Politjustiz in Argentinien: Anklage gegen Kirchner fällt in sich zusammen

Prozess gegen designierte Vize-Präsidentin offensichtlich konstruiert. Richter versuchte, Verbreitung der Verteidigungsrede zu verhindern

Buenos Aires. In Argentinien ist die Ex-Präsidentin und neu gewählte Vize-Präsidentin Cristina Kirchner vor Gericht erschienen, um ihre Aussage im Prozess um vermeintliche Korruption bei der Vergabe öffentlicher Aufträge in der Provinz Santa Cruz zu machen.

Laut Anklage soll sie Chefin einer illegalen Vereinigung gewesen sein. Ihr verstorbener Ehemann, Präsident Nestor Kirchner, soll angeblich Komplizen in staatlichen Strukturen platziert haben, die dafür sorgten, dass Gelder für öffentliche Aufträge in der Heimatprovinz des Politikerpaares bereitgestellt wurden. Diese Gelder sollen dann an befreundete Unternehmer gegangen sein. Frau Kirchner habe diese Struktur nach ihrer Wahl zur Präsidentin übernommen und weitergeführt.

Im Mai wurde nach fast drei Jahren Untersuchungen der mündliche und öffentliche Teil des Prozesses eröffnet. Der zuständige Staatsanwalt Diego Luciani las fünf Tage lang die Anklage vor, live im Fernsehen übertragen. Die Anwälte Frau Kirchners forderten im Gegenzug, dass Ihre Aussage nun ebenfalls übertragen werden sollte. Von den Richtern wurde dieses Anliegen jedoch zurückgewiesen. Journalisten, die versuchten, die Anhörung trotzdem zu übertragen, wurden des Gerichtssaals verwiesen. Eine von den Anwälten erstellte Aufzeichnung wurde jedoch über soziale Netzwerke verbreitet.

Kirchners Verteidigung gliederte sich in zwei Teilen: Sie stellte zuerst den politischen Kontext der Verfolgungen (Lawfare) dar, dem sie und Mitglieder ihrer Regierung in den letzten Jahren ausgesetzt gewesen seien.

So sprach sie über die "Mesa Judicial," ein inoffizielles Gremium in dem der scheidende Präsident Mauricio Macri, andere hohe Regierungsmitglieder, der Geheimdienstchef und sogar der Chef vom Fussballclub Boca Juniors – ein enger Vertrauter Macris – darüber entschieden haben sollen, gegen wen Prozesse eingeleitet und wer verhaftet werden soll. Das Gremium habe Druck auf Richter und Staatsanwälte ausgeübt und die Kampagnen mit regierungsnahen Medien koordiniert. Dazu gehörte die gezielte Streuung von illegalen Abhörprotokollen: Kirchner beklagte, dass ihre privaten Telefongespräche mehrmals in den Medien verbreitet wurden, ohne dass die Justiz etwas dagegen unternahm.

Sie wies auch darauf hin, dass Macri per Dekret ein Gesetz geändert hat, um Laura Alonso an der Spitze der Antikorruptionsbehörde zu platzieren, obwohl sie nicht die notwendigen Bedingungen erfüllte. Kritisch kommentierte Kirchner auch die Ernennung von Mariano de Federici zum Vorsitzenden der Antikorruptionsbehörde UIF (Unidad de Información Financiera). De Federici ist ein Manager der HSBC-Bank, gegen die unter der Regierung Kirchners eine Untersuchung wegen Geldwäsche lief. Nach dem Regierungswechsel wurde das Verfahren eingestellt, obwohl die US-Justiz gegen das Bankhaus aus demselben Grund eine immense Strafe verhänge.

Im zweiten Teil ging sie auf den Prozess und dessen offenkundigen Schwächen und Unregelmäßigkeiten ein. Angefangen damit, dass – wie bei fast allen Anklagen gegen sie – stets einer von zwei Untersuchungsrichtern ausgewählt wurde: Claudio Bonadío oder, in diesem Fall, Julian Ercolini.

Die Anschuldigungen seien bisher auch überhaupt nicht substantiiert worden: Staatssekretär Javier Iguacel ließ 2016 eine Untersuchung der öffentlichen Aufträge in Santa Cruz erstellen, auf deren Grundlage er Anzeige erstattete. Nur ergab diese Untersuchung keine Unregelmäßigkeiten: Die beauftragten Bauwerke waren errichtet worden, die Preise waren marktüblich und es gab keine unbegründeten Nachträge.

Ein von den Richtern beauftragtes Gutachten lag zur Prozesseröffnung überhaupt nicht vor. Um "Zeit zu sparen", sollten ohnehin nur noch fünf von 51 Aufträgen untersucht werden. Die von den Anwälten Kirchners beantragten umfangreicheren Auswertungen wurden verweigert. Eine Beschwerde vor dem Obersten Gerichtshof aus diesem Grunde ist noch anhängig.

Die von der Anklage beschriebene angebliche kriminelle Struktur könne laut Frau Kirchner auch gar nicht funktionieren: Die vom Staat budgetierten und vom Parlament abgestimmten Beträge gingen an die Provinzen. Diese führten die Ausschreibungen selbständig durch. Zwingend notwendige Zwischenglieder einer solchen Struktur wären die jeweils amtierenden Regierungsminister gewesen, die jedoch weder angeklagt oder gar befragt wurden. Das für die Provinz Santa Cruz zugewiesen Budget sei Größe und Anforderungen der Provinz angemessen, und die Abgeordneten hätten im Parlament darüber abgestimmt und es bewilligt.

Es sei auch ein wesentlicher Rechtsgrundsatz verletzt worden: "Ne bis in Idem", keine zwei Verhandlungen in derselben Sache. Bereits 2009 gab es eine Anklage, um genau diese Anschuldigungen. Damals erklärte sich derselbe Untersuchungsrichter – Ercolini – als nicht zuständig und überwies den Fall an die Provinzjustiz. Diese sprach die Beschuldigten frei. Eine zweite Anzeige sei ebenfalls zurückgewiesen worden, nun sei ein Gericht das dritte Mal mit dem gleichen Sachverhalt betraut.

In diesem Zusammenhang kritisierte sie auch, dass mehrere parallele Prozesse in praktisch derselben Angelegenheit laufen. Der erste drehte sich um vermeintliche Geldwäsche des Bauunternehmers Lázaro Báez, einen angeblichen Strohmann der Kirchners. Der Kontakt konnte damals jedoch nicht nachgewiesen werden und der zuständige Richter erklärte sogar ausdrücklich, es gebe keine Beweise gegen die Politikerin. Zudem liefen Untersuchungen in den Fällen "Hotesur" und "Los Sauces". Der zweite dieser Fälle wurde von Richter Bonadío eröffnet, nachdem man ihm den ersten Fall entzogen hatte. So liefen auch hier zwei Verfahren zum selben Sachverhalt, beanstandete Kirchner. In keinem der beiden Verfahren konnte die Anklage bisher jedoch Beweise illegaler Zahlungen vorlegen.

Kirchner schloss ihre Rede mit einem abgewandelten Zitat von Fidel Castro: "Ich bin sicher, dass Sie das Urteil bereits geschrieben haben. Dies ist mir gleich. Die Geschichte hat mich bereits freigesprochen." Auf die Frage des Staatsanwalts, ob sie Fragen beantworten würde, konterte sie herausfordernd "Sie werden Fragen beantworten müssen."

Der Professor für Strafrecht und neu gewählte Präsident Alberto Fernandez, bezeichnete ihren Vortrag als "eine der besten Verteidigungsreden", die er je gehört habe. Der argentinische Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel verglich das Verfahren mit den Prozessen gegen den ehemaligen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva in Brasilien oder Rafael Correa in Ecuador.