zurita, Vizepräsident der MAS in Cochabamba, sagte: "Das ist eine abgesprochene Mega-Koalition, die sie schon immer praktiziert haben. Das war jederzeit zu erwarten."

Der Präsident des Obersten Wahlgerichts, Salvador Romero, nahm auf einer Pressekonferenz am Freitag die Stellungnahme der Präsidentin der De-facto-Regierung zur Kenntnis und erwartet nun die amtliche Bestätigung der Niederlegung ihrer Kandidatur. Eine Änderung der Wahlzettel sei allerdings nicht mehr möglich, da diese sich bereits im Druck befänden.

Unterdessen sind die Wahlvorbereitungen im vollen Gange. Experten der Wahlbeobachtermission der Europäischen Union haben sich zum ersten Mal mit Funktionären des Obersten Wahlgerichts getroffen und Informationen ausgetauscht. Darüber hinaus werden internationale Delegationen der Organisation Amerikanischer Staaten, dem Carter Center und der Interamerikanischen Union der Wahlbehörden erwartet.