Genf. David Boyd, UN-Sonderberichterstatter für Menschenrechte und Umwelt, diagnostiziert eine aktuelle globale Umweltkrise. Angesichts dessen sei es "unvernünftig, unverantwortlich und gefährlich", dass manche Länder die Covid-19-Pandemie als Vorwand nutzten, um ihre Umweltschutzpolitik zu lockern. Einige Regierungen hatten angekündigt, die Umweltüberwachung auszusetzen, ihre Anforderungen und die Durchsetzung von Umweltstandards zu reduzieren sowie die Öffentlichkeitsbeteiligung einzuschränken.
So kündigte Brasiliens Umweltbehörde an, ihre Durchsetzungspflichten einzuschränken, darunter der Schutz des Amazonasgebiets vor beschleunigter Abholzung, die riesige Mengen von Treibhausgasen freisetzt.
Die US-Umweltbehörde erklärte nach einer Petition der mächtigen Erdöllobby, Unternehmen nicht zu bestrafen, die bundesstaatliche Überwachungs- oder Berichterstattungsanforderungen nicht einhalten, wenn sie dies der Pandemie zuschreiben könnten. Des Weiteren nahm sie Fahrzeug-Emissionsvorschriften zurück, die eigentlich zentral zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen in den USA waren.
Auch die Europäische Union ist unter Druck: So drängten die drei kohleabhängigen Staaten Polen, Ungarn und die Tschechische Republik darauf, den sogenannten Green Deal und die EU-Klimaziele (Netto-Null-Emissionen bis 2050) aufzugeben. Zugleich drängen die Fluggesellschaften die Regulierungsbehörden dazu, geplante Maßnahmen zur Emissionssenkung zu verschieben. China hat die Fristen für Unternehmen zur Erfüllung von Umweltstandards verlängert und eine Auktion für die Baurechte mehrerer Solarparks verschoben.
UN-Experte Boyd warnte davor, dass solche politischen Fehlentscheidungen zu beschleunigter Umweltzerstörung führten. Drei Viertel der neu auftretenden Infektionskrankheiten, darunter das Ebolafieber, SARS, MERS-CoV und jetzt Covid-19, seien "Zoonosen", das heißt, sie werden von wilden oder domestizierten Tieren auf den Menschen übertragen, was durch die fortschreitende Zerstörung natürlicher Lebensräume gefördert werde. Dies habe auch unmittelbar negative Auswirkungen auf Menschenrechte wie das Recht auf Leben, auf Gesundheit, Wasser, Kultur und Nahrung sowie das Recht, in einer gesunden Umwelt zu leben. So seien etwa Menschen, die in Gebieten mit höherer Luftverschmutzung lebten, wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge einem höheren Risiko ausgesetzt, an der Lungenkrankheit Covid-19 zu sterben. Auch führe fehlender Zugang zu sauberem Wasser dazu, dass sich mehr Menschen ansteckten und das Virus verbreiteten.
"Wissenschaftler warnen uns, dass Entwaldung, industrielle Landwirtschaft, illegaler Handel mit Wildtieren, Klimawandel und andere Arten der Umweltzerstörung das Risiko künftiger Pandemien und damit auch die Wahrscheinlichkeit schwerer Menschenrechtsverletzungen erhöhen", betonte er.
"Kurzsichtige" Entscheidungen zur Schwächung von Umweltvorschriften würden die Situation nur noch verschlimmern, urteilt der UN-Experte. Eine der Lehren, die aus der Corona-Pandemie gezogen werden sollte, bestehe im Erhalt einer sicheren, sauberen, gesunden und nachhaltigen Umwelt. Die Regierungen müssten ihre Anstrengungen zur Erreichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung bis 2030 beschleunigen, denn eine gesunde Umwelt sei ein wirksames Mittel, um Pandemien zu verhindern und die Menschenrechte zu schützen.
Auch Fazlun Khalid, Gründer und Direktor der Islamischen Stiftung für Ökologie und Umweltwissenschaften in Birmingham, warnte nachdrücklich: Wenn es der EU nicht gelinge, jetzt ihre wirtschaftlichen Prioritäten hin zu nachhaltigeren Produktions- und Konsummustern zu verändern, ließe sich nicht nur die nächste Pandemie, sondern auch eine beispiellose Klimakatastrophe nicht vermeiden.
Khalid nannte insbesondere die Landwirtschaft als zweitgrößte Triebkraft des Klimawandels, was auf den massiven Einsatz fossiler Brennstoffe für Pestizide, Düngemittel, Verpackung und Handel zurückzuführen sei. Die EU solle mehr in die Verbreitung agrarökologischer Innovationen investieren, um die benötigten Nahrungsmittel mit viel weniger Energie und Wasser zu produzieren, die Produktion näher an die Verbraucher heranzuführen und neue Möglichkeiten für Arbeitsplätze und Ausbildung zu eröffnen.