Repression gegen Landnahme in Metropolen in Kolumbien

Gewaltsame Vertreibungen in den Armenvierteln der Großstädte inmitten des sozialen und ökonomischen Ausnahmezustands aufgrund der Covid-19-Pandemie

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Eine Familie sitzt vor ihrer zerstörten Hütte in Siloé
Eine Familie sitzt vor ihrer zerstörten Hütte in Siloé

Bogotá/Cali. In einem der ärmsten Viertel von Cali, der drittgrößten Stadt Kolumbiens, besetzen derzeit über 70 Familien eine Brachfläche. Die Menschen fordern eine würdige Wohnmöglichkeit.

"Besonders jetzt, in Zeiten des Coronavirus, ist die Enge in den prekären Vierteln nicht auszuhalten", erklärt eine der Besetzerinnen am Montag gegenüber amerika21. Am Sonntag waren die Familien auf das besetzte Gelände im Viertel Siloé zurückgekehrt, nachdem die Aufstandsbekämpfungseinheit der Polizei (Esmad) es am Samstag gewaltsam geräumt hatte.

Vor vier Wochen hatten die Familien auf einem Brachgelände ihre Behausungen errichtet. Diese wurden bei dem Polizeieinsatz am Wochenende vollkommen zerstört und teils niedergebrannt.

Um vier Uhr morgens begann der Einsatz der Esmad, der die meisten Bewohner im Schlaf überraschte. Als sie sich weigerten, ihre Behausungen zu verlassen, trieb die Polizei die Menschen mittels Gasgranaten und Gummigeschossen auseinander. Dabei gab es mehrere Verletzte, darunter Minderjährige.

Mariluz Benavides, führende Aktivistin der Landnahme, erklärt gegenüber amerika21: "Ich habe versucht mit der Esmad zu sprechen und zu deeskalieren, weil Kinder und schwangere Frauen unter den Familien sind. Aber keine Chance. Sogar die Polizisten, die sich auf dem Gelände befanden, um mit uns zu verhandeln, bekamen kaum Luft während des Gasbeschusses." Gegen 16.30 Uhr zog sich die Esmad aus dem Viertel zurück.

Die Stadtverwaltung hat das Grundstück vor 18 Jahren erworben, um Sozialwohnungen zu bauen. Dies ist bis heute nicht geschehen. Das Brachgelände wurde seitdem als Schutt- und Müllhalde genutzt. "Eine Seuchengefahr für die Bewohner des Viertels", wie Benavides sagt. Trotz mehrmaliger Anzeige des Missstandes passierte nichts. "Deshalb haben wir nun beschlossen, unsere eigenen Sozialwohnungen zu schaffen", zeigt sich Benavides entschlossen. "Wir können unsere Miete wegen der Ausgangssperre nicht mehr zahlen und brauchen ein Dach über dem Kopf."

David Gómez, Aktivist aus dem Viertel, berichtet gegenüber amerika21, dass "Siloé von der Stadt vollkommen vernachlässigt ist. Die extreme Wohnungsnot führt dazu, dass Menschen auf engstem Raum leben". Außerdem lebe die Mehrheit der Bewohner von informeller Arbeit und leide besonders unter der Ausgangssperre, die seit dem 25. März von Präsident Iván Duque verhängt wurde und seitdem ständig verlängert werde – zurzeit bis zum 31. Mai. "Insofern ist es umso gravierender, dass die Menschen vertrieben werden und ihr wenig Hab und Gut zerstört wird", so Gómez weiter.

In den großen Städten Kolumbiens leben mehr als 50 Prozent der Menschen von informeller Arbeit. Dieser Sektor ist aufgrund der Ausgangssperre zum Erliegen gekommen. Millionen Menschen haben kein Einkommen, haben bereits ihr Zuhause verloren oder stehen kurz davor, obdachlos zu werden.

Noch am 5. Mai hatten die Bewohner mit einer Vertreterin des Sekretariats für Menschenrechte und Frieden verhandelt. Räumungswarnungen hätten sie zu keinem Zeitpunkt erhalten. Tatsächlich existierte keine offizielle Anordnung zur Räumung, sodass die Esmad mit ihrem Vorgehen gegen grundlegende Menschenrechte verstieß. Menschenrechtsorganisationen wendeten sich noch am selben Tag mit einem Hilferuf an die Vereinten Nationen und die Organisation Amerikanischer Staaten und forderten von der Stadtverwaltung humanitäre Unterstützung der vertriebenen Familien sowie eine Verhandlungslösung.

Der Sicherheitssekretär der Stadt, Carlos Rojas, rechtfertigte den Einsatz: "Die Lokalverwaltung hatte mit den Familien gesprochen und vereinbart, dass sie das Gelände verlassen. Dies haben sie nicht getan." Seine Institution verhindere, dass an den Hängen der Stadt illegale Ansiedlungen entstünden. Die Sekretärin für Wohnungswesen, Martha Hernández, behauptete: "Wir haben keine Familien vertrieben, es gab keinen Bau von Unterkünften, es wurden keine Werkzeuge gefunden, nur Personen, die sich das Gelände aneignen wollten."

Am Montag konnte durch die Anwesenheit von Funktionären der Stadt und Menschenrechtsorganisationen ein weiterer Einsatz der Esmad verhindert werden, die sich bereits einige hundert Meter oberhalb des Terrains in Einsatzbereitschaft befand.

Vor zwei Wochen ereignete sich in der Hauptstadt Bogotá eine ähnliche Situation. Im Süden der Metropole, im Sektor Altos de la Estancia im Stadtteil Ciudad Bolívar, vertrieben Polizei und Esmad mit Gewalt 300 Familien von ihren Niederlassungen. Die Aktion wurde von der Stadtverwaltung damit begründet, Menschenleben zu retten, weil sich die Hütten auf erdrutschgefährdetem Terrain befinden. Diese seit Jahrzehnten existierende Ansiedlung sollte mit demselben Argument schon vor Jahren umgesiedelt werden. Das Angebot der Stadtverwaltung, die Familien in temporäre Lager zu bringen, hatten diese mit dem Argument des erhöhten Ansteckungsrisikos mit Covid-19 abgelehnt.