Argentinien plant Gesetz zur Förderung selbstverwalteter Betriebe

Abgeordnete des Regierungsbündnisses und linker Parteien legen Kongress Entwurf zur gesetzlichen Regelung von Betriebsenteignungen vor

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Belegschaften unterstützen den Gesetzentwurf zur Übergabe von Unternehmen an die Arbeiterinnen und Arbeiter
Belegschaften unterstützen den Gesetzentwurf zur Übergabe von Unternehmen an die Arbeiterinnen und Arbeiter

Buenos Aires. Der argentinische Kongress will über einen Gesetzesentwurf zur Enteignung von Betrieben zugunsten ihrer Arbeiter und Angestellten entscheiden. Ein entsprechender von der Nationalen Bewegung rückangeeigneter Unternehmen (Movimiento Nacional de Empresas Recuperadas, MNER) ausgearbeiteter Antrag wurde Mitte April in das Parlament eingebracht.

Der Entwurf eines "Gesetzes zur Rückaneignung produktiver Einheiten" sieht vor, dass Unternehmen, die sich in Zahlungsausfall befinden, deren Betriebsstätten geschlossen oder von ihren Eigentümern verlassen worden sind, die im Prozess der Liquidation oder aus sonstigen Gründen vor der Schließung stehen, enteignet und ihren Arbeiterinnen und Arbeitern überantwortet werden können. Sollte das Gesetz beschlossen werden, könnte der Staat künftig im Fall einer bevorstehenden Unternehmensschließung die Fortsetzung des Betriebs durch dessen kooperativ organisierte Beschäftigte ermöglichen.

Der Antrag wurde von dem Abgeordneten Leonardo Grosso vom Regierungsbündnis Front eines Jeden (Frente de Todos) eingebracht und von sechs weiteren Abgeordneten aus dem regierungsnahen bzw. linken Lager unterstützt. Gisela Bustos, Referentin des MNER, sagte dazu in einem Radiointerview, ein entsprechendes Gesetz würde die rund zwanzigjährige Erfahrung der Selbstorganisation der Arbeiterschaft in Argentinien erstmals rechtlich anerkennen und deren soziale Funktion für die jeweiligen Gemeinden und Stadtviertel würdigen. Es gehe nicht um die private Aneignung der Immobilien und Maschinen durch die Arbeiter, sondern um deren Nutzung und den Erhalt der Arbeitsplätze.

Der Gesetzestext erklärt die Aneignung von Unternehmen durch ihre Arbeiter und Arbeiterinnen zum Zweck der Betriebsfortführung zu einem gesellschaftlichen Gut. Deshalb sollen Entschädigungszahlungen an die Eigentümer oder deren Gläubiger künftig über einen aus dem Staatshaushalt bestückten Treuhandfonds erfolgen. Bei Enteignungen im Fall einer Insolvenz wird die Höhe der Entschädigung im Einvernehmen mit dem jeweiligen Konkursrichter ermittelt. Bei fehlender Einigung wird der Ausrufungspreis im Fall einer Versteigerung als Richtwert angenommen. Der Gesetzestext gibt jedoch keine Auskunft darüber, in welcher Höhe Entschädigungen direkt an Eigentümer vorgesehen sind, deren Betriebe sich in keinem Insolvenzverfahren befinden.

Der Staat stellt den Arbeiterinnen und Arbeitern die enteigneten Immobilien und Einrichtungen kostenlos zur Nutzung unter der Bedingung zur Verfügung, dass Teile davon für soziale, kulturelle und pädagogische Aktivitäten überlassen werden. Die Nutzungsvereinbarung gilt so lange, wie der soziale Zweck weiterbesteht und die genannten Bedingungen erfüllt werden. Zugleich verpflichten sich die Betriebe dazu, zumindest 50 Prozent ihrer Einkäufe über andere selbstverwaltete Betriebe zu beziehen, um so den Sektor als ganzen zu fördern.

Die selbstorganisierten Betriebe können sich in einem noch zu gründenden Nationalen Register rückangeeigneter Unternehmen eintragen lassen. Dadurch erhalten sie privilegierten Zugang zu bestimmten staatlichen Unterstützungsleistungen wie etwa technischer und rechtlicher Beratung, zu Vorteilen bei der Besteuerung, Abgaben und Energietarifen, Zugang zu Krediten und technologischen Entwicklungsprogrammen oder zu Hilfe bei Exportgeschäften. Zudem werden die Betriebe aus dem Register bei staatlichen Aufträgen bevorzugt behandelt.

Die Abgeordneten weisen darauf hin, dass der Gesetzesantrag Forderungen folgt, die zwar schon seit vielen Jahren vorgebracht werden, die aber in der derzeitigen von der Covid-19-Pandemie ausgelösten bzw. verschärften Krise besondere Dringlichkeit und Relevanz erhalten.

Die jüngeren Wurzeln der Bewegung zur Rückaneignung von Unternehmen und der Arbeiterselbstverwaltung in Argentinien gehen auf die Staatskrise von 2001 zurück. Seither wurden zahlreiche in die Krise geratene Betriebe ökonomisch erfolgreich von ihrer Belegschaft weitergeführt. Gegenwärtig existieren landesweit mehr als 400 selbstverwaltete Betriebe, welche rund 18.000 Arbeiterinnen und Arbeiter beschäftigen. 2019 erhielten sie mit der Nationalen Direktion rückangeeigneter Betriebe im Ministerium für Soziale Entwicklung erstmals eine behördliche Repräsentation innerhalb des Staatsapparats.