Erneute Proteste und Generalstreik in Chile

Landesweit große Beteiligung. Forderung nach verfassungsgebender Versammlung. Regierung leugnet Menschenrechtsverletzungen

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Ein Motto der Demonstrationen in Chile: "Man fragt nicht um Erlaubnis, um die Geschichte zu ändern"
Ein Motto der Demonstrationen in Chile: "Man fragt nicht um Erlaubnis, um die Geschichte zu ändern"

Santiago et al. Am Dienstag haben in Chile ein weiterer Generalstreik und zahlreiche Protestaktionen stattgefunden. Gleichzeitig steigen die dramatisch hohen Zahlen der Menschenrechtsverletzungen täglich weiter an. Die chilenische Opposition fordert eine verfassungsgebende Versammlung.

Mit dem erneuten Generalstreik, großen Demonstrationen und Straßenblockaden treten die Proteste gegen die Regierung des rechtskonservativen Präsidenten Sebastián Piñera in die vierte Woche. Aufgerufen hatte unter anderem der Gewerkschaftsdachverband CUT. Die breite Beteiligung am Streik zeigt eine weiterhin große Mobilisierung der Mehrheit der Bevölkerung. So nahmen unter anderem die großen Gewerkschaften der wichtigsten Branchen der Häfen, des Bergbaus, der Fischerei, die Beschäftigten im Transport und im öffentlichen Dienst an der Arbeitsniederlegung teil.

Bei den unzähligen landesweiten Protestaktionen kam es auch zu starker Repression.

Die Fälle der Menschenrechtsverletzungen seitens der Sicherheitskräfte nehmen weiterhin zu. Nach offiziellen Zahlen des nationalen Instituts für Menschenrechte (INDH) wurden mittlerweile 5.629 Menschen festgenommen und 2.009 Personen verletzt, über 1.000 davon durch Schusswaffen. Bei fünf der bisher 23 offiziell bekannt gegebenen Toten wurde Anklage gegen Soldaten und Polizisten wegen Mordes erhoben, in sechs Fällen wegen versuchten Mordes sowie in 192 Fällen wegen Folter und 52 Fällen wegen sexueller Gewalt.

Die Verletzungen an Augen durch Geschosse der Polizei, die häufig zum Erblinden der Betroffenen führen, haben ein beispielloses Ausmaß erreicht und belaufen sich mittlerweile auf etwa 200 Personen.

Der Fall von Gustavo Gatica führte zu besonderer Empörung. Während er am vergangenen Freitag Proteste fotografierte, schoss die Polizei ihm ins Gesicht. Mittlerweile ist der 21-jährige vollständig erblindet. Im ganzen Land kam es daraufhin zu Solidaritätsdemonstrationen.

Am Montag fand in Quito, Ecuador, eine Anhörung der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte (CIDH) statt, bei der zivilgesellschaftliche Organisationen und Regierungsvertreter teilnahmen, um der Kommission ihre Sicht der Ereignisse darzulegen. Die Regierung leugnete dabei die Verletzung der Menschenrechte. Der Berater des Innenministeriums, Mijail Bonito, rechtfertigte das staatliche Vorgehen mit den großen Sachschäden, die bei den Demonstrationen entstünden: Diese hätten "die Rechte vieler Menschen eingeschränkt, die ihre Geschäfte, ihre Arbeit, ihr Eigentum und die Bewegungsfreiheit verloren haben."

Patricia Muñoz von der Defensoría de la Niñez (Kinder- und Jugendschutz) reagierte empört: "Ich bedaure sehr, dass die Regierung meines Landes sich erlaubt, Dinge zu sagen, die nicht mit der Realität übereinstimmen". Muñoz und ebenso Branislav Marelic vom INDH wiesen nachdrücklich darauf hin, dass die Sicherheitskräfte für schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind. "Wir müssen dies stoppen und dazu aufrufen, diese Gewalt und die Verletzung der Rechte der Chilenen und Chileninnen sofort zu beenden", sagte Marelic. Die Repräsentantin von Amnesty International fügte hinzu, dass es sich um eine allgemeine und durchgängige Form des Einsatzes von Gewalt handle, die auch nach der Aufhebung des Ausnahmezustands nicht abgenommen habe. Mittlerweile haben Mitglieder der linken Partei Breite Front (Frente Amplio) und der Kommunistischen Partei (Partido Comunista de Chile) Klage wegen Verletzung der Menschenrechte gegen Präsident Piñera eingereicht.

Vor diesem Hintergrund hatte das Verfassungsgericht der Region Antofagasta Anfang der Woche den Gebrauch von Schusswaffen und tödlicher Munition gegen friedliche Demonstranten seitens der Polizei verboten und zur Einschränkung des Einsatzes von Tränengas aufgefordert.

Karla Rubilar, die Generalsekretärin der Regierung Piñera, versicherte am Dienstag, dieser Beschluss sei auch im Interesse der Regierung, wenn es sich um friedliche Demonstrationen handle. Sie sprach sich allerdings gleichzeitig gegen Streiks im öffentlichen Dienst aus. Diese seien nicht mit friedlichem Protest vereinbar. Auch stufte sie die populär gewordenen Tanz-Barrikaden auf den Straßen als nicht friedlich ein. Bei dieser Protestform werden Autofahrer zum gemeinsamen Tanzen aufgefordert und dürfen dann die Blockade passieren. Diese Äußerungen Rubilars gehen mit den in der letzten Woche angekündigten Gesetzesprojekten zur Verschärfung der Repression einher, die strafrechtliche Verschärfungen für das Agieren von Demonstranten bedeuten (amerika21 berichtete).

Die Proteste in Chile waren Mitte Oktober ausgebrochen, als die Regierung eine Preiserhöhung des öffentlichen Nahverkehrs im U-Bahnbereich der Hauptstadt ankündigte. Die von Santiago ausgehenden Demonstrationen verbreiteten sich rasch auf das ganze Land. Piñera verhängte daraufhin für eine Woche den Ausnahmezustand sowie nächtliche Ausgangssperren und entsendete das Militär auf die Straßen. Seitdem reißen die Proteste und Streiks nicht ab. Als eine der zentralen Forderungen der sozialen Bewegung hat sich neben dem Rücktritt des Präsidenten die nach einer verfassungsgebenden Versammlung herauskristallisiert. Chile lebt auch 30 Jahre nach der Diktatur noch unter deren Verfassung.

Barbara Figueroa, Präsidentin des Gewerkschaftsdachverbandes CUT, verkündete am Dienstag bei einer öffentlichen Ansprache, dass zum Streik aufgerufen wurde, weil die Regierung den Forderungen der großen Mehrheit der Chilenen nicht nachgekommen sei. Sozialer Frieden sei nur unter der Bedingung möglich, dass eine verfassungsgebende Versammlung eingerichtet werde. Zudem kündigte sie ein an Piñera gerichtetes Ultimatum an.

Während die Regierung von geringer Beteiligung bei den Streiks spricht, protestieren nach Angaben der CUT während des Generalstreiks am Dienstag rund zwei Millionen Chilenen landesweit.

Am Sonntagabend hatte Innenminister Gonzalo Blumel im Namen des Präsidenten erklärt, die Regierung sei prinzipiell bereit zu einer Verfassungsänderung. Diese solle von Kongressmitgliedern erarbeitet werden. Eine verfassungsgebende Versammlung schloss er aus. Die Bevölkerung werde bei diesem Prozess jedoch ein Mitspracherecht sowie die Möglichkeit haben, abschließend über das Ergebnis abzustimmen, so Blumel. Abgeordnete linker Parteien sprachen sich dagegen aus, die neue Verfassung ausschließlich innerhalb der vier Wände des Kongresses zu verfassen. Die Verfassungskommission des Parlaments stimmte indes mehrheitlich für eine Volksabstimmung über das Verfahren der Verfassungsänderung.

Erstmalig positionierte sich am Dienstag die gesamte Opposition im Parlament vereint in einer öffentlichen Erklärung für eine verfassungsgebende Versammlung, wie sie auf den Demonstrationen gefordert wird.

Im Nachgang des Generalstreiks kam es am Dienstagabend auch zu Plünderungen und Bränden von privaten und öffentlichen Gebäuden. In einer anschließenden Pressekonferenz kündigte Piñera eine Verstärkung der Polizeikräfte an und rief die Chilenen zur Einheit auf.