Wieder Toter bei Protesten in Chile – Präsident leugnet systematische Menschenrechtsverletzungen

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Demonstration Chile 27. Toter
Polizei geht mit Wasserwerfern und Tränengas gegen Gedenken an getöteten Demonstranten vor

Santiago. Bei einer Demonstration im Zentrum der chilenischen Hauptstadt Santiago ist am vergangenen Freitag erneut ein Demonstrant ums Leben gekommen. Bei dem Verstorbenen handele es sich um den 40-jährigen Maurico Fredes, der auf der Flucht vor Polizisten in einen Graben mit Stromkabeln stürzte und einen tödlichen elektrischen Schlag erlitt. Die Zahl der Todesopfer seit Beginn der Proteste ist somit auf 27 angestiegen.

Am Tag danach versammelten sich spontan Menschen am Ort des Unglücks, um Fredes zu gedenken und Blumen niederzulegen. Die Polizei ging mit Wasserwerfern und Tränengas gegen die Versammlung vor und entfernte Blumen und andere Zeichen des Gedenkens.

Bei der inzwischen wöchentlichen Demonstration immer freitags ging diesmal das Kulturkino Cine Arte Alameda in Flammen auf, das in der Vergangenheit als Erste-Hilfe-Station für Protestierende funktioniert hatte. Trotz des Einsatzes vieler Freiwilliger und der Feuerwehr brannte das Kino komplett aus. Die Brandursache konnte noch nicht abschließend geklärt werden, aber die Vermutung kursiert, dass eine Tränengasgranate der Polizei für das Feuer verantwortlich sei. Augenzeugen berichten davon, dass die Löscharbeiten der Freiwilligen durch Tränengas behindert wurden.

Am Samstag wurde bekannt, dass ein Gericht in der Hauptstadt Untersuchungshaft gegen sechs Polizeibeamte angeordnet hat. Sie würden ein Sicherheitsrisiko für die Gesellschaft darstellen, hieß es in der Begründung der Richter. Den Polizisten wird Folter und sexueller Missbrauch vorgeworfen. Während des Ausnahmezustands am 21. Oktober sollen sie den Medizinstudenten Josué Maureira im Kommissariat mehrmals bewusstlos geschlagen sowie sich über seine sexuelle Orientierung lustig gemacht haben. Der Misshandelte erlitt einen Nasenbeinbruch. Abschließend hätte einer der Beamten ihm seinen Schlagstock rektal eingeführt, berichtete Maureira vor Gericht. Ein weiterer Richter erließ am vergangenen Donnerstag ebenfalls Haftbefehl gegen fünf Polizisten, denen Folter eines Demonstranten auf der Plaza Ñuñoa in Santiago vorgeworfen wird.

Vielen Berichten von Menschenrechtsorganisationen, Gerichtsbeschlüssen und zahlreichen eindrücklichen Videos zum Trotz erneuerte Präsident Sebastián Piñera seine Ansicht, es gebe in Chile keine systematische Verletzung der Menschenrechte. In einem am Mittwoch in sozialen Medien viral verbreitetem Interview mit dem Fernsehsender CNN en español sagte Piñera, dass viele der Videos gefälscht seien oder aus dem Ausland stammen würden. "Wir haben es hier mit einer Desinformationskampagne zu tun, der nur sehr schwer entgegengewirkt werden kann, weil die Nachrichtenkanäle nur begrenzt in der Lage waren, die Wahrheit herauszufinden", so der Präsident.

Die Regierungssprecherin Karla Rubilar relativierte tags darauf die Aussagen Piñeras. Das Interview sei bereits vor mehreren Wochen aufgenommen worden. Darin habe der Präsident von einigen fake news gesprochen, da teilweise Videos aus den Jahren 2011 oder 2015 verbreitet worden seien. Man sei sich aber bewusst, dass die Mehrzahl der Videos, die Polizeigewalt zeigen, aus den vergangenen Monaten stammen. "Ich habe vier oder fünf Videos gesehen, die aus anderen Ländern stammen, die aus anderen Kontexten sind und die danach aussehen, als ob sie aus dem Ausland stammen. Das gibt es und haben wir in den sozialen Netzwerken gesehen", so Rubilar gegenüber dem Radiosender BíoBío.

Der Generalstaatsanwalt Jorge Abbott hingegen widersprach der Ansicht des Präsidenten. Die bislang analysierten Videos seien zweifellos in Chile gefilmt worden. Abbot ist in letzter Instanz für die Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und Militär verantwortlich.

Dennoch wiederholte Piñera in einem am Sonntag von der Zeitung La Tercera veröffentlichten Interview seine Ansicht, bei den Verletzungen der Menschenrechte handele es sich nur um "einzelne Fälle". Darüber hinaus zeigte sich der Präsident optimistisch, dass der schlimmste Teil der Krise bereits überwunden sei. Nun gehe es darum, Lehren aus dem Geschehenen zu ziehen um ein besserer Land für alle aufzubauen.

Angesichts der anhaltenden Demonstrationen und der Uneinsichtigkeit der Regierung scheint diese Einschätzung sehr fragwürdig.