Innenminister in Bolivien: Kokabauern haben sich gegenseitig umgebracht

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Der Trauermarsch der Kokabauern wurde nach zwei Kilometern gewaltsam gestoppt
Der Trauermarsch der Kokabauern wurde nach zwei Kilometern gewaltsam gestoppt

La Paz/Cochabamba. Für Empörung sorgen in Bolivien Äußerungen von Mitgliedern der De-facto-Regierung über die bei einer Demonstration gegen den Putsch am Freitag getöteten Kokabauern und über ein Dekret, das Militärs Straffreiheit garantiert.

Innenminister Arturo Murillo versicherte bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem Polizeikommandanten von Cochabamba, Jaime Zurita, und einem Militär, die Kokabauern hätten sich gegenseitig umgebracht. Die Schüsse seien aus den Reihen der Protestierenden gekommen. Die eingesetzten Polizisten und Soldaten hätten gar keinen Schießbefehl gehabt.

Zurita führte aus, die Sicherheitskräfte seien am Freitag beschossen worden. Die Polizisten hätten "nur chemische Elemente" und die Militärs "nur Abschreckungsmittel" eingesetzt, um zu verhindern, dass die Kokabauern in die Stadt Cochabamba "eindringen“. Die Teilnehmer der Demonstration hätten vorher abgesprochen, "sich selbst zu verletzten, um den Ordnungskräften die Schuld zu geben". Die gesammelten Beweise zeigten, dass der Marsch der 5.000 Personen keinerlei friedliche Absicht gehabt habe: Eine gewehrartige Waffe, fünf Patronenhülsen Kaliber 7,62 [Anm. d. Red.: die meistverbreitete Militärpatrone der Welt], sechs handgefertigte Abschussgeräte, 75 Stück Feuerwerkskörper, zwei Gasgranaten, Murmeln, Pfeile, Helme, Masken, Rohre und stumpfe Gegenstände seien sichergestellt worden, so Zurita. Den örtliche Leiter der Bewegung zum Sozialismus (MAS) und acht Kokabauern habe man verhaftet, gegen sie werde wegen "bewaffneten Aufstands" ermittelt, informierte der Polizeichef weiter.

Bei den Protesten der Kokabauern gegen den Putsch kamen nach Angaben der Ombudsstelle neun Menschen ums Leben, mehr als hundert wurden zum Teil schwer verletzt. Das Vorgehen der Sicherheitskräfte hatte weltweit Entsetzen hervorgerufen.

Verteidigungsminister Fernando López verteidigte nach internationaler Kritik umgehend das umstrittene Dekret seiner Regierung vom 14. November, das Mitgliedern der Streitkräfte von strafrechtlicher Verantwortung bei Einsätzen "zur Wiederherstellung der Ordnung" befreit. So seien die Äußerungen der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) "einseitig“, da sie den Kontext und die Situation in Bolivien verkennen würden, wo "subversive bewaffnete Gruppen" agierten. Einen Nachweis für die Existenz solcher Gruppen, die auch von der selbsternannten Übergangspräsidentin Jeanine Añez seit Tagen wiederholt behauptet wird, blieb der Minister schuldig. Die CIDH hatte angeprangert, die Verodnung verletzte internationale Menschenrechtsstandards, befördere die gewaltsame Unterdrückung und verstoße gegen die Verpflichtung der Staaten, gegen Menschenrechtsverletzungen vorzugehen.

Unterdessen ist der Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen für Bolivien, Jean Arnault, in La Paz eingetroffen. Er soll zu einer friedlichen Beilegung des Konflikts beitragen und  die Durchführung von Neuwahlen durch Vermittlung zwischen den Parteien untersützen. Während er erste Gespräche mit Vertretern der De-facto-Regierung und der MAS aufgenommen hat, gehen die Proteste gegen den Putsch und die Repression unvermindert weiter.

In La Paz wurden in der Nacht zum Samstag bei Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften 63 Personen verhaftet. Am Samstag gingen Polizei und Militär gewaltsam gegen Kokabauern vor, die nach eigenen Angaben einen Trauermarsch von Sacaba aus nach Cochabamba für die am Tag zuvor bei den Anti-Putsch-Protesten Erschossenenen durchführen und friedlich gegen die "Mörderin Añez" protestieren sowie die Rückkehr von Präsident Evo Morales einfordern wollten. Die laut lokalen Medienberichten rund 15.000 Teilnehmer wurden bereits nach zwei Kilometern unter Einsatz von Trängengas am Weitergehen gehindert, auseinandergetrieben und zum Rückzug gezwungen. Soldaten riegelten Cochabamba ab.

Bei einer Volksversammlung auf der Autobahn nach Sacaba am Samstagabend haben die sechs Gewerkschaften der Kokabauern der Provinz Chapare Añez ein Ultimatum zum Rücktritt von 48 Stunden gestellt und die Einberufung von Wahlen innerhalb von 90 Tagen gefordert. Andernfalls würden sie weitere Autobahnen blockieren. Eine Versammlung von Bewohnern von El Alto beschloss "eine Belagerung von La Paz" ab heute, um den "sofortigen Rücktritt" der "selbsternannten illegalen Präsidentin" zu erzwingen.